Swie gern ichz vriden wolde! Etzel als Friedenskönig im Weltengewitter

Prof. Dr. Amelie Bendheim

Prolog: Diplomatisches im Nibelungenlied?[1]

Selbst wer das Nibelungenlied (NL) nur vom Hörensagen kennt, dürfte über den Titel des von dem Autorenduo Zaimoglu/Senkel 2024 neu erzählten Stücks, Der Diplomat, verwundert gewesen sein.

Abb. Cover der Nibelungen-Festspiele 2024[2]

Und auch die publizistische Ankündigung, es gehe in diesem Jahr “nicht um die Intrigen und Ränkespiele rund um Siegfried, Hagen [und] die Burgunder”, sondern “um die Frage, wie sich ein Krieg verhindern lässt, den eigentlich keiner will und der trotzdem unvermeidbar scheint”,[3] schien gezielt auf ‘nibelungische Erwartungen’ zu reagieren, indem genau das verneint wurde, was das Nibelungenepos im kulturellen Gedächtnis bis dato doch wesentlich geprägt hatte. Faszinierte es als Erzählzeugnis einer vergangenen – vermeintlich überwundenen – Zeit nicht gerade aufgrund der darin schonungslos zur Schau gestellten archaischen Rohheit und Gewalt? Waren es nicht vor allem Heldentum, Rache und Verrat, weshalb ‘wir’ dieses Werk bisher ‘liebten’?

Figuren diesseits und jenseits des Rheins

Dabei geht mit der thematischen Entscheidung zugunsten der Diplomatie zugleich eine bewusste Fokussierung auf den zweiten – in der Rezeption nicht selten weniger beachteten – Handlungsteil und damit auf den Schauplatz jenseits des Rheinlandes, jenseits des Burgundenreiches einher. Sind hier, in der Hunnenwelt, die möglicherweise ‘unterschätzten Figuren’ Etzel und Dietrich beheimatet, werden die meisten das Nibelungenlied wohl eher mit den machtvollen Königinnen Kriemhild und Brünhild, dem unverwundbaren Drachenbezwinger und Tarnkappenverwalter Siegfried, dendrei G-Herrscherbrüdern aus Burgund (Gunter, Gernot und Giselher) oder Hagen von Tronje, dem hinterhältigen Mörder Siegfrieds und treuen Gefolgsmann der Burgunden verbinden. Im filmischen und literarischen Fortleben im 19. und 20. Jahrhundert ist eine Präferenz zunächst für Siegfried und Gunther auszumachen, zwischen den Weltkriegen dann insbesondere für Hagen, den seine “unbedingte Gefolgsmannentreue”, der “unbeirrte Willen, das Notwendige zu tun” und seine “totale Hingabe an die Sache, auch in der Bereitschaft, Schuld auf sich zu nehmen”[4] zu einem Vorbild für die SS-Ideologie avancieren ließ. Mit dem Ende des Nationalsozialismus 1945 wird die Idee der Gefolgsmannentreue dann zwar obsolet und die “Glanzstunde”[5] Hagens ist damit auch schon wieder vorüber, neue Rezeptions-Helden scheinen daraus gleichwohl nicht hervorgegangen zu sein.

Eine bevorzugte Wahrnehmung der Burgunden motiviert zudem auch der Handlungsgang und das darüber aufgebaute Näheverhältnis: Denn das Epos gewährt dem Publikum direkt zu Beginn ein Close-up ihrer Lebenswelt, verortet sie geographisch präzise am Rhein um Worms (ze Wormez bî dem Rîne, NL 6,1 / Burgonden sô was ir lant genant, NL 5,3), in einer Gegend, die der Küchenmeister Rumolt im modernen Nibelungenroman von Felicitas Hoppe (2021) als schönste Gegend überhaupt preist, wenn er die Gefährten vor dem Aufbruch ins Hunnenreich daran erinnert: “Angenehmer als hier könnt ihr nirgendwo leben, in schönen Kleidern vor euren Feinden geborgen. Trinkt den rheinischen Wein und liebt eure rheinischen Frauen, anstatt töricht euer Leben aufs Spiel zu setzen. Ihr Herren bleibt hier, das ist Rumolts Rat.” (FH, 130)[6]

Dass der burgundische Patriotismus sich in exkludierender Abgrenzung und gewaltsamer (Selbst-)Behauptung manifestiert, wird spätestens in der 4. Aventiure ersichtlich, die mit dem Sachsenkrieg ein erstes Bedrohungsszenario erzählt: Im germanischen Stammeskrieg setzen die Burgunden auf kriegerische Verteidigung, während das diplomatische Verhandlungangebot – werlt ir mit in dingen (NL 146, ‘wenn ihr mit ihnen verhandeln wollt’) – als Möglichkeit der Konfliktlösung verworfen, stattdessen dem heroischen Ethos folgend der heldenhafte Kampf favorisiert wird. Die Reaktion Gernots auf die Nachricht der feindlichen Boten lautet entsprechend, man werde sich allein mit Waffengewalt zur Wehr setzen: daz wer et wir mit swerten (NL 150). Der Krieg gegen die Sachsen und Dänen dient nicht nur als spannungsreiches Zwischenspiel, um die Kraft des Helden Siegfried, der den Burgunden im Kampf beistehen wird, auszustellen,[7] sondern lässt auch die Funktionsmechanismen eines burgundischen Herrschaftsmodells hervortreten, das auf Erbkönigtum basiert und sich exkludierend auf die gewaltsame Bewahrung, Verteidigung und Durchsetzung der eigenen Machtposition verpflichtet.

