von Gunter E. Grimm
(2020/10; erw. 2022/10)
Der Konflikt zwischen der burgundischen Königin Brunhild und Siegfrieds Gattin Kriemhilde brach bekanntlich beim langersehnten Wiedersehen aus. Er kulminierte beim Kirchgang in der berühmten Szene, als die beiden Königinnen um den Vortritt in die Kirche stritten. Es handelt sich dabei um einen nur in einer ständischen Gesellschaft möglichen Konflikt, der sich mit dem barocken Begriff „Ehrengeprängstreit“ umschreiben lässt, bei dem es nicht nur um die Einhaltung von Etiketten geht. Anders als heute gab es im Mittelalter eine kastenähnliche Standesordnung, die vom Hochadel über die in sich differenzierte Bürgerschaft hinab bis zu den Bauern und dem fahrenden Volk reichte. Innerhalb der Kaste der Adeligen gab es außerordentlich große Unterschiede. An der Spitze stand der König, es folgten die verschiedenen Fürsten, schließlich gab es eine Reihe zwar reicher aber nicht selbständiger Herren, die ihren Besitz zu Lehen erhalten hatten und infolgedessen Lehnsleute waren – Vasallen oder, wie es im Nibelungenlied heißt, „eigenholde“ oder „eigene“. Lehnsleute waren zu gewissen Diensten verpflichtet, zu finanziellen Abgaben oder zum Wehrdienst. Für Mitglieder des Hochadels war eine Ehe mit solchen Personen ein Tabu.
Die Konstellation der streitenden Frauen hat archetypischen Charakter. Der Streit ist Ausdruck von Rivalität. Diese kann unterschiedlich motiviert sein; neben persönlichen finden sich auch gesellschaftliche Motive. Im Fall der beiden Königinnen scheint dies zunächst ein sozialer Grund zu sein: welcher gebührt der Vorrang beim Betreten der Kirche. Die ‚Ehre‘ ist in einer hierarchisch gegliederten Stände-Gesellschaft zugleich Ausweis des höheren Ranges. Wem die Ehre des Vortritts zusteht, indiziert den Supremat auf der Stufenfolge der sozialen Leiter. Und doch scheint ein anderes Motiv heimlich durch! In Umkehrung der Maxime „cherchez la femme“ steht die Frage im Zentrum, welche der Frauen den besseren Mann hat. Sind Siegfried und Gunther ebenbürtig? Brunhild beruft sich auf Siegfrieds eigene Worte „er wære ’sküneges man“ (XIV, 821,2), er wäre Lehnsmann des Königs, in weitester Auffassung ein Leibeigener („eigen man“). Das mittelhochdeutsche Epos nennt als Begründung „níd“, die gesellschaftliche Missgunst (829,4). Aber auch dieser Begründungsebene kommt nur die Qualität des ‚Scheins‘ zu. Der eigentliche Auslöser des Dramas enthüllt sich erst im Streit vor dem Münster (839,1). Kriemhild nennt Brunhild „mannes kebse“, gemeint ist „eigenmannes“, also „Geliebte eines Leibeigenen“. Damit ist der soziale Zwist auf die persönliche Ebene transponiert, die soziale Herabsetzung mutiert zur persönlichen Beleidigung. Kriemhild enthüllt öffentlich, dass Siegfried Brunhild in der Brautnacht bezwungen und ihr das „magetuom“ (die Jungfernschaft) genommen habe. Dabei vermutet Kriemhild, Brunhild habe der Entjungferung durch Siegfried freiwillig zugestimmt.
zwiu lieze du in minnen, sît er dîn eigen ist? (841,2)
[„Wieso hast du dich von ihm lieben lassen, wenn er dein Leibeigener ist?“]
Im Unterschied zur nordischen Version ist im Nibelungenlied nicht die Rede von einer heimlichen, aus einer früheren Zeit stammenden Liebe zwischen Siegfried und Brünnhilde. Vielmehr unterstellt Kriemhild der in Wahrheit betrogenen Königin das Einverständnis zum Betrug (an Gunther). Damit weist sie nicht nur Brunhilds Argumente zurück, sie zeiht sie in aller Öffentlichkeit der Ehrlosigkeit.
Nach dem Gottesdienst stellt Brunhild nochmals Kriemhild zur Rede und fordert eine Erklärung ihrer ungeheuerlichen Behauptung:
[…] mich muoz Kriemhilt mêre hœren lân
des mich sô lûte zîhet daz wortræze wîp. (845, 2-3)
Sie meint zu wissen, dass Kriemhilds Vorwurf nicht der Tatsachenwahrheit entspricht. Habe Siegfried sich dieser Tat gerühmt, also in Brunhilds Augen gelogen, müsse er mit seinem Leben dafür bezahlen. Ring und Gürtel, die Kriemhild demonstrativ als Beweis für die Richtigkeit ihrer Behauptungen zeigt, werden zu Belegstücken einer Tatsachenverdrehung, die Kriemhild mit der Absicht vornimmt, ihre Gegnerin gesellschaftlich zu demontieren, ihr die Ehre zu nehmen (849,2).
Der Zwist, vielmehr die Ehren-Beleidigung, soll durch Siegfrieds Aussage, er habe sich nicht des Beischlafs gerühmt, beendet werden. Wohlweislich verlangt Gunther nicht, dass Siegfried sich zum Tatbestand äußert, er soll lediglich Auskunft geben, ob er sich mit dieser Tat gebrüstet habe. Siegfried Beteuerung, er habe seiner Frau nichts davon erzählt, ihre Aussage sei eine Lüge, sie selbst Erfinderin eines Gerüchts, eine Lügnerin, wird zwar von Gunther akzeptiert. Für ihn und Siegfried ist die heikle Angelegenheit damit abgeschlossen. Doch nicht so für Brunhild! Für sie bleibt der Vorwurf der Kebse im Raum stehen – und damit auch die Herabwürdigung der Königin. Hagen, der getreue Gefolgsmann, verspricht der weinenden Brunhild Siegfrieds Bestrafung. Intuitiv erkennt er, dass Siegfried der eigentlich Schuldige ist. Offenbar schenkt er Siegfrieds Schwur keinen Glauben: Irgendetwas muss er Kriemhild doch von dem Brautnacht-‚Handel‘ erzählt haben (867). Soweit die komplexe, der Münsterplatz-Szene zugrundeliegende Situation, die durch eine Vermischung sozialer, rechtlicher und persönlicher Motive geprägt ist. Die Protagonisten Siegfried und Gunther verhüllen die Wahrheit, indem sie den Anschein ihrer Aufdeckung erwecken. Immerhin entlarven sich in dieser Szene die Charaktere: Kriemhild als emotional aber unreflektiert, Brunhild als standesbewusst aber verletzlich, Gunther als bequem aber wankelmütig, Siegfried als machohaft aber naiv, Hagen als loyal aber bedenkenlos.
