Martin Luthers poetische Fabeln

Vortrag von Dr. Ellen Bender

Beitrag anlässlich der Luther-Festspiele 2021

The Wolf and the Lamb, Jean-Baptiste Oudry, frühes 18. Jh.

Äsops Fabeln
Wer kennt sie nicht: die Geschichte vom ‚Raben und Fuchs‘ oder von der ‚Stadt- und der Feldmaus‘ aus deutschen Bearbeitungen von Fabeln des Äsop. Äsop war ein legendärer griechischer Dichter, der wahrscheinlich im 6. Jh. vor Christus in Kleinasien lebte. Äsops Name wurde zum Gattungsnamen für die poetische Fabel; diese wird entsprechend auch als äsopische Fabel bezeichnet. Bei den äsopischen Fabeln handelt es sich um mythische und säkulare kurze Geschichten. Handlungsträger sind surreale Tiere, Pflanzen, gar Götter, die mit menschlichem Denken, Sprache und Charaktereigenschaften ausgestattet sind.
Am Ende der kurzen Geschichte als Gleichnis für menschliche Schwächen wird eine resümierende Moral oder eine belehrende Weisheit vermittelt, oft in Form eines nachgestellten Lehrsatzes, Epimythion, genannt.
Die angesprochenen menschlichen Schwächen sind: Neid, Dummheit, Geiz, Habgier, Eitelkeit usw. Äsops Fabeln werten, urteilen, demaskieren. Schon vor 2.500 Jahren hielt der phrygische Sklave Äsop den Mächtigen fabulierend den Spiegel vor. Sie konnten ihn nicht bestrafen, er erzählte ja nur von Tieren…..

Überlieferung und Rezeption
Äsops Fabeln haben sich in Prosaform lange nur in mündlicher Überlieferung erhalten; in metrischen Bearbeitungen sind sie uns bei Phaedrus, Babrios und Avianus aus dem späten 1. Jh. nach Christus bekannt.
Die Fabeln Äsops waren in den mittelalterlichen lateinischen Klosterschulen ein häufig verwendeter Lesestoff. Nach Erfindung des Buchdrucks erschien eine Vielzahl von Ausgaben der Äsop-Fabeln. Wegen seiner qualitätvollen Holzschnittillustrationen galt Heinrich Steinhöwels 1476 in Ulm erschienener Aesop als herausragende Edition. Der sogenannte Ulmer Aesop enthielt alle damals bekannten Fabeln Äsops. Die 190 prächtigen Holzschnittillustrationen dazu werden dem Meister des Ulmer Chorgestühls zugeschrieben. Steinhöwel ließ 1480 dem lateinischen Text eine von ihm gefertigte deutsche Übersetzung folgen, den ‚deutschen Esopum‘, auf den sich Martin Luther (1483-1546) bezog. Im 17. und 18. Jahrhundert belebten Jean de la Fontaine (1621–1695) und Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) die Fabeln Äsops neu. Noch heute finden wir Äsops Fabeln in vielen Redewendungen, z.B. ‚sich mit fremden Federn schmücken‘ oder ‚kein Wässerchen trüben können‘.