Die Handlungsentwürfe jener Helden, die der archaischen Gewalt, Machtgier und Gnadenlosigkeit so unvermindert zusprechen, scheinen heute vor allem aufgrund ihrer Alterität eine besondere Faszination auszuüben. Zugleich fordern sie ein (christlich-ethisches) Gerechtigkeitsempfinden konstant heraus, evozieren ein moralisches Unbehagen und lassen uns – in einer als post-heroisch zu bezeichnenden Gesellschaft[8] – keine rechte Sympathie mit ihnen empfinden.

Abb. Die Statue von Samson in Ashdod[9]

Auch die den heroischen Helden charakteristisch auszeichnende Exorbitanz (von lat. exorbitare ‘von der Bahn abweichen’), die sich in der Transgression gesellschaftlicher Normen und Ordnungsmuster ausdrückt, gehört zu diesem Fremdheitsmoment. Der Held muss selbst ungeheuerlich sein, um seinen ungeheuerlichen Gegner zu bezwingen und verfolgt dabei ein Krisen-Bewältigungs-Schema, das in einem ‚Hauptsache weitermachen‘ besteht. Entsprechend sind die meisten Figuren in der narrativen Nibelungenwelt Player, die gewissermaßen ‚all in‘ gehen und sich dadurch auszeichnen, dass sie sich im Untergang kämpferisch bis zum Letzten – bis in den Tod – bewähren; eine Gewaltbereitschaft, wie sie insbesondere im finalen Kampfgeschehen ungeschönt hervortritt.[10] Und doch gibt es auch im Nibelungenlied ein ‘Anderes’. Zu finden ist es insbesondere im Etzel-Land (und den diesem zugeordneten Akteuren), das im Folgenden als diplomatisches Zentrum des Epos in den Fokus treten soll. Es bildet erst im zweiten Teil den zentralen Handlungs- und Aktionsort, wird dem Burgunden-Land als zukünftiger Bewährungsraum aber bereits in den ersten Strophen kontrastiv beigestellt (ir lant, NL 5,3 vs. Etzelen lant, NL 5,4), die Rezipierenden damit frühzeitiig auf die bevorstehende Grenzüberschreitung vorbereitet.

Etzel heißen – Attila erinnern

In heldenepischen Texten wie dem Nibelungenlied, die historische Ereignisgeschichte fiktional verweben, gestaltet sich der Rezeptionsprozess als Anreicherung eines Textwissens durch (historisches) Vor- und Weltwissen. Das höfische Publikum der Stauferzeit dürfte dieses bereits im Fall der Burgunden aktiviert haben, wobei insbesondere der Eigenname ‘Etzel’ ein historisches Substrat hervorspielt. In etymologischer Ableitung von Attila referiert der Name auf den mächtigen Hunnenkönig, dessen Bild im Laufe der Zeit “sagenhafte Umformungen”[11] erfuhr und der als ambivalente Gestalt in verschiedenen Kultursphären (in Geschichten, Legenden und heroischer Dichtung) unterschiedlich, mitunter ganz gegensätzlich gezeichnet wurde. Die Vorstellung eines nordischen Atli/Attila, der als grausamer Schrecken Europas galt, und die sich nach wie vor einige Fußall-Hooligans einverleiben, wenn sie sich stolz als ‘Hunnen’ bezeichnen, steht einem deutschen Etzel entgegen, der als “milde, freundlich und – untätig” (de Boor) wahrgenommen wird. In der Oper Der Held des Nordens von Friedrich de La Motte Fouqué wird das Bild eines hinterhältigen Atli der eddischen Dichtung entworfen, in George R.R. Martins Romanreihe A Song of Ice and Fire (1996) sowie deren TV-Serien-Adaption Game of Thrones (2011) erscheint Attila in der Figur des Khal Drogo als “Pseudo-Hunne mit Sexappeal” (Däumer).[12] Weder lässt sich über dieRezeption also ein Etzel greifen, noch ist mit einem Etzel offenbar ‘Geschichte zu machen’: Wenige Rezeptionen befassen sich eingängiger mit dem Charakter, ihre Nachwirkungen sind zumeist nur von geringer Reichweite.[13]

Das ändert wiederum nichts daran, dass Attila als narrative Gestalt durchgehend ausgesprochen populär war. Die ‘Grandesse’ des Namens, der die Vorstellung eines ‘großen Herrschers im Osten’ aufruft, fungiert hier gewissermaßen als Passepartout: Indem der historische Attila als literarischer Etzel ins Nibelungenlied eingespeist wird, erhält er eine spezifische symbolische Codierung und lebt nun – in der für die Heldenepik gattungstypischen, ahistorischen Synchronisation von Ereignissen – unter (historischen) Gestalten, mit denen ein lebensweltlicher Kontakt ausgeschlossen oder zumindest unwahrscheinlich war.

Etzel als interessanteste Figur? Nibelungenkrise als Zeitdiagnose und die Frage, wie man würdevoll scheitert.  