Diese Figurationen spiegeln sich in der ikonographischen Rezeptionsgeschichte. Im Fresko des Frauenstreits, wie ihn Julius Schnorr von Carolsfeld in der Münchner Residenz Mitte des 19. Jahrhunderts gestaltet hat, ähnelt das Portal dem eher flach gehaltenen Nordportal des Wormser Doms, dem sogenannten Kaiserportal. Im Vordergrund streiten sich die beiden Königinnen, während im Hintergrund Siegfried seine Hand zum Schwur erhebt, Gunther dagegen mit seiner rechten Hand abwiegelt. Er will den Konflikt niedrig halten, am liebsten wegwischen. Die Gestik der beiden Streitenden ist auf Effekt angelegt. Schnorr zeichnet Brunhild als zutiefst erschreckte Frau, die vor dem schlagenden Beweisstück, dem Gürtel, zurückweicht. Kriemhilds Gestik verrät ihren Triumph: Mit ihrer Rechten hält sie lässig den Gürtel, ihre Linke zeigt demonstrativ darauf. Ihre offenbar um Mäßigung bemühte Begleiterin versucht beschwichtigend Kriemhilds Hand niederzudrücken. Brunhild steht noch eine Stufe oberhalb Kriemhilds; wie der Betrachter weiß, wird Kriemhild in der Folge an Brunhild vorbei ziehen. Schnorrs Kunst besteht auch in einer Bündelung von zeitlichem Geschehen, die theatralische Szene integriert Vergangenheit und Zukunft.
Das Gemälde Der Streit der Königinnen von Frank Kirchbach, einem Historienmaler aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, schmückt die Ostwand des Nibelungenzimmers in der zwischen 1882 und 1884 im Auftrag des in Paris lebenden Bankiers und Börsenspekulanten Baron Stephan von Sarter erbauten Drachenburg. Das 1884 entstandene Bild ist ein typisches Beispiel für dekorative Historienmalerei, pompös und pathetisch in seiner bombastischen Theatralik. Interessant jedenfalls ist die Perspektive. Durch die Sicht von unten erhalten die beiden streitenden Königinnen eine raumbeherrschende Dominanz. Dass Kriemhild ein weißes Gewand trägt, Brunhild dagegen ein rotes, mag farbsymbolisch auf Unschuld und auf Sinnlichkeit verweisen, kann aber auch ganz anders gedeutet werden. Der Kunsthistoriker Ulrich Schulte-Wülwer erkennt in dem Bild „neben hohlem Pathos der Heroinen und Helden in Fortsetzung der Bemühungen Schnorr von Carolsfelds ein kleinliches Streben um [sic!] architektonische und kostümkundliche Authentizität“.i Insbesondere die Treppe ist gegenüber dem Original steiler angelegt, was eine größere hierarchische Anordnung zulässt, dazu sieht man im linken oberen Bereich den Westturm des heutigen Wormser Doms – ein Beleg für die um historische Authentizität und Dramatik bemühte Malweise Kirchbachs. Die Wahl der Farben hat symbolische Bedeutung. Hier steht Kriemhild in üppigem weißem Gewand über Brünhild; gewissermaßen den Triumph schon vorwegnehmend. In überheblicher Weise streckt sie der Rivalin triumphierend den Gürtel entgegen. Diese schaut von unten auf das Gezeigte, ihre Hände fassungslos nach unten gekehrt. Brunhilds Gewandung ist rot. Will Kirchbach mit der Wahl der Farben auf Unschuld der Einen und auf Sinnlichkeit der anderen hinweisen? Wohl kaum. Es handelt sich eher um reine Dekoration. Allerdings bemüht der Maler bei der Haarfarbe eine Stereotype, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte: Kriemhild ist blond, Brunhild dunkelhaarig.
Grundsätzlich ist die Ikonographie deshalb interessant, weil die Künstler und Dichter mit dem Aussehen ihrer Protagonist*innen bereits einen Hinweis auf ihr Wesen zu geben versuchen. Das Aussehen hat Signalcharakter. Es vermittelt dem Betrachter bzw. Leser einen ersten Eindruck, der ihm die Gestalt sympathisch oder unsympathisch macht, sein Interesse weckt oder ihn abstößt. So hat, wer sich mit dem Thema Nibelungen beschäftigt, bereits vor der Lektüre eine einigermaßen deutliche Vorstellung, wie die beiden männlichen Protagonisten aussahen: der starke oder „snelle“ Siegfried und der „grimme“ Hagen. Es sind freilich sehr allgemeine Epitheta. Das Nibelungenlied selbst beschreibt seine Helden prinzipiell nicht. Alle diese Vorstellungen gehen auf Rezeptionsmuster des 19. Jahrhunderts zurück und sind ideologisch geprägt: Siegfrieds Blondheit deutet auf germanische Herkunft. Hagen wird meist schwarzhaarig porträtiert, quasi als Schwarzalbe; wenn der Künstler die Nähe zum Verräter Judas herstellen will, auch rothaarig. Bei den beiden Königinnen verhält es sich nicht anders.
Der Nibelungendichter entwirft das Bild zweier wunderschöner Frauen, die – auch wegen ihrer Schönheit – in Konkurrenz zueinander treten. Auf die Frage, welche der beiden den Lorbeer als „schönste Frau“ im Burgunderreich erringen würde, gibt er eine reizvolle Antwort:
Dô speheten mit den ougen die ê hôrten jehen,
daz si alsô schœnes heten niht gesehen
sô die vrouwen beide: des jach man âne lüge.
ouch kôs man an ir lîbe dâ deheiner slahte trüge. (Str. 592)
Die vrouwen spehen kunden unt minneclîchen lîp,
die lobten durch ir schœne daz Guntheres wîp.
dô sprâchen dâ di wîsen, die hetenz baz besehen,
man möhte Kriemhilden wól für Prünhilden jehen. (Str. 593)ii
Kriemhild ist von Anfang bis Ende des Nibelungenlieds präsent; das ganze Epos handelt im Grunde von ihr. Bereits die zweite Strophe gibt eine Beschreibung von ihr:
Ez wuohs in Búrgónden ein vil édel magedîn,
Daz in allen landen niht schœners mohte sîn,
Kriemhilt geheizen: si wart ein scœne wîp. (Str. 2)
Und die nächste Strophe führt weiter aus:
Der minneclîchen meide triuten wol gezam. […]
âne mâzen schœne sô was ir edel lîp.
der juncvrouwen tugende zierten ándériu wîp. (Str. 3)iii
Allgemeiner geht es wohl kaum: Schön war sie, edel und liebenswert. Später, als sich die Liebesgeschichte mit Siegfried anbahnt, gibt es noch einige weitere Hinweise. Siegfried hat sich in den Kopf gesetzt, die Burgunderprinzessin zu heiraten „durch ir unmâzen scœne“ (Str. 49); zum Leidwesen seines Vaters Siegmund, der sich wegen Kriemhilds stolzer und hochmütiger Verwandtschaft sorgt (Str. 53/54). In der Anfangszeit nennt der Nibelungendichter Kriemhild oft „minneclîch“, also liebenswert bzw. minnewert; später, als Kriemhild sich zu einer immer erbarmungsloseren Rächerin entwickelt, ist sie allenfalls die „scœne“. Insgesamt muss man zwischen vier Phasen ihrer Vita und damit vier Erscheinungsweisen unterscheiden:
In der ersten Phase ist Kriemhild die „minneclîche meit“, die liebliche schöne herrliche Maid, in der zweiten die liebende und scharfzüngige Gattin, in der dritten die trauernde Witwe, in der vierten Phase die furchtbare Rächerin. Am nächsten kommt sie uns in ihrer maßlosen Trauer um den ermordeten Gatten, wenn sie sich auf seine Leiche wirft und ihn wieder aus dem Sarg holen lässt.