Martin Luthers Fabelbearbeitung
In der Fabelforschung hat man Martin Luthers Bearbeitung der äsopischen Fabeln nur geringe Beachtung geschenkt; die Literatur ist entsprechend dürftig.1
Um 1530 bearbeitete der Reformator während seines Aufenthaltes auf der Veste Coburg die Fabeln in deutscher Sprache. Er hat auf die Motive, das Figureninventar (z.B. Wolf und Lamm) und die Bauform der äsopischen Fabeln, die er wegen der in ihnen enthaltenen Lebensweisheiten schätzte, zurückgegriffen. Seine Wertschätzung brachte er in einer ‚Vorrede‘ seiner Arbeit am Äsop zum Ausdruck, wenn er das Buch neben die Bibel stellte und schrieb: „…von äußerlichem Leben in der Welt zu reden, wüsste ich außer der Heiligen Schrift nicht viel Bücher, die diesem [Fabelbuch] überlegen sein sollten, so man Nutz, Kunst und Weisheit […] wollt ansehen.“2 Als Vorlage stützte sich Luther dabei weniger auf die griechischen und lateinischen Sammlungen des Äsop, sondern auf die deutsche Übersetzung von Heinrich Steinhöwel, die er bereinigen wollte, weil er sie derb und zotig fand.
Luther hat also die vorhandene Übersetzung neu bearbeitet. Seine Bearbeitung bevorzugt eine auf das Wesentliche verknappte Erzählung in einfacher Sprache. Die Fabel sollte volksnah und bildhaft sein, um es dem gemeinen Volk zu erleichtern, sich mit der darin enthaltenen Lebenserfahrung zu beschäftigen. Am 8. Mai 1530 schrieb er in der zu seiner Zeit üblichen deutsch-lateinischen Mischung an Wenzelaus Link: „Ich habe mir vorgenommen, auch die Fabeln des Äsop für das jugendliche und ungebildete Volk („pro puerili et rudi vulgo“) zu bearbeiten, damit sie den Deutschen zu einigem Nutzen dienen.“3 Luthers Fabeln erschienen erstmals 1557 in der Jenaer Lutherausgabe unter dem Titel „Etliche Fabeln aus Esopo / von D.M.L. verdeudscht / sampt einer schönen Vorrede / von rechtem Nutz und Brauch desselben Buchs / jedermann wes Standes er auch ist / lustig und dienlich zu lesen. Anno M.D.XXX“. Luthers Arbeit am Äsop blieb aber fragmentarisch und unvollendet. –
Über 300 Jahre später entdeckte Richard Reitzenstein Luthers Handschriften in der Vatikanischen Bibliothek. Sie wiesen verschiedene Bearbeitungsstadien und korrigierende Einträge auf, die Luthers Formulierungsanstrengungen demonstrierten. Laut Reinhard Dithmar hatte Luther nämlich „…wie die Handschriften und ihre Überarbeitungen zeigen – erhebliche Mühe…..und versuchte bis zur siebten Fabel eine ethische Systematik“, die er aber schließlich aufgab.4 Seine Systematik bestand darin, dass er jede der ersten sechs Fabeln (von insgesamt 13 des Äsop) mit einer verwerflichen menschlichen Eigenschaft betitelte: Torheit (I), Hass (II), Untreue (III), Neid (IV), Geiz (V), Frevel, Gewalt (VI). Vielleicht wollte der Reformator einen Katalog von Lastern aufstellen, für die die Tierfabeln als Demonstrationsobjekte dienen sollten. Einen Spiegel dieser ‚lasterhaften‘ Welt, in der die christlichen Tugenden geradezu durch das Gegenteil verdrängt seien, wollte Luther durch die Tiermetapher den Menschen vor Augen führen. Und seine Fabeln sollten kleine Lehrgeschichten sein, um sich in dieser Welt zurechtzufinden und nicht zu straucheln.

Luthers Fabelverständnis
Worum geht es in Fabeln? Fabeln sind Klartext im Kostüm. Sie nennen Tiere und meinen Menschen. Fabeln weisen Wege, wie man durch die Welt kommt – möglichst ungeschoren und nicht als schwaches Schaf.
Ja, die Fabeltiere. Ihnen werden – in einer typologischen Sehweise – selten positive Eigenschaften zugeschrieben, eher simpel-missliche, die sie stigmatisieren. Der Rabe ist in der Fabel eitel und töricht, der Fuchs voll Hinterlist, der Wolf fressgierig, geizig, ein blutgieriger Tyrann, das Lamm meint den bescheidenen, gutgläubigen Bürger, der Esel ist träge und dumm, der Hase ein Hasenfuß und allzeit geeignet zum Verzehr durch König Löwe; der ist das Fabeltier der Macht und des Hochmuts schlechthin. – Hat sich die Gattung Fabel in unserer Gesellschaft überholt? Tatsächlich wirken sie liebenswert antiquiert, diese überkommenen Traktate von einer menschenhaft handelnden Tier-Menagerie. Was lehren Löwe, Esel, Fuchs in unserer technologisch hochgepowerten Welt? Doch ist auch diese, besonders für die Kinder, die Welt der Fabeln. Ihre Botschaft lautet, dass die Welt so sei und die Menschendinge blieben wie sie sind. Und wenn man das bedenkt, ist man rasch bei einer Fabel Martin Luthers, beispielsweise bei der berühmten Fabel