Dass Fritz-Lang in seinem Stummfilm (1924), der bis heute eine der wirkmächtigsten Stoffadaptionen bildet, einen brutalen, unzivilisierten und barbarischen Etzel inszeniert, fällt freilich in den Bereich künstlerischer Freiheit, zeugt aber gleichwohl von einer gewissen Ignoranz gegenüber der Charakterzeichnung im mittelhochdeutschen Werk, der es lohnt im Folgenden näher nachzuspüren.[14] Denn jenseits des Rheins begegnet ein Modell interkultureller Hofhaltung sowie ein Herrschaftsverbund, der stärker auf vriuntschaft und Vasallität, denn auf Sippentreue und Blutsverwandtschaft gründet, und sich dadurch beachtlich von dem der heimatverbundenen, höfisch-glatten Burgunden unterscheidet.[15] Vor allem in ihrer Reaktion und Geisteshaltung angesichts einer in besonderer Weise krisenhaften politischen Gegenwart scheint sich die hunnische Gefolgschaft auszuzeichnen, angesichts einer Krise, die sich als endgültige erweist und den Figuren keinerlei Fluchtpunkt, keine Hoffnung auf Rettung gewährt. Ist die Krise an sich quasi notwendiger Bestandteil narrativer Plotkonstruktionen, Voraussetzung also, um spannungsreich zu erzählen, begegnen vergleichbare, den Helden bzw. seine Welt existenziell erschütternde Krisen abseits der Heldenepen in der Literatur nur selten: Die klassische antike Tragödie kennt sie ebenfalls – sie resultieren hier zumeist aus der Uneinsichtigkeit der Charaktere, deren Schicksal (man denke an Antigone, Ödipus oder Medea) dann in der Regel tragisch endet – im Nibelungenlied wiederum versinkt eine ganze Erzählwelt.

Die narratologisch frequentere und populärere Krise, die hier lediglich als Vergleichspunkt aufgerufen wird und sich mit Blick auf die moderne Filmindustrie als ‘Hollywood-Krise’ bezeichnen ließe, ist eingebettet in ein Handlungsmuster, dessen Vorläufer ebenfalls bis ins vormoderne Erzählen zurückreichen. So ist im Artusroman Hartmann’scher Prägung das krisenhafte Scheitern des Protagonisten integraler Bestandteil seines Bewährungswegs und konstitutives Handlungsmoment, tritt hier allerdings (im Gegensatz zur heldenepischen Konstellation) in Bezug auf das individuelle und im Ausgang stets positive Figurenschicksal als Teil des Strukturschemas von Krise und Restitution hervor: Die Krise stellt sich in diesen Erzählkontexten folglich als eine vom (ritterlichen) Helden selbst zu bestehende und bestehbare Herausforderung dar. Er nimmt sie als Bewährungsaventiure an, sucht sie mitunter selbst auf, während Figuren wie Etzel oder Dietrich im Nibelungenlied sicherlich auch gern auf eine Krise verzichtet hätten. Das Erzählmodell erweist sich damit offen für Lektüren, die darauf abstellen und mit einem kathartischen Anspruch erwarten vorgeführt zu bekommen, wie andere die Krise überwinden, um selbst gestärkt aus ihr hervorzugehen. Es ist jenes feel-good- bzw. fail better-Muster, das Joseph Campbell (Der Heros in tausend Gestalten) als Erzählschema der Heldenreise identifiziert hat und das nach wie vor zahlreiche Mainstream-Filme prägt.

Dass die mittelalterliche Textwelt auch narrative Ansätze zum Umgang mit Krise jenseits dieser möglicherweise eher ‚einfachen‘ Bewältigungsschemata bietet, belegt u.a. die Lektüre des Nibelungenliedes. Der Text formuliert in der poetischen Simulation eine existentielle Krisenerfahrung, an der gescheitert wird, führt vor, dass Krise schiefgehen kann und wie darauf auf Figurenebene reagiert wird. Gerade darin erweist sich das Nibelungenlied möglicherweise als reflektierteres, vielleicht sogar ehrlicheres Modelle der Krisenkonfrontation, das zur Auseinandersetzung mit moralischen und ethischen Fragen herausfordert.

Die zahlreichen (expliziten) Vorausdeutungen vermitteln dem Publikum bereits in der zweiten Strophe die Einsicht und Gewissheit, dass die gewaltsame Eskalation unvermeidbar ist, werden ihretwegen doch, wie es heißt, viele Krieger ihr Leben verlieren (darumbe muosen degene vil verliesen den lîp, NL 2,4). Und auch die intradiegetischen Figuren sind mit diesem düsteren Vorwissen ausgestattet: Hagen von Tronje, der als Vasall des burgundischen Königs die Führung ins Etzelreich übernimmt, wird das unausweichliche Schicksal bei der Flussüberquerung ins Hunnenland von den Meerfrauen prognostiziert, für die Männer am Hunnenhof ist es ebenfalls absehbar: So erweist sich Dietrich von Bern, ein Gefolgsmann des Hunnenkönigs Etzel, als Akteur mit besonderen Frühwarnkapazitäten, wenn er bereits die Ankunft der Burgunden betrauert. Er sieht dadurch den Frieden in Gefahr, schließlich habe Kriemhild den Schmerz über ihren ermordeten Gatten Siegfried und die damit verbundene Racheabsicht noch längst nicht überwunden: Kriemhild noch sêre weinet den helt von Nibelunge lant (‘Kriemhild beweint noch immer den Helden aus dem Land der Nibelungen’, NL 1724, 3–4). Volker nennt die Katastrophe unerwendet (‘unvermeidbar’, NL 1731,1), auf verschiedenen symbolischen Zeichenebenen (sprachlich wie gestisch-visuell) wird der Konflikt weiter eskaliert: Kriemhild empfängt die Gäste mit valschem muot (‘in hinterhältiger Absicht’, NL 1737,2) und verletzt das höfische Protokoll, indem sie nur einem der drei burgundischen Gast-Könige, die ja zugleich auch ihre Brüder sind, einen Begrüßungskuss gibt (NL 1737,4); ein Zeichen, das Hagen unmittelbar zu lesen weiß und seinen Helm enger schnürt.