In psychologischer Hinsicht ist es heute schwer nachvollziehbar, dass Kriemhild nach der Ermordung Siegfrieds nicht mit dessen Vater Sigmund in die Niederlande zurückkehrte, wo auch ihr kleines Kind lebte und mutterlos aufwachsen musste, sondern dass sie als Witwe ausgerechnet in Worms blieb, wo ihre triumphierende Feindin Brunhild Königin war und ihr Erzfeind Hagen eine dominierende Stelle am Hof einnahm – der Mann, der ihren Gatten Siegfried gemeuchelt und ihr das Erbe, den Nibelungenhort, geraubt hatte. Dazu muss man sich als moderner Leser vergegenwärtigen, dass im Mittelalter der ordo, also die gesellschaftliche Ordnung mit ihren strikten Standeseinteilungen, an denen es nichts zu rütteln gab, als gottgegeben angesehen wurde. Jedenfalls war die Bewahrung der göttlichen Ordnung das erste Prinzip, dem sich private Emotionen und Wünsche unterzuordnen hatten. Dieses Bild der letzten Phase, Kriemhild als die unerbittliche erbarmungslose Rächerin und zugleich Rebellin gegen die Männer-dominierte Gesellschaftsordnung, beherrscht die Rezeption der frühen Neuzeit.
Die Gestalt ihrer amazonenhafteniv Gegnerin Brunhild ist im Nibelungenlied wesentlich eindimensionaler gezeichnet. In der nordischen Überlieferung verhält es sich umgekehrt: Die Walküre Brünnhilde hat einen Liebespakt mit Siegfried und wird von ihm schnöde versetzt. Seine Gattin Gutrune bleibt einigermaßen blässlich. Immerhin haftet auch der deutschen Brunhild ein fremdländischer Gout an. Sie wohnt im fernen Island und gilt als eine so schöne wie starke Frau – gewissermaßen ein Relikt ihrer mythischen Herkunft. Die Epitheta aus dem Nibelungenlied lauten „unmâzen schœne“, „michel ir kraft“, das „vil hêrliche wîp“, aber auch – wie Hagen anmerkt – „des tiuveles wîp“ (Str. 438, 3f.). Später bestätigt Gunther gewissermaßen Hagens Einschätzung, wenn er seine gewalttätige Gattin gegenüber Siegfried ein „vreislîchez wîp“ (Str. 655) nennt, ein fürchterliches Weib – verständlich angesichts der Tatsache, dass sie ihn in der Hochzeitsnacht an einen Haken an der Wand gehängt hat. Nach ihrer Bezwingung erscheint sie gezähmt, später bekommt auch sie einen Sohn, erlebt durch Kriemhild eine unverwindbare Demütigung und durch Siegfrieds Ermordung einen Triumph über die verhasste Rivalin (Str. 1100). Danach verschwindet sie aus dem Gesichtsfeld.
* * *
Was haben die Künstler, die Maler und Bildhauer, die Dichter und Theaterleute in den darauf folgenden Jahrhunderten aus dieser spannungsreichen Konstellation gemacht? Die Bildkunst entwickelt im 19. Jahrhundert die ikonographischen Stereotypen, die am häufigsten rezipierten Bilder prägen das Bewusstsein der Betrachter oft auf Jahrhunderte.
Der Beginn der künstlerischen Nibelungenrezeption ist durch Johann Joachim Winckelmanns Klassizismus-Ideal geprägt. Klassizistisch ist auch der Zuschnitt der Literatur. Der Züricher Literaturprofessor Johann Jakob Bodmer verwendete in seinem Epos „Die Rache der Schwester“v von 1767 das homerische Versmaß, den Hexameter. Das Pendant in der Bildenden Kunst war Bodmers Landsmann Johann Heinrich Füssli. Füssli, der 1779 dauerhaft nach London übersiedelt war, übersetzte die Werke Winckelmanns ins Englische. In Rom, wo er sich in den Jahren 1770-1778 aufhielt, studierte er die antiken Kunstwerke und lernte die klassizistischen Maler Anton Raphael Mengs und Maler Jean-Louis David kennen. Gleichwohl ist sein umfangreiches malerisches und zeichnerisches Werk nicht ausschließlich klassizistisch; es enthält starke vorromantische Tendenzen. Diese merkwürdige Ambivalenz zeichnet auch seine zwischen 1798 und 1820 entstandenen Nibelungen-Zeichnungen und -Gemälde aus.
Füssli kannte auch die nordische Version der Nibelungensage. Das zeigt sich etwa bei seiner Darstellung Siegfrieds, der die Waberlohe durchreitet und auf die mit Helm und Schild bewaffnete Brunhild trifft.vi Ansonsten hält er sich bei seinen Illustrationen an die deutsche Version der Geschichte.
Bereits in der lavierten Tuschzeichnung Brunhild betrachtet den von ihr gefesselt an der Decke aufgehängten Gunther (1807) bestimmt die ästhetische Bipolarität Füsslis Darstellung: einerseits beeinflusst ihn Winckelmanns Ideal der ‚edlen Einfalt und stillen Größe‘, andererseits folgt er einem Ideal der Überzeitlichkeit, das jede „individuelle Charakterisierung“ vermeidet, „um einen allgemein menschlichen Kern der Akteure freizulegen“.vii
Im Kontrast zu den antikisch nackten Helden erscheinen die weiblichen Protagonisten in eher zeitgenössischen Gewändern, in Kleidern des Empire – wie in der Federzeichnung Kriemhild rühmt vor Brunhild ihren Gemahl Siegfried (1805) und der Bleistiftzeichnung Der Streit der Königinnen (1805)viii, wo Siegfried in der Ferne in antikischer Nacktheit als das Liebesobjekt der beiden spiegelbildlich ihm zugewandten Damen erscheint. Sogar in der Hochzeitsnacht trägt die schamhaft mit einem Schleier bedeckte Brunhild ihre Haare modisch hochgesteckt. Indem Füssli sich an der gegenwärtigen Kleidermode orientiert, überstellt er den Konflikt in die Gegenwart. Die Antikisierung der Helden und die Modernität der Frauengewänder dienen gleicherweise dazu, die zeitlose Aktualität der Konstellation zu demonstrieren.ix
Noch deutlicher wird diese geradezu schizophrene Geschlechterspezifität in der Bleistiftzeichnung Siegfried vor Kriemhilde kniend (1807)x und der Bleistift- und Tuschezeichnung der – von Füssli frei erfundenen – Szene Siegfried, insgeheim mit Kriemhild verheiratet, durch Hagen bei seinem ersten Stelldichein mit ihr nach dem Sieg über die Sachsen überrascht (1817).