Hass (II):
„Vom Wolf und Lämmlein“5
„Ein Wolf und Lämmlein kamen von ungefähr [Luther: on gefer = im Sinne von ‚ohne Gefahr‘, weil weit weg] beide an einen Bach zu trinken. Der Wolf trank oben am Bach, das Lämmlein aber fern unten. Da der Wolf des Lämmleins gewahr ward, lief er zu ihm und sprach: „Warum trübest du mir das Wasser, dass ich nicht trinken kann?“ Das Lämmlein antwortet: „Wie kann ich dir das Wasser trüben, trinkst du doch über mir und möchtest es mir wohl trüben?“ Der Wolf sprach: „Wie? Fluchst du mir noch dazu?“ Das Lämmlein antwortet: „Ich fluche nicht.“ Der Wolf sprach: „Ja, dein Vater tat mir vor sechs Monden auch ein solch’s.“ Das Lämmlein antwortet: „Bin ich doch dazumal [noch] nicht geboren gewest, wie soll ich [es] meinem Vater entgelten?“ Der Wolf sprach: „So hast du mir aber meine Wiesen und Äcker abgenaget und verderbet.“ Das Lämmlein antwortet: „Wie ist das möglich, habe ich doch [noch] gar keine Zähne?“ „Ey“, sprach der Wolf, „und wenn du gleich viel ausreden und schwätzen kannst, will ich heute nicht ungefressen [d.h. ohne Fressen] bleiben.“ Und würget also das unschuldige Lämmlein und fraß es.
Lehre.
Der Welt Lauf ist: Wer fromm sein will, der muss leiden, sollt man eine Sache vom alten Zaun brechen [d.h. ‚leichtfertig Streit anfangen‘]. Denn Gewalt geht vor Recht. Wenn man dem Hunde zu will, so hat er das Leder gefressen [d.h., wenn man jemandem etwas anhaben will, findet sich leicht ein Grund‘].“ Luther fährt fort mit der Sentenz: „Wenn es nach dem Willen des Wolfes geht, so ist das Lamm im Unrecht.“

Ich möchte die Deutung konkretisieren: Der Wolf bemüht sich, das Lamm ins Unrecht zu setzen, um seiner Gewalttat den Anschein des Rechts zu geben. Sein Opfer, das seine Schuldlosigkeit dem Wolf gegenüber immer wieder nachweisen kann, behält Recht – und wird doch gefressen. Mit der Diminutivform ‚Lämmlein‘ unterstreicht Luther die Hilflosigkeit des Lamms – ähnlich der Machtlosigkeit des kleinen Mannes gegenüber den Mächtigen dieser Welt. Das „Ey“ des Wolfes im narrativen Teil ist die lachende Gewalt, die auch auf den Schein des Rechts verzichten kann. Das fabula docet zeigt die Exekutive und Brutalität des Mächtigen.
Luther hat solches Modellgeschehen der Fabel auch persönlich auf sich selbst bezogen, wenn er sagt: „Ich musste das Schaf sein, dass dem Wolf das Wasser getrübt hatte; Johann Tetzel [der Ablassprediger] ging frei aus; ich musste mich fressen lassen.“
Die Situation ist die Konfrontation des Schwächeren mit dem Stärkeren. La Fontaine fasst ein Jahrhundert später zusammen: „Der Starke hat immer recht.“ Der Stärkere findet immer eine Begründung, wenn er Unrecht begeht.
Weshalb habe ich diese Luther-Fabel vorangestellt? Mir missfällt die resignative Moral dieser Fabel ‚Vom Wolf und Lamm‘, die die Macht des physisch Stärkeren als unabänderlich hinnimmt. Martin Luther formuliert als Lehre aus der Fabel: „So ist der Lauf der Welt. (…) Denn Gewalt steht über dem Recht. (…) Wenn der starke Wolf es so will, ist das Lamm im Unrecht.“ Ja, so war’s zur Zeit Luthers und in Diktaturen und Oligarchien. Das gilt aber nicht für die demokratischen Gesellschaften der Neuzeit. Denn der Protest hat gelernt und aus freiem Gewissen gesprochen, den Lauf der Welt geändert, ob bei Luther, Marx, in der französischen Revolution oder in der friedlichen Revolution von 1989.
Mit dem Wort „Nein“, das Luther auf dem Reichstag in Worms sprach, beginnt die Emanzipation. Dass Luther sich 1521 in Worms einen Tag Bedenkzeit erbat, dass er zunächst taktierte, dass er durch höchste Todesängste ging in seinem Luther-Moment (!) wie Jesus im Garten Gethsemane, das macht ihn menschlich und grenzt an ein Wunder, wie er die Bedrohungen seiner Zeit und seines Lebens überstand…….