Die nibelungische Erzählwelt ist damit von einer Krisenhaftigkeit betroffen, die für die  Figuren eine besondere seelische Belastung darstellt – gerade weil sie die sonst übliche Entwicklungsoffenheit der Krise hin zum Guten oder Schlechten negiert.[16] Eine dem nicht unähnliche Krisenkonstellation diagnostiziert der Philosoph Thomas Metzinger in Bezug auf die die heutige Gegenwart prägende planetare Krise, die sich insbesondere im Klimawandel, der damit verbundenen Ressourcenknappheit und Massenmigration manifestiere: „Wir müssen uns ehrlich machen: Die planetare Krise rollt, die Klimakatastrophe ist in vollem Gange. Es sieht nicht gut aus. Die Menschheit ist bereits in die Phase der Schadensbegrenzung und des Katastrophenmanagements eingetreten.“ (Metzinger, 169)[17] Metzinger fordert angesichts dieses Szenarios die Ausbildung einer so genannten “Bewusstseinskultur”, d.h. letztlich eine Art der Auseinandersetzung mit der Krise, die ihr nicht nur analytisch, sondern vor allem auch ethisch begegnet. Es geht dabei um die Stärkung einer inneren Haltung, die ‘würdevoll’ genannt wird, und die vor allem in einer wachen, realistischen und geistig klaren Einstellung angesichts eines unvermeidbaren gesellschaftlichen Scheiterns besteht. Sie fordert dazu auf, sich von Strategien der ‘Verschleierung’ zu distanzieren und ein Verhältnis zur Katastrophe auszubilden, das weder Zweckoptimismus noch Fortschrittsglaube, weder Phlegmatismus noch Ignoranz ist: „Sollte die planetare Krise weitere eskalieren, muss Bewusstseinskultur zumindest einzelnen Menschen dabei helfen können, ihre Würde aufrechtzuerhalten.“ (Metzinger, 106f.) Der philosophische Ansatz Metzingers, der hier nicht weiter kritisch diskutiert werden soll, legt nahe, Krise nicht nur als Gegenstand rationaler, praktischer Lösungsfindung und Ursachenforschung zu begreifen, sondern auch mit der geistigen Haltungdes Subjekts in der Welt zu verbinden. Als kulturelles Artefakt stellt das Nibelungenlied Problemlagen aus, macht sie dadurch diskursfähig und schafft eine Reibungsfläche, die auch anregen kann über bewusstseinskulturelle Haltungen nachzudenken.

Haltungen einfangen: Nibelungische Beispiel-Szenen

Der Plot der Nibelungensage ist grobmaschig schnell nacherzählt: Siegfried, Königssohn aus Xanten, heiratet Kriemhild, die Schwester der Burgundenkönige Gunther, Gernot und Giselher zu Worms am Rhein. Für Gunther gewinnt Siegfried mittels Täuschung, und zwar im Schutz der unsichtbaren Tarnkappe, die Braut Brünhild von Island. Als der Skandal öffentlich wird, stiftet Brünhild, gedemütigt und voll Eifersucht, Hagen von Tronje, Gunters Vasall, an, Siegfried zu töten. Kriemhild vermählt sich erneut mit dem Hunnenkönig Etzel, sinnt dabei auf Rache an den Burgunden und lädt diese dazu ins Hunnenland ein. Dort fallen alle hunnischen und burgundischen Krieger in einem blutigen Gemetzel.[18]

Etzel und Dietrich kommen in dieser gerafften Handlungsübersicht nicht vor, und doch als einzige physisch-integer aus dem Geschehen heraus – beide überleben bekanntlich das finale Massaker. Zu ihnen – und eben nicht nur zu den Helden, die sich in blinder Kampfeswut ins Gefecht stürzen – baut der Text in der Krise eine interessante Nähe auf, nimmt ihre Reaktionen auf das unumgängliche Scheitern in den Blick und verweist damit auf die Bedeutsamkeit, die den Figuren im Umgang mit der Krise zukommt.

Etzel und die Seinen empfangen die burgundischen Gäste am Hunnenhof mit Respekt und in freundschaftlicher Gesinnung: Si gruozten minneclîchen die von Burgonden land (NL 1722,4).Trotz der beständig zunehmenden Eskalation hält Etzel daran fest, das Gastrecht zu wahren und gemahnt, den Hunnen friedlich zu begegnen: Ir müezet mîne geste vride lâzen hân (NL 1897, 1). Sich entzündende Konflikte versucht er zunächst zu deeskalieren, entschuldigt dazu den eruptiven Gewaltakt Volkers, der einen Hunnen erschlägt, als fahrlässige Tötung und sinnt nicht etwa, dem archaischen Rechtsprinzip der Talion folgend, auf direkte, gleichwertige Vergeltung: Das wære missetan, sagt er, ich sach vil wol sîn rîten, dô er den Hiunen stach, / daz es âne sîne schulde von einem strûche geschach (‘Ich habe sehr wohl gesehen, dass es ohne seine Schuld geschehen ist, dadurch, dass das Pferd ins Straucheln geriet, NL 1896, 2–4). Lange hält der König einen guten Ausgang zumindest in Teilen für denkbar, wenn er darauf vertraut, Rüdiger werde den Kampf überleben: ouch trûwe ich mînem heile, daz du maht selbe wol genesen (‚Auch vertraue ich meinem Heil, dass Du selbst am Leben bleiben wirst‘, NL 2165,4). Etzels Gefolgsleute, allen voran Dietrich von Bern, offenbaren eine ähnliche Einstellung: Um eine Eskalation im buhurt (beim Kampfspiel) zu vermeiden, verbietet Dietrich seinem Gefolge die Teilnahme.[19]