Füsslis besondere Anteilnahme gilt der Gestalt der Kriemhilde, die er von der liebenden Jungfrau über die trauernde und anklagende Witwe bis zur grausamen Rachefurie porträtiert.xi In seiner alkäischen Ode „Chremhilds Klage um Sivrit“ reflektiert Kriemhilde über die Motive Brunhilds, Siegfried ermorden zu lassen:
Nicht daß du ihr den Gürtel gelöset, hat
Sie deinen Mord gebrütet; dein Geist entfloh,
Weil du an Chremhilds Brust ihn bandest
Und mit dem Ringe dich mir vermähltest!xii
Füssli verleiht ihrem Charakter eine psychologische Dimension, die im Nibelungenlied nur indirekt zu erschließen ist. Im Nibelungenlied erkennt Kriemhild zwar, dass ihr leichtfertiges Vertrauen in den verräterischen Hagen zum Tod Siegfrieds geführt hat. Aber ihre Gewissensqualen und vor allem ihre Selbstbezichtigungen sind Füsslis eigene Erfindung.xiii Man könnte sie als heimliches Eingeständnis ihrer Schuld an Siegfrieds Tod deuten.
Davon zeugt das (in mehrfacher Variation vorhandene) Tusche-Bild Kriemhild sieht im Traum den toten Siegfried (1805)xiv. Wie der Füssli-Experte Gert Schiff darlegt, lässt Füssli „in der Entwurfszeichnung den Gatten verständnislos auf die von dem Unheilstraum Geplagte blicken, während sie, grell herausgehoben, verzweifelnd zugleich nach der Erscheinung des Toten und nach dem Lebenden ausstreckt“, wogegen „in der aschfarbenen Gemäldefassung“ Siegfried „wie zum Zeichen des unvermeidlichen Schicksals von ihr abgewandt“ steht.xv Von den Schuldvorstellungen zeugt auch das Bild Kriemhild bei der Totenwache für Siegfried von Verkörperungen ihrer Selbstanklagen heimgesucht (1805),xvi wo Füssli die Geister in einer Dreierreihung anordnet, ähnlich wie in seinen Hexen-Illustrationen zu Shakespeares „Macbeth“.
Ihre geradezu wilde Trauer zeigt sich besonders in den Bildern Kriemhild wirft sich auf den toten Siegfried (1817)und Kriemhild hält Totenwache für Siegfried (1805)xvii. Füssli hat den Schock Kriemhilds, wie sie den toten Siegfried vor ihrer Türe findet, mehrfach gestaltet.
Zu Recht hat Gert Schiff bei der Darstellung von Kriemhilds Totenwache auf „den Adel der Erfindung“ hingewiesen und sie den klassischen Darstellungen der Pietà und der Adonisklage an die Seite gestellt.xviii
Eine andere psychische Facette der trauernden Gattin zeigt das Bild Kriemhild klagt an der Leiche Siegfrieds im Dom zu Worms Gunther und Hagen des Mordes an (1805). Auch hier präsentieren Gunther und Hagen sich in blanker Nacktheit, die Heroine dagegen in einem Schleppengewand. Kriemhild steht wie eine Hohepriesterin der Rache vor den Männern, ihre Linke weist auf sie als die Mörder ihres Gatten, ihre Rechte zeigt nach oben, zu Gott, als der Instanz, der sie zu diesem Zeitpunkt (noch) die Rache anvertraut.
Im zweiten Teil des Epos reißt Kriemhild gewissermaßen den Part des alttestamentarischen Gottes an sich und nimmt die ausgleichende Rache in ihre eigene Hand. Als unerbittliche und heroische Rächerin tritt sie auf in den Blättern Kriemhild, von zwei hunnischen Dienern begleitet, zeigt Hagen den Nibelungenring (1807) und Kriemhild zeigt Hagen das Haupt Gunthers (1805). Die Ringszene ist Füsslis freie Erfindung, die Szene der triumphierenden Kriemhild mit dem abgeschlagenen Kopf entspricht dem Schluss des Nibelungenliedes. Die Darstellung orientiert sich aber an der antiken Perseus-Sage, wenn Kriemhild dem gefesselten Hagen Gunthers Haupt als hypnotisierendes Medusenhaupt entgegen streckt. Vorbild ist Benvenuto Cellinis berühmte Bronzestatue des Perseus (1554) vor der Loggia dei Lanzi in Florenz. In beiden Szenen fällt wieder die abstrakte Dichotomie zwischen dem nackten (leidenden) Hagen und der akkurat ausstaffierten, die Kleidermode und Haartracht von 1805 spiegelnden Kriemhild auf. Sollte dieser Gegensatz neben der Überzeitlichkeit auch auf den Geschlechterunterschied hinweisen?
Fünfzig Jahre später, um 1850, herrscht in der Malerei der Historismus in seinen verschiedenen Spielarten. Viel stärker als Füsslis Bilder hat ein anderes Werk die Ikonographie der Nibelungendarstellung geprägt: nämlich die monumentalen Fresken, die Julius Schnorr von Carolsfeld im Auftrag des bairischen Königs Ludwig I. in der Münchner Residenz zwischen 1831 und 1867 ausgeführt hat bzw. seine Entwürfe von Gehilfen hat ausführen lassen.
Schnorrs Entwürfe wurden später auch als Illustrationen in verschiedenen Editionen des Nibelungenlieds verwendet und haben so einen breiten Eingang in die bürgerlichen Büchersammlungen erhalten. Carolsfeld gehörte zur Gruppe der Nazarener, einer Malergruppe, die christliche und vaterländische Themen in einer historisierenden Manier bearbeiteten. Einerseits bemühten sich die Nazarener um idealisierende Darstellung, andererseits versuchten sie, den geschichtlichen Kontext einzufangen, also mittelalterliche Gewänder, Waffen und Haartracht historisch getreu nachzubilden. Siegfried erscheint hier nicht mehr in antikischer Nacktheit, sondern als höfischer Ritter, die Damen präsentieren sich in historischen wallenden Gewändern.
Dazu gehört es auch, dass Schnorr seinen Figuren Individualität verleiht. Bei Kriemhild scheint er sich – wen wundert dies bei einem Nazarener? – an der christlichen Marien-Ikonographie zu orientieren. Das wird im großen Wandgemälde Ankunft Brunhilds in Worms deutlich, wo Kriemhild als lieblich-sanfte Gestalt mit liebenswürdiger Gestik gezeigt wird, wohingegen Brunhild mit deutlich herberen Zügen ausgestattet ist.