In der ‚Vorrede‘ zu seinen Bearbeitungen schreibt Luther: Für denjenigen nämlich, der die subtile Botschaft der Fabeln zu entziffern in der Lage ist, finden sich darin „die allerfeineste Lere, Warnung und Unterricht“, wie man sein Leben möglichst klug und friedlich im Umgang mit Menschen in einer von Grund auf falschen, lasterhaften Welt führen kann oder soll.6 Neben dem „Warnen“ besteht für Luther die Aufgabe dieser literarischen Kunstform im „Unterrichten“. Für Luther spielt also die Vermittlung der Fabellehre eine wichtige Rolle.
In dieser ‚Vorrede‘ nennt der Reformator zwei Zielgruppen, auf die der Lehrsatz bzw. die Didaxe anzuwenden sei.
Zum einen zielt Luther mit seiner Fabelbearbeitung auf die Schuljugend (und die wenig gebildeten Teile des Volkes) und ihre pädagogische, „erbauliche Erziehung“: „Denn wir sehen, dass die jungen Kinder und jungen Leute mit Fabeln und Merlin leichtlich bewegt und also mit Lust und Liebe zur Kunst und Weisheit geführt würden…“7 Der pädagogische Aspekt der Fabel bestehe darin, dass die Kinder und Jugendlichen die Moral der Fabel selbst herausfinden und spielerisch mit Lachen annehmen und behalten: „gleich wie in einer Mummerey oder Spiel desto lieber lerne[n] und fester behalte[n].“8 Luther betont die „liebliche Gestalt der Fabel“, ihre anschauliche Bildhaftigkeit, ihre Kürze und ihren moralischen Gehalt. – Ein offensichtlicher Vorteil der Fabel liegt in ihrer Bildhaftigkeit. Das menschliche Gehirn ist dafür eingerichtet, sich Bilder sehr leicht zu merken und Inhalte die mit Emotionen verbunden sind, leichter zu behalten. Die Beobachtung, dass gerade Kinder mit den durch die Fabel erzeugten Bildern von Tieren, die für sie eventuell auch einen emotionalen Gehalt haben, besser lernen, ist pädagogisch unumstritten. Luther empfiehlt die Fabel für den moralischen und sprachlichen Unterricht in den deutschen Schulen. Die Fabel, der die Kinder zu ihrem Ergötzen und Nutzen lauschen, diene – so Luther – der Unterhaltung und Belehrung. Idealerweise böte die Rezeption der Fabel den Familien „nützliche Kurzweil“, die sich in der gemeinsamen Übung der Fabelauslegung weiterbildeten.