Ûf den bûhurt kômen sehs hundert degene

der Dietrîches recken den gesten ze gegene.

si wolden kurzewîle mit den Burgonden hân.

het ers in gegunnen, si hetenz gerne getân.

mit Guntheres mannen daz spil er in verbôt.

er vorhte sîner manne, des gie im sicherlîchen nôt (NL 1873,1–4/1874,3–4)

Zum Buhurt kamen sechshundert Ritter von den Kriegern Dietrichs den Gästen entgegengeritten. Sie wollten sich mit den Burgundern die Zeit vertreiben. Wenn Dietrich es ihnen gestattet hätte, so hätten sie das gern getan. / Er [Dietrich] verbot ihnen Turniere gegen Gunthers Leute zu reiten. Denn er war – und zwar mit Recht – um seine Männer besorgt.

Abb. Turnierszene im Codex Manesse, UB Heidelberg, fol. 17r[20]

Das Rachegesuch Kriemhilds, die eine Belohnung auf Hagens Kopf aussetzt und die hunnischen Streiter in den Kampf drängt, weist Dietrich zunächst zurück, warnt vor den Folgen und betont, dass die Burgunden ihnen kein Leid zugefügt hätten, das einen Krieg rechtfertige:

die bete lâ belîben, küniginne rîch.

ir habent dîne mâge der leide niht getân,

daz ich die degene küene mit strîte welle bestân. (NL 1901,2–4)

Mächtige Königin, unterlass diese Bitte. Deine Verwandten haben mir keinen Schaden zugefügt, dass ich die mutigen Ritter angreifen müsste.

Aus einem solchen Tötungsgesuch entspringe keine Ehre, betont Dietrich im Fortgang, vielmehr bringe es die Königin moralisch in Verruf:

Diu bete dich lützel êret, vil edeles fürsten wîp,

daz du dînen mâgen rætest an den lîp.

Si kômen ûf genâde her in diz lant.

Sîfrit ist ungerochen von der Dietrîches hant (NL 1902,1–4).

Es dient deinem Ansehen nicht, edle Gemahlin eines hochgeborenen Fürsten, dass du deinen Verwandten das Leben nehmen willst. Sie sind vertrauensvoll hierher ins Land gekommen. Siegfried beliebt ungerächt von Dietrichs Hand.

Selbst als das Kriegsgeschehen bereits in vollem Gange ist und zahlreiche Opfer gefordert hat, verlangt Dietrich von Kriemhild, Gunther und Hagen den Status von Geiseln zu gewähren und damit ihren Rechtsschutz sicherzustellen: nu sult ir die ellenden mîn vil wol geniezen lân (‚Nun sollt ihr die Fremden mir zuliebe schonen‘, NL 2364,4). Dass Dietrich auf die Zusicherung Kriemhilds mit Tränen reagiert (NL 2365,2), zeugt dann wiederum von der vorahnungsvollen Gewissheit, dass das Unheil nicht aufzuhalten ist: sît rach sich grimmeclîchen daz Etzelen wîp. / den ûz erwelten degenen nam si beiden den lîp (‚Später rächte sich Etzels Gemahlin furchtbar. Sie nahm den beiden ausgezeichneten Helden das Leben‘, NL 2365,3–4).

Im fachwissenschaftlichen wie populär-kulturellen Diskurs des Nibelungen-Stoffes kommt die Figur des Hunnenkönigs zumeist ‚nicht gut weg‘. Etzel wird kritisiert für seine Ohnmacht und Handlungslosigkeit im Moment der Katastrophe, er befinde sich als Herrscher in einer Opferrolle, sei fremdbestimmt, passiv und antriebslos den Ereignissen um ihn herum ausgeliefert. Nicht er, sondern andere lenkten das Geschehen, allen voran Kriemhild, die nach Siegfrieds Tod dreizehn Jahre auf einen Werber wartet, um dann ihren Wunsch nach Rache am Mörder ihres Gatten umzusetzen. Felicitas Hoppe schließt sich dieser Bewertungstendenz in ihrer Nibelungen-Adaption an, indem sie Etzel als „größte und einzige Null“ (FH, 210) betitelt: So wie es kein Kartenspiel gibt, in dem die Null auftritt, beteilige sich auch Etzel nicht am Machtspiel der weltlichen Könige, wirke diesem gleichsam entrückt. „Haben Sie jemals einen König erlebt, der in eine tiefere Grube fällt? Shakespeare und Co in allen Ehren, aber Etzels Schicksal ist auf dem Theater unerreicht.“ (FH, 213)

Dass Etzel und Dietrich von Bern im Sinne eines archaischen Heldenverständnisses, eines heroischen Mindsets, nicht heldenhaft sein können, scheint offenkundig; zumal „ein geschlagener Held [nicht] überlebt“, sich keiner stärkeren Macht freiwillig unterwirft,[21] das ist sozusagen die vorderste Prämisse heldischen Seins. Etzel und Dietrich verbleiben zwar als einzige in jammervoller Pose in der erzählten Welt, damit aber offenbar nicht im heroischen Gedächtnis.