Offiziösen Charakter hat die Präsentation der Einzelfiguren bzw. Paare im ersten Saal, mit sprechender Gestik: Brunhild wendet sich von Gunther ab, ihre Miene verrät grimmige Entschlossenheit, Kriemhild schmiegt sich an Siegfried an, allerdings mit sorgenvollem Ausdruck – offenbar erinnert der Falke auf ihrer Schulter sie an ihren ominösen Traum. Anders als beim Hochzeitsbild, wo sie „marienhaft“ zart wirkt, erscheint sie im Fresko Siegfried schenkt Kriemhild den Gürtel Brunhilds wohlgenährt und fast matronenhaft – was sich boshafterweise als Folge des guten Ehelebens deuten ließe.
Im Vergleich mit Füsslis fast expressionistischem Ausdruck sind die Arrangements Schnorrs statisch und aufgesetzt theatralisch. Das zeigt sich besonders in den emotionalen Extrem-Szenen, wenn sich die schmerzerfüllte Kriemhild über den toten Siegfried wirft – hier ist ihre Haltung den Mariendarstellungen nachempfunden – oder wenn sie, bei der Aufbahrung des toten Siegfried, hochdramatisch Hagen als den Mörder ihres Mannes outet.
Füssli gestaltet das Innen, die psychische Verfasstheit der von tiefem Schmerz Betroffenen, Schnorr das Außen, die Inszenierung ihres Schmerzes. Das zeigt sich an der geziert gespreizten Haltung der Finger und an der unnatürlichen Gestik der Frauengestalten um Kriemhild. Auch bereits bei der intimeren Szene Abschied Siegfriedsxix fällt auf, dass die Gestik weniger ein bewegtes Inneres ausdrückt als auf krude Wirkung zielt. Schnorr orientiert sich in seiner Darstellung an der früheren Gestaltung dieser Szene durch Peter Cornelius.xx Zu Recht bescheinigt Schulte-Wülwer dem Zyklus einen „bühnenmäßigen Charakter“.xxi
Im zweiten Teil des Nibelungenlieds agiert Kriemhild im Hintergrund. Gänzlich passiv erscheint sie in der Szene mit Hagen und Volker, die ihr den Gruß verweigern, ebenso in der Szene, in der Dietrich von Bern die gefesselten Gunther und Hagen vor sie bringt. Vor allem in diesem Bild erstarrt Kriemhild zur Pose – eine Figur zwischen trauernder Pietà und reflektierender Melancholia. Ob die „Charakterbilder“ eine „versittlichende Kraft“ auf den Betrachter ausübten,xxii wie Schnorr erhoffte, lässt sich gewiss nicht feststellen. Für Schnorr selbst war es allerdings ein persönliches Dilemma, dass er, als eigentlich bürgerlich-liberal gesonnener Künstler, mit diesem Werk die feudalistischen Interessen eines rückwärtsgewandten königlichen Kunstliebhabers bedienen musste. Auch dies mag ein Grund sein, dass seine Bilder ‚höfischen‘ Charakter haben: Die Figuren zeigen sich so, wie die Etikette von ihnen verlangt, und genügen damit den höfischen Verhaltensregeln.
Die nationalistischen Anklänge sowie der unübersehbare Hang zu Monumentalisierung und Heroisierung verstärkten sich in den Jahren nach der Reichsgründung und insbesondere in der wilhelminischen Ära. In der Literatur stehen dafür das Nibelungenepos „Nibelunge“ von Wilhelm Jordan und die Germanen-Romane von Felix Dahn, in der Bildenden Kunst die Historienmaler. Ein Beispiel war das Bild Streit der Königinnen von Frank Kirchbach. Ein anderes Bild desselben heroisch-monumentalen Historienstils ist die Bahrprobe von Emil Laufferaus dem Jahre 1879. Kriemhild steht hier diametral Hagen gegenüber: der Mörder und die Rächerin. Finster blickt der hünenhafte Hagen aus den Augenwinkeln nach Kriemhilde, die, mit einem riesigen perlengeschmückten Zopf ausgestattet, ebenso finster blickend auf ihn zeigt. Am Kopfende der Bahre sitzt die braunhaarige Brunhild. Die Gewandung der Lichtgestalten Siegfried und Kriemhild ist hell, die Hagens und seiner ‚Auftraggeberin‘ braunrot.
Der Jugendstil, der um die Jahrhundertwende aufkam, war auch ein Gegenentwurf zur akademischen Historienmalerei. Der Buchkünstler Joseph Sattler schuf für den anlässlich der Pariser Weltausstellung von 1900 in der Reichsdruckerei erschienenen Prachtband „Die Nibelungen“ farbige Illustrationen mit dekorativ-statischem Charakter.
Die Figuren stehen fast beziehungslos nebeneinander.xxiii Gesichter und Ausdruck der streitenden Königinnen sind auswechselbar. Sie unterscheiden sich lediglich durch die Gewandung: Kriemhild in blau, Brunhild in rot. Vielleicht wirkt Brunhilds Gesichtsausdruck etwas strenger, während bei Kriemhild die Emotion unmittelbarer zu sein scheint – ein Eindruck, der durch die unterschiedlichen Haartrachten verstärkt werden könnte. Brunhild trägt ihr Haar hochgebunden, bei Kriemhild fällt das blonde Haar frei über die Schulter.
Carl Otto Czeschkas Illustrationen zu Franz Keims Nacherzählung des Nibelungenliedsxxiv von 1908 haben einen extrem ornamentalen Duktus, auch seine Figuren sind ohne Individualität. Das gilt sowohl für die junge Kriemhild bei ihrem Falkentraum, als auch für den Streit der Königinnen, wo die Frauen „in der Kostbarkeit ihrer Gewänder und der Gemessenheit ihrer Gesten“ verharren, „wie entrückt, als posierten sie zu einem Geschehen, das sie eigentlich nichts angeht.“xxv
Im Übrigen haben Czeschkas Illustrationen stark eingewirkt auf den monumentalen dreistündigen Nibelungen-Stummfilm, den Fritz Lang 1924 gedreht hat. Die Stummheit des Films bringt es mit sich, dass Lang auf das dekorative und das mimisch-gestische Moment großen Wert gelegt hat.
[18] Standbilder aus Fritz Langs Verfilmung Die Nibelungen (1924)
Der primäre Ansatz von Lang war eindeutig politisch-ideologisch. Deutschland hatte den Ersten Weltkrieg verloren. Langs Intention war, die Katastrophe des verlorenen Krieges zu erklären, indem er eine Analogie zum schicksalhaften Geschehen der Nibelungensage herstellte. Er versuchte mit seinem Film aus den schwierigen Anfängen der Weimarer Republik dem deutschen Volk seine heldischen Traditionen wieder ins Gedächtnis zu rufen und dadurch zum Wiederaufbau der Nachkriegsgesellschaft beizutragen. Kein Wunder, dass Goebbels und Hitler den Film schätzten.xxvi Lang wollte Helden zeigen, übermächtige Gestalten, die sich dem simplen Gut-Böse-Schema fügten und zu einfältig-grandioser Monumentalität aufwuchsen.