Wenngleich, wie Hoppe konstatiert, Etzels Schicksal ein tragisches ist, ließe sich im Anschluss an Thomas Metzinger (und damit aus einer modernen Perspektive) konstatieren, dass über die Figur Etzels und das Hunnenreich zugleich ein anderes ‚statement‘ zur Krise in den Vordergrund gespielt wird, eines, das sich doch grundlegend von dem der Burgunden unterscheidet. Unbeteiligt zu sein, eine Distanz zum Geschehen aufzubauen, mitunter über der Sache (der Krise) zu stehen, ist ein Charakterzug, der insbesondere die Figuren dieser erzählten Anderwelt auszeichnet – ob das ‚würdevoller‘ ist als das aus neuzeitlicher Perspektive vielleicht starrsinnige, vielleicht sogar fatalistisch-dämlich wirkende Verhalten der Burgunden, bleibt zur Diskussion offen. Man mag Etzel sein Nicht-Wissen vorwerfen, sich als heutiges Publikum irritiert darüber zeigen, dass er als Ehemann Kriemhilds von ihren Motiven und ihrer Rachegesinnung anscheinend nichts mitbekommt – der Text legt damit aber doch vor allem nahe, dass das (Nicht-)Wissen die charakterliche Prägung der Figuren nicht tangiert. Dietrich von Bern etwa, der seinerseits der fatalen Entwicklung absolut gewahr ist, verändert seine Haltung nicht, greift ebenfalls nicht freiwillig in Form kriegerischer Beteiligung in das Geschehen ein. Mit ihrer Einstellung, die dem heroischen Handlungsethos (wie es die sie umgebenden Helden verkörpern) eine auf Frieden bzw. als dieser nicht möglich scheint, vor allem eine auf Gerechtigkeit ausgerichtete, politische (Welt-)Haltung entgegensetzen,[22] erweisen sich Dietrich und Etzel als Außenseiterfiguren in der sie umgebenden Nibelungenwelt.

Der Krieg, ‚den keiner will‘, ist in der Anlage der Sage nicht aufzuhalten, eine Revision nicht vorgesehen. Beachtlich ist dennoch, dass die Möglichkeit der Revision in die Logik einzelner Figuren gehört: Auch die Hunnen glauben nicht an eine Rettung, halten aber beständig an der Option einer würdigen Lösung fest und vertreten dieses Gerechtigkeitsempfinden bis zum Schluss. Der Status eines role models für einerechte oder ethisch vorbildliche Haltung zur Krise wird Etzel im Epos dafür nicht zuerkannt. Eher schreibt die Sage explizit dagegen an, wenn sie ihn und Dietrich weinend im Erzählraum zurücklässt.

Dietrîch unde Etzel weinen dô began,

si klageten inneclîche beide mâge unde man (2377,3–4).

Die beiden weinten, sie klagten von Herzen um Verwandte und Gefolgsleute.

Sie als rein bemitleidenswerte Figuren zu verstehen, wäre aber sicherlich genauso verfehlt. Denn bemitleidenswert sind letztlich nicht die Figuren, sondern die ‚kranke‘ Welt um sie herum, die bedingt, dass sie mit ihrer Position isoliert dastehen, die insbesondere dadurch zum Scheitern verurteilt ist. Etzel wie Dietrich präsentieren alternative Haltungen in der bzw. zur Krise, regen einen Blick auf das Gesamtepos an, der dieses nicht nur von Gewalt, sondern auch von ethischen und psychologischen Einsichten durchdrungen erscheinen lässt. Einem Votum für Etzel als “interessanteste Figur in der ganzen Geschichte” (FH 2021, 213), wie es Hoppe formuliert, ließe sich daher zustimmen, aber nicht, weil der Hunnenkönig eine tragische, anti-heroische Figur ist, weil er in die tiefste Grube fällt, sondern weil er sich in anderer Weise (heroisch?) zur Krise verhält, weil er (um den Wortlaut Metzingers zu gebrauchen) womöglich gar ‘in Würde scheitert’ – wobei zu fragen wäre, ob nicht gerade das eigentlich mehr noch anrührt als das ‚sichtbare Unbehagen‘ der Gewalteskalation im finalen Kampf.

Etzel ist ein Friedenskönig, der keinen Frieden etablieren kann, der mephistophelisch Gutes will und Böses schafft bzw. nicht zu verhindern vermag. Der aber, entgegen Mephisto, trotzdem eine Figur der Hoffnung bleibt. Wird der Erzähler des Nibelungenliedes mitunter dafür kritisiert, dass er „mit so sichtlichem Vergnügen Massenabschlachtungen [schildert]“ und dem Werk das „christlich humanitäre Weltbild [fehle]“, das andere Dichter der Zeit, wie Wolfram von Eschenbach, bereits präsentierten,[23] scheinen Figuren wie Etzel und Dietrich doch nur ungenügend berücksichtigt. Mit ihnen wird ein anderes Weltbild zumindest einbezogen, wenn auch zugleich in Frage gestellt. Der Hunnenkönig erscheint als abstrakte Handlungsmacht, die sozusagen aus dem Off neue Spielregeln definiert, die als mhd. wân hervortritt, als positive Hoffnung, Vision, Glaube. Etzel-sein als neue Haltung, Lebens- und Herrschaftsform quasi. Dass die Welt letztlich untergeht, dekonstruiert diese positive Hoffnung freilich radikal. Zugleich erweist sich die Etzelwelt auch als liminaler Raum (Victor Turner), als Zwischen- und Übergangs-Welt, die dazu beiträgt, das Denken wie Üblich (Alfred Schütz) zu erschüttern, dazu anregt, Krisenkonstellationen, vertraute Konfigurationen, Strukturen der Macht- und Herrschaft, aber auch etablierte moralische Werte zu hinterfragen.  