Monumentalität zeichnet auch die Fresken aus, die Karl Schmoll (genannt Eisenwerth) für das (im Zweiten Weltkrieg zerstörte) Wormser Cornelianum entworfen hat. Im Fresko Brunhilds Empfang in Worms (1912/1913) stehen auf der linken Seite die blondhaarigen Siegfried und Kriemhild, auf der rechten Seite die dunkelhaarige Brunhild, vermutlich mit Gunther (oder Hagen?). Brunhild trägt hier noch den ominösen Gürtel. Schmolls wuchtige Bilder haben etwas Monumentales, Pathetisches und Heroisches, unbekümmert um historische Authentizität der Gewänder und Waffen.
Bereits 1907/08 zeigte Hans Adolf Bühler, ein Schüler des beliebten Malers Hans Thoma, in seinem Bild Die Nibelungen die Figuren Brunhild, Siegfried und Kriemhilde einigermaßen befremdlich als pseudoantike Nackt-Akte.xxvii Kriemhild erscheint als die Zarte und Innige, Inbild germanischer Blondheit und Träumerin, während Brunhild als dunkelhaariges Kampfweib dargestellt ist. Wo die Sympathien des Malers liegen, ist kein Geheimnis. Bühler war Mitglied des völkischen, antisemitischen Kampfbunds für deutsche Kultur. Als Direktor der Karlsruher Badischen Landeskunstschule und der Badischen Kunsthalle engagierte er sich für das offizielle Kunstprogramm des Dritten Reiches.
Ähnlich verhält es sich mit dem ungleich bekannteren Maler und Illustrator Franz Stassen. Hitler nahm ihn, der seit 1930 Mitglied der NSDAP war, sogar noch 1944 in die Liste der Gottbegnadeten auf. Stassen verfertigte für die Reichskanzlei vier Wandteppiche mit Motiven aus dem Sagenkreis der Edda. Er gehörte zum Bayreuther Kreis um Siegfried Wagner und illustrierte mehrfach die Werke Richard Wagners, darunter auch den „Ring des Nibelungen“, wobei er Traditionen des Historismus, des Jugendstils und der neuen monumentalistischen Tendenz vermischte. Unübersehbar sind völkische bzw. rassistische Elemente, das Resultat war ein sonderbares Gemenge aus germanischen Religionsmythen und spiritistischem Christentum.
Stassen hat zwei Nibelungen-Bücher illustriert: 1912 Rudolf Herzogs Nacherzählung des Nibelungenlieds und 1920 Hans von Wolzogens Nacherzählung „Der Nibelungen Not“.xxviii In beiden Versionen erscheint Brunhild als dämonisches und schwarzhaariges Kraftweib – was umso befremdlicher ist, weil sie in der nordischen Tradition eine germanische Walküre war, in der deutschen Version eine Königin von Island. In Stassens späterer Gestaltung von 1920 erscheint Siegfried als höfischer Gentleman, Kriemhild als schöne nordische Blondine, Brunhild wieder als dunkles und wenig attraktives Kraftweib. Beim Streit der Königinnen stehen sich die schwarzhaarige Fremde und die blonde Burgunderin gegenüber. In ihren Gewändern spiegelt sich ihr Wesen: Dunkel Brunhild, hell Kriemhilde. Im Schlussbild steht Kriemhild mit dem Schwert in der einen, dem abgeschlagenen Kopf Gunthers in der anderen Hand, vor dem gefesselten Hagen, ein furioser Racheengel, mitleidlos und entmenscht. Während Brunhild ein eindimensionaler Charakter ist, macht Kriemhild eine erschreckende Metamorphose durch.
Auch in der Weimarer Republik gab es antiheroische Tendenzen, etwa bei Josef Hegenbarth und Ernst Barlach. Barlach hat 1922 den zweiten Teil des Nibelungenlieds mit Kohlestift-Zeichnungen illustriert.xxix Barlach vermeidet jeglichen heroischen Impetus und stellt die Grausamkeit des Vorgangs ungemildert vor Augen. Übrigens wurden die 1935 publizierten Zeichnungen umgehend durch die Bairische Politische Polizei beschlagnahmt, angeblich weil ihr Inhalt geeignet sei, „die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gefährden.“xxx
Die totale Ernüchterung, die nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg alles Heroische diskreditierte, insbesondere die Heroisierung des Untergangs, machte auch vor den beiden Protagonistinnen nicht Halt. Max Beckmann, der bedeutende expressionistische Maler, war dezidierter Gegner des Nazi-Regimes. Während des Kriegs hielt er sich in Amsterdam auf, erst 1947 wurde sein Visumantrag von den USA bewilligt. Das Bild Kampf der Königinnen, eine Federzeichnung über schwarzer Kreide, entstand 1949 in New York.xxxi Das heroische Duell der beiden Königinnen ist zu einem wüsten handgreiflichen Streit entartet, von königlicher Haltung findet sich keine Spur. Es sind eher zwei vulgäre Waschweiber, die sich hier in die Haare geraten. Die eine schlägt, die andre würgt. Das Heroische hat ausgedient.
Streit der Königinnen
Die bei Beckmann nachklingende Hell-Dunkel-Dichotomie begegnet auch in populärer Kunst, etwa im Sammelbild Der Streit der Königinnen des einst bekannten Jugend- und Kinderbuchillustrators Ernst Kutzerxxxii, oder noch 1966 in einer Illustration Willy Widmanns zu Gerhard Aicks beliebtem Sagenbuch „Deutsche Heldensagenxxxiii.
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Das Nibelungenlied demonstriert im ersten Teil die „Zähmung der Frau“ auf ziemlich brutale Weise: zunächst wird Brunhild gefügig gemacht, später wird Kriemhild zur Räson geprügelt. Im zweiten Teil kehrt sich das Verhältnis um: Kriemhild instrumentalisiert die Männer für ihre gnadenlosen Zwecke. Die bildnerische Darstellung der Königinnen orientiert sich an der Version, auf die sie sich bezieht: entweder die nordische oder die deutsche Version. Nordisch ist die übermenschliche Walküre Brünnhilde, deutsch das amazonenhafte Kraftweib Brunhild. Die Maler, die sich auf das Nibelungenlied beziehen, stellen Brunhild, obwohl sie aus Island kommt, überwiegend schwarzhaarig dar. Schwarzhaarig erscheint sie auch in einigen Dichtungen wie etwa Friedrich Hebbels Nibelungentrilogie. In der Farbsymbolik, die sich mit der Bedeutung der Farben beschäftigt, gibt es eine Tradition von Zuweisungen. Danach symbolisiert die Farbe schwarz zunächst Tod und Trauer, dann das Dämonische und Hexisch-Zauberhafte, das Unheimliche und Gefährliche, das Fremde, das ‚Migrantische‘ und das Illegale – Stichwort „Schwarzarbeit, Schwarzgeld, Schwarzmarkt“ – gewissermaßen alles, was sich im Dunkeln abspielt. D i e Maler hingegen, die Richard Wagners nordische Version bebildern, zeichnen überwiegend eine blonde Brünnhilde. Brunhild ist eher negativ besetzt, eine unheimliche Mannfrau; die nordische Brünnhilde positiv, quasi eine Lichtgestalt.