Das Potenzial im künstlerischen Ansatz der 2024er Nibelungenfestspiele ließe sich genau daran anschließen: Denn der Blick auf die Krise aus der Perspektive diplomatischer Bemühungen und von Figuren wie Etzel und Dietrich, ermöglicht es nicht nur, das Werk von anderer Seite zu erschließen, sondern es auch von eindimensionalen Lesarten zu befreien, die mitunter zu dessen politischer Instrumentalisierung beigetragen haben. Unter dem Titelschlagwort der Diplomatie wird eine Adaptionsrichtung gewählt, die das Heroische ein Stück weit ‚kaputtdenkt’ und dadurch einer ‚Entheroisierung‘ des Stoffes den Weg bereiten könnte.


[1] Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine gekürzte und überarbeitete Fassung des Vortrags, der am 25. Juni 2024 im Rahmen der Nibelungenfestspiele in Worms gehalten wurde. Für die Einladung und die Organisation möchte ich mich herzlich bei Dr. Ellen Bender bedanken.

[2] https://www.nibelungenfestspiele.de/nibelungenfestspiele/2024/Programm/ (Zugriff 24.07.2024).

[3] Ebd.

[4] Klaus von See, Das Nibelungenlied. Ein Nationalepos?, in: Joachim Heinzle/Klaus Klein/Ute Obhof (Hg.), Das Nibelungenlied. Sage – Epos – Mythos, Wiesbaden 2003, S. 309–343, hier S. 333. Zur politischen Instrumentalisierung vgl. Seraine Plotke/Robert Schöller/Lysander Büchli (Hg.), Das Nibelungische und der Nationalsozialismus. Populäre und wissenschaftliche Diskurse im Dritten Reich, Bielefeld 2023.

[5] Victor Millet (Siegfried, der Schatz und Brünhild, in: Amelie Bendheim/Dennis Disselhoff, Mittelalter im Medientransfer. Rezeptionswege vormoderner Literatur, Bielefeld 2025, S. 159, Anm. 4) nennt als Ausnahme das Theaterstück Unser Lied von Helmut Krausser (2003), das Hagen noch einmal in den Mittelpunkt stellt. Vgl. zur Rezeption des Siegfriedfigur auch Heinz Sieburg, Die Siegfried-Figur der Nibelungenüberlieferung in interkultureller Perspektive, in: Renata Cornejo/Gesine Lenore Schiewer/Manfred Weinberg (Hg.), Konzepte der Interkulturalität in der Germanistik weltweit, Bielefeld 2020, S. 331–344.

[6] Felicitas Hoppe, Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm, Frankfurt 2021; folgend zit. unter der Sigle FH.

[7] Vgl. Andreas Heusler, Nibelungensage und Nibelungenlied. Die Stoffgeschichte des deutschen Heldenepos, Darmstadt 1991 [Erstausgabe 1905], S. 72.

[8] Mit der These, wir lebten in “postheroischen Zeiten” verbinde sich, so Ulrich Bröckling, “die Illusion einer befriedeten, nivellierten Gesellschaft, die keine Heroen benötigt und erschafft, weil sie individuelle Größe für Anmaßung hält” (Bröckling, Postheroische Helden. Ein Zeitbild, Berlin 2020, S. 10).  

[9] PikiWiki, the statue of samson in ashdod (onliner unter https://commons.wikimedia.org/wiki/File:PikiWiki_Israel_85128_the_statue_of_samson_in_ashdod.jpg#/media/File:PikiWiki_Israel_85128_the_statue_of_samson_in_ashdod.jpg)

[10] Walter Haug, Szenarien des heroischen Untergangs, in: Ders., Positivierung von Negativität, Tübingen 2008, S. 399–411, hier S. 403. Dass das Gewaltpotenzial zentraler Faktor (männlicher) Bewährung des Helden ist, betont auch Friedrich: „Der Heros konstituiert seine Handlungen zuallererst im Kampf: Schlachten und Zweikämpfe prägen seine Geschichte“ (Udo Friedrich, Held und Narrativ. Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur, in: Victor Millet/Heike Sahm (Hg.), Narration und hero. Recounting the deeds of heroes in literature and art, Berlin 2014, S. 175-194, hier S. 187).

[11] Ursula Schulze, Etzel/Atli, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 10, Sp. 61–62. Zu den Konzeptualisierungen von Idealfiguren in der mittelalterlichen Gesellschaft vgl. Andreas Hammer, Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters, Heidelberg 2010.

[12] Helmut de Boor, Das Attilabild in Geschichte, Legende und heroischer Dichtung, Darmstadt 1962 (Zitat S. 11), Klaus Rosen fokussiert das entgegengesetzte Bild (Attila. Der Schrecken der Welt, München 2006). Zur Vorstellung der Hunnen im alltagssprachlichen Gebrauch vgl. Ders.: Attila – Europas Unvergesslicher, in: Peter Geiss/Konrad Vössing (Hg.), Die Völkerwanderung: Mythos – Forschung – Vermittlung, Göttingen 2021, S. 151-183, hier S. 176. Zum Attila-Bild in der modernen Rezeption Matthias Däumer, Vom Sexappeal des Pseudo-Hunnen. George R.R. Martins Khal Drogo-Figur im Spiegel der Attila/Etzel-Rezeption, in: Hans Rudolf Velten/Nathanael Busch (Hg.), Die Literatur des Mittelalters im Fantasyroman, Heidelberg 2018, S. 45–64, Zitat S. 45.

[13] Die Verdi-Oper Attila (UA: Venedig 1846), die auf dem Drama von Zacharias Werner (1808): Attila, König der Hunnen basiert, wurde zwar zum Verdi-Jubiläum 1963 in Bremerhaven “wiederentdeckt” ( https://www.zeit.de/1964/50/attila) ist seitdem an Opernhäusern (auch im Vergleich zu anderen Verdi-Klassikern) selten auf dem Spielplan (Ausnahmen bilden z.B. die Aufführung 2023 in der Semper Oper und beim Verdi Festival di Parma 2024). Dass der Herrscher selbst nicht als handlungsführend gezeigt wird, entspricht dem generellen narrativen Bild großer Herrscher, das auch Artus im Artusroman verkörpert: “Je mächtiger ein Herrscher ist, desto weniger ziemt ihm der aktive Kampf” (Herman Reichert, Das Nibelungenlied. Text und Einführung. Nach der St. Haller Handschrift, 2.durchg. u. erg. Auflage, Berlin/Boston 2017, S. 442).

[14] Elke Brüggen/Franz-Josef Holznagel, Des künic Etzelen man: The Huns and their King in Fritz Langs Classic Silent Film ‘Die Nibelungen and the Nibelungenlied’, in: Barbarism Revisited. New Perspectives on an Old Concept, Leiden/Boston 2015, S. 223–254. Zur filmisch konstruierten Fremdheit des Hunnenhofes bei Fritz Lang auch: Susanne Schul, HeldenGeschlechtNarrationen, Gender, Intersektionalität und Transformation im Nibelungenlied und in Nibelungen-Adaptionen, Frankfurt 2014, S. 432ff.

[15] Trotz der unterschiedlichen Herrschaftsstrukturen am Wormser und am Hunnenhof, verweisen Schul und Brüggen darauf, dass sie in Bezug auf ihre kulturellen Standards “homogenisiert” (Schul, HeldenGeschlechtNarrationen, S. 425) und als gleichwertig betrachtet werden (“There is no question of inferiority”, Brüggen/Holznagel, Des künic Etzelen man, S. 235).

[16] Brunner sieht daher das Epos trotz seiner höfischen Gestaltung durch einen “radikal desillusionierenden Realismus” gekennzeichnet (Horst Brunner, Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2013, S. 204).

[17] Thomas Metzinger, Bewusstseinskultur, München 2024. Metzinger verweist zudem auf weitere gegenwärtige Krisen der Zeit, wie die Demokratiekrise, den Technologiewandel und die Pandemie.

[18] Vgl. Horst Brunner, Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Überblick, Stuttgart 2019, S. 197–204.

[19] Bereits die Brautwerbung um Kriemhild verläuft ungewöhnlich friedlich, wird mit „äußerster zeremonieller Sensibilität durchgespielt“ (Walter Haug, Szenarien des heroischen Untergangs, S. 410). Es gibt keinen Konflikt, kein gewaltsames Einverleiben, wie sie die produktiven Formen des Brautraubs oder der Brautentführung erzählen. Etzel betitelt die Burgunden als vriunde (NL 1402,4) und verwendet diese Bezeichnung durchgängig, wenn er sich auf die Verwandten Kriemhilds bezieht. Im Text-Kommentar von Grosse heißt es, die Einladung von Kriemhilds Verwandten stelle den Charakter Etzels als “germanenfreundlichen, toleranten Herrscher” aus (Siegfried Grosse, Kommentar, in: Das Nibelungenlied. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor, Stuttgart 2007, S. 719–935, hier S. 869). 

[20] Zugriff auf den Codex Manesse online unter: http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0029 (Zugriff 05.02.2025)

[21] Hilkert Weddige, Einführung in die germanistische Mediävistik, München: 2006, S. 213.

[22] ‘Politisch’ verstehe ich hier mit Burkhard Hasebrink (im Anschluss an die politische Theorie von Ernst Vollrath) als einen “von Optionalität, Zweiseitigkeit, Verhandlung und Revision” bestimmten Handlungsmodus (Hasebrink, Aporie, Dialog, Destruktion. Eine textanalytische Studie zur 37. Aventiure des Nibelungenliedes, in: Nikolaus Hengel (Hg.), Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter, Tübingen 2003, S. 7–20, hier S. 11).

[23] Hermann Reichert, Das Nibelungenlied. Text und Einführung, Berlin/Boston 2017, S. 523. Regina Toepfer konstatiert im Anschluss an Elisabeth Lienert zur Figur Dietrich von Bern bereits, dass sich hier ein neues Heldenideal festmachen lässt, das sich durch die Ablehnung von Gewalt und heroischem Heldentum definiere. Dietrich könne seine „Spielregeln für das Überleben“ aber aus Mangel an „Mitspielern“ nicht umsetzen (Regina Toepfer, Spielregeln für das Überleben. Dietrich von Bern im Nibelungenlied und in der Nibelungenklage, in: ZfdA 141/3 (2012), S. 310–334, hier S. 332). Elisabeth Lienert, Die historische Dietrichepik. Untersuchungen zu Dietrichs Flucht, Rabenschlacht und Alpharts Tod, Berlin/New York, bes. S. 40.