Kriemhild macht – im Unterschied zur eher statischen Brunhild – eine psychische Entwicklung durch. Das spiegelt sich auch in der Bildkunst. Anfangs wird sie als die Sanfte und Blondgelockte dargestellt, ihre Imago changiert zwischen Rauschgoldengel und christlicher Pietà. Später mutiert sie zur erbarmungslosen Rächerin, von ihrem Erzfeind Hagen als Teufelin – „vâlandinne“ – denunziert (Str. 2431,4). Ihr Seelenleben ist ungleich facettenreicher als das ihrer Rivalin.
Bei den Bildkunstwerken ist im Verlauf des Historismus ein Hang zum Monumentalen unverkennbar, mit dem eine Tendenz zur Heroisierung Hand in Hand geht. Nicht von ungefähr haben sich Bildkunst und Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg von diesen Tendenzen gänzlich verabschiedet. Die in den letzten Jahren bei den Nibelungenfestspielen in Worms aufgeführten Schauspiele zeigen das in aller Deutlichkeit. Sie demontieren Pathos und Heroik, greifen burleske und Slapstick-Elemente auf, bürsten die tradierte Geschichte gleichsam „gegen den Strich“ und setzen zuweilen Komik an die Stelle von Tragik. Ebendiese Tendenz ist auch in der Bildenden Kunst festzustellen, etwa in den Comics des deutsch-japanischen Karikaturisten und Illustrators Heiko Sakuraixxxiv.
Deutlich wird: Das Parodistische unterläuft jeglichen Heroenkult. Wenn Sakurai das Klischee der blonden Kriemhild und der schwarzen Brunhild aufgreift, so ist dies einerseits ein unverkennbares Zeichen, dass die Stereotypen sich von ihrer Entstehungszeit abgekoppelt haben und ein Eigenleben beginnen, andererseits werden durch die parodistische Absicht die traditionellen Stereotypen konterkariert. Zwischen diesen Polen – Konvention, Protest, Kontrafaktur und Parodie – wird sich die künftige Nibelungen-Rezeption vermutlich weiter bewegen.
Bildnachweise
[1] Schnorr, Foto: G. Grimm.
[2] Kirchbach, Foto: G. Grimm.
[3] Füssli, Wikimedia commons: Johann Heinrich Füssli – Brunhilde Observing Gunther, Whom She Has Tied to the Ceiling – WGA08337 – Category:Drawings by Johann Heinrich Füssli – Wikimedia Commons
[4] Füssli, Wikimedia commons: Füssli – Siegfried und Kriemhild von Hagen überrascht, SZ Füssli 16 – Category:Drawings by Johann Heinrich Füssli – Wikimedia Commons
[5] Füssli, Wikimedia commons: File:Johann Heinrich Füssli 044.jpg – Wikimedia Commons
The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH.
[6] Füssli, Wikimedia commons: Füssli – Kriemhild Mourns Siegfried – Category:Johann Heinrich Füssli – Wikimedia Commons
[7] Füssli, Storch, Die Nibelungen, S. 7.
[8] Füssli, Johann Heinrich Füssli 047 – Johann Heinrich Füssli – Wikimedia Commons
[9] Füssli, Johann Heinrich Füssli 048 – Johann Heinrich Füssli – Wikimedia Commons
[10] Schnorr, Foto: G. Grimm.
[11] Schnorr, Foto: G. Grimm.
[12] Schnorr, Foto: G. Grimm.
[13] Schnorr, Foto: G. Grimm.
[14] Lauffer, Wikimedia commons: Emil Lauffer – Kriemhild‘s Complaint – Category:Emil Lauffer – Wikimedia Commons; Urheber: Ablakok, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.
[15] Die Nibelunge. Nach der Ausgabe von Karl Lachmann; illustriert von Joseph Sattler.
Berlin: Stargardt, 1898-1904. Prachtausgabe mit 15 Illustrationen und Buchschmuck. S. 104. Digitalisat der UB Heidelberg. http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sattler1904/0106
[16] Die Nibelungen dem deutschen Volke wiedererzählt von Franz Keim. Bilder und Ausstattung von C.O. Czeschka. Verlag Gerlach und Wiedling. Wien, Leipzig o.J. [1908], S. 8.
[17] Czeschka, ebd., S. 38, 39.
[18] Standbilder aus Fritz Langs Film „Die Nibelungen“, Storch, Die Nibelungen, S. 252, 253.
[19] Schmoll, Storch, Die Nibelungen, S. 215.
[20] Bühler, Schulte-Wülwer, Das Nibelungenlied, S. 177.
[21] Illustrationen zu Rudolf Herzogs Jugendbuch „Siegfried der Held“.Berlin: Ullstein 1912, 2. Aufl. 1920, S. 32.
[22] Stassen, Wolzogen, S. 19.
[23] Stassen, Herzog, S. 45.
[24] Stassen, Wolzogen, S. 25.
[25] Beckmann, zit. nach Storch, Die Nibelungen, S. 275.
[26] Ernst Kutzer: Streit der Königinnen. Sammelbild.
[27] Gerhard Aick: Deutsche Heldensagen. Mit Zeichnungen von Willy Widmann. Wien, S. 113.
[28] Heiko Sakurai: comic (burg-prunn.de)
i Ulrich Schulte-Wülwer: Das Nibelungenlied in der deutschen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Gießen 1980, S. 160.
ii Zitiert wird nach der Ausgabe: Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. von Helmut de Boor. 18. Aufl. Wiesbaden 1965. Die Übersetzung stammt von Karl Simrock, der von Auflage zu Auflage Änderungen vorgenommen hat. Das Nibelungenlied. Übersetzt von Karl Simrock. Neunzehnte, verbeßerte Auflage. Stuttgart 1868. „Da spähten mit den Augen, die oft gehört vorher, / Daß man also Schönes gesehen nimmermehr / Als die Frauen beide: das fand man ohne Lug. / Man sah an ihrer Schöne auch nicht den mindesten Trug. //
Wer Frauen schätzen konnte und minniglichen Leib, / Der lobtʼ um ihre Schöne König Gunthers Weib; / Doch sprachen da die Weisen die es recht besehn, / Man müße vor Brunhilden den Preis Kriemhilden zugestehn.“
iii „Es wuchs in Burgonden solch edel Mägdelein, / Daß in allen Landen nichts schöners mochte sein. / Kriemhild war sie geheißen, und ward ein schönes Weib […].“
Die Minnigliche lieben brachte keinem Scham; […] / Schön war ohne Maßen ihr edler Leib zu schaun; / Die Tugenden der Jungfrau zierten wohl alle Fraun.“
iv Ursula Schulze: Amazonen und Teufelinnen. Darstellungsmodelle für Brünhild und Kriemhild im Nibelungenlied. In: Leonore = Fidelio. Die Frau als Kämpferin, Retterin und Erlöserin im (Musik-)Theater: Hrsg. von Silvia Kronberger und Ulrich Müller. Salzburg 2004, S. 104-116. Schulze betont das Dämonische und Zerstörerische im Frauenbild des Nibelungenlieds.
v Johann Jakob Bodmer: „Die Rache der Schwester“. In: Calliope Bd. 2, 1767, S. 309-372.
vi Abbildung bei Wolfgang Storch (Hrsg.): Die Nibelungen. Bilder von Liebe, Verrat und Untergang. München 1987, S. 129.
vii Schulte-Wülwer, Das Nibelungenlied, S. 14.
viii Federzeichnung Kriemhild rühmt vor Brunhild ihren Gemahl Siegfried (1805) und Bleistiftzeichnung Der Streit der Königinnen (1805), Storch, S. 131.
ix Zur Kleidermode vgl. Gert Schiff: Füssli: „Sivrit, ein beßrer Achilleus“. In: Storch, Die Nibelungen, S. 125-139, hier S. 128-130. „Entscheidend ist die unerhörte Vertiefung und Verdichtung, die Füssli Kriemhilds Schmerz und Rache zu geben vermag; außerdem, daß es ihm in diesen, den wichtigsten Blättern der Folge gelingt, eine Welt zu schaffen, die zwar dem Zeitgeist und Zeitgewand der Nibelungen auch nicht im mindesten Rechnung trägt, dafür aber in sich vollkommen schlüssig und von hohem, die Phantasie bezwingendem Reiz ist. Anders ausgedrückt: Füssli erzielt hier mit nur ihm eigenen Mitteln eine bruchlose Einheit des Stils. […] Die Kammerfrauen der Königinnen tragen wie diese selbst die hochgegürteten Tuniken der Empirezeit mit den in England im Zuge des >Gothic Revival< aufgekommenen, elisabethanischen geschlitzten Schulterpuffen; in den Haartrachten folgen sie mit hochgebundenen Knoten und in die Stirn fallenden Lockenrollen der letzten Mode von 1805. Ja, in dem bizarrsten Blatt der Folge trägt Kriemhild gar ein Gewand, das mit dem frackähnlichen Caraco und dem à la polonaise gerafften Überkleid auf die siebziger und achtziger Jahre zurückgreift, sich mit dem Fichu mit Halskrause und der genialischen Windstoßfrisur aber wiederum auf der Höhe der modischen Neuerungen des Entstehungsjahrs 1807 hält.“
x Siegfried vor Kriemhilde kniend (um 1807), abgebildet bei Christoph Becker: Johann Heinrich Füssli. Das verlorene Paradies. Stuttgart 1997, S. 116.
xi Ebd., S. 131-134.
xii Johann Heinrich Füssli: Sämtliche Gedichte. Hrsg. von Martin Bircher und Karl S. Guthke. Zürich 1973, S. 95.
xiii Schulte-Wülwer, Das Nibelungenlied, S. 14.
xiv Storch, Die Nibelungen, S. 132.
xv Ebd.
xvi Kriemhild bei der Totenwache für Siegfried von Verkörperungen ihrer Selbstanklagen heimgesucht (1805),Johann Heinrich Füssli 045 – Johann Heinrich Füssli – Wikimedia Commons. Abbildung auch bei Storch, Die Nibelungen, S. 136.
xvii Kriemhild wirft sich auf den toten Siegfried (1817): Johann Heinrich Füssli 046 – Johann Heinrich Füssli – Wikimedia Commons; Kriemhild hält Totenwache für Siegfried (1805): Füssli – Kriemhild hält Totenwache für Siegfried, SZ Füssli 19 – Category:Drawings by Johann Heinrich Füssli – Wikimedia Commons. Abbildung auch bei Storch, Die Nibelungen, S. 134.
xviii Gert Schiff, Füssli, in: Storch, Die Nibelungen, S. 132.
xix Siegfrieds Abschied (1843), Siegfrieds Abschied – Category:Paintings by Julius Schnorr von Carolsfeld – Wikimedia Commons
xx Abbildung bei Storch, Die Nibelungen, S. 147.
xxi Schulte-Wülwer, Das Nibelungenlied, S. 96.
xxii Ebd., S. 96.
xxiii Ebd., S. 162. Die Originalausgabe: Die Nibelunge. Illustriert von Joseph Sattler. Berlin 1898-1904. Text der Hohenems-Münchener Handschrift A des Nibelungenliedes, nach der Ausgabe von Karl Lachmann. Schrift, Vollbilder und Buchschmuck von Joseph Sattler. Vgl. den Reprint Leipzig 2012, S. 59.
xxiv Die Nibelungen dem deutschen Volke wiedererzählt von Franz Keim. Bilder und Ausstattung von C.O. Czeschka. Verlag Gerlach und Wiedling. Wien, Leipzig o.J. [1908].
xxv Schulte-Wülwer, Das Nibelungenlied, S. 164-166.
xxvi Ebd., S. 174.
xxvii Ebd., S. 176.
xxviii Die Nibelungen. Des Heldenliedes beide Teile neu erzählt von Rudolf Herzog. Mit Bildern von Franz Stassen. Berlin, Wien 1913. Hier: Siegfried, der Held. Der deutschen Jugend erzählt. Mit Bildern von Franz Stassen. Berlin 1912; Der Nibelungen Not von Hans von Wolzogen mit Federzeichnungen von Franz Stassen. Berlin 1920.
xxix Das Nibelungenlied. Aus dem Mittelhochdeutschen übertragen von Günter Kramer. Mit 33 Zeichnungen von Ernst Barlach. Verlag der Nation, Berlin 1982, 2. Aufl. Verlag Werner Dausien, Hanau 1985.
xxx Ernst Piper: Ernst Barlach und die nationalsozialistische Kunstpolitik. München 1983, S. 129ff.
xxxi Max Beckmann: Kampf der Königinnen. Dazu Storch, Die Nibelungen, S. 275.
xxxii Ernst Kutzer: Streit der Königinnen am Tor des Wormser Doms. Künstlerpostkarte. Wien: Katholischer Schulverein für Österreich, [1916]. Online-Ausgabe: Karlsruhe: Badische Landesbibliothek, 2021 Digitale Sammlungen der Badischen Landesbibliothek. Graphiken. Link: Inhouse-Digitalisierung / Streit der Königinnen am Tor des Wormser Doms (blb-karlsruhe.de)
xxxiii Gerhard Aick: Deutsche Heldensagen. Mit vielen Zeichnungen von Willy Widmann. Wien, S. 113.
xxxiv Heiko Sakurai: comic (burg-prunn.de)