Zum andern macht die Bildhaftigkeit der Fabel sie zum geeigneten Mittel der Belehrung: „Nicht allein aber die Kinder, sondern auch die großen Fürsten und Herrn kann man nicht bas betriegen zur Wahrheit und zu ihrem Nutz…“9 [d.h. kann man nicht besser zur Wahrheit betrügen, d.h. verführen, verlocken: also die Wahrheit enthüllen] als durch die Fabel. Als zweite Gruppe der Adressaten nennt Luther die regierende Obrigkeit, die großen Fürsten und Herren, denen man durch das Narrativ der Fabel als anklagender Spiegel die Wahrheit sagen könne. Nur von Narren ließen sich diese nämlich die Wahrheit gefallen. Damit kommt Luthers kritischer Fabelbearbeitung politische Bedeutung zu. Da zwar niemand die Wahrheit hören wolle, sie aber unentbehrlich sei, müsse man sie „…unter einer lustigen Lügenfarbe und lieblichen Fabeln kleiden“10 und ihnen [den Regierenden] die Wahrheit, damit sie diese doch hörten, durch den Mund von Tieren sagen lassen. – Hier lässt Luthers Fabelverständnis klar die Ansätze zu einer gesellschaftskritischen Fabeldeutung und Bewertungsweise erkennen
Was aber ist die Wahrheit? Luther versteht sie als die Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse. Luther geht es um eine Aufklärung über die ‚Schlechtigkeit‘ der Welt. Denn wo die Unwahrheit verbreitet wird, entsteht Hass. Die Fabel solle eine Einsicht vermitteln, „wie man sich im Haushalten, in und gegen die Obrigkeit und Unterthanen schicken soll, auff dass man klüglich und friedlich, unter den bösen Leuten in der falschen, argen Welt leben möge.“11 Aufgabe der Fabel sei es zu zeigen, wie diese Welt beschaffen ist, in der man sich zurechtfinden müsse.

Die kategorisierten Fabeln Luthers (Auswahl: III, I, IV, V, XIII, XII)
Weitere sechs Fabeln von Luthers Reinschrift habe ich meiner Analyse zugrunde gelegt, zunächst mit der Überschrift, dem Lemma,

Untreue (III):
„Vom Frosch und der Maus“
„Eine Maus wäre gern über ein Wasser gewest [gefahren] und konnte nicht und bat einen Frosch um Rat und Hilfe. Der Frosch war ein Schalk und sprach zur Maus: „Binde deinen Fuß an meinen Fuß, so will ich schwimmen und dich hinüberziehen.“ Da sie aber aufs Wasser kamen, tauchet der Frosch hinunter und wollt die Maus ertränken. Indem aber die Maus sich wehret und arbeitet, flog ein Weihe [Greifvogel] daher und erhaschet die Maus, ziehet den Frosch auch mit heraus und frisset beide.
Lehre.
Siehe dich für, mit wem du handelst. Die Welt ist falsch und untreu. Denn welcher Freund den andern vermag [zu betrügen], der steckt ihn in [den] Sack. Doch schlägt Untreue allzeit ihren eigenen Herrn, wie dem Frosch hier geschieht.“

Luthers Bearbeitung dieser Fabel zielt auf Kürze und Dramatik der Handlung, die er durch wörtliche Rede verstärkt. Formal lässt sich die Fabel – wie alle anderen Luthers – in zwei Teile gliedern, in den Erzähltext der Handlung, das Narrativ, und in das Epimythion, die folgende Lehre, die das Handlungsgeschehen kommentiert und
mögliche Deutungen anbietet.
Dem Text vorangestellt ist eine kategorisierende Überschrift, das Lemma, hier: „Untreue“. Die Lehre wird – und das ist ein typisch lutherischer Zug – in bildhafte Metaphern und lehrreiche Sprichwörter gekleidet. Die beiden ursprünglichen Sentenzen „trew ist mislich“, d.h. ‚Vertrauen kann gefährlich sein‘ und „Traw wol reyt das pferd weg“, d.h. sprichwörtlich ‚Trau nicht, so bleibt das Ross im Stall‘, ersetzt Luther in der Reinschrift der Fabel durch das den Sinn der Fabel besser treffende Sprichwort „Ein Freund, der den andern betrügt, der steckt ihn in den Sack“. Dieses (1.) Sprichwort seiner Lehre zu „Untreue“ ergänzt Luther durch eine zweite Lebensregel: (2.) „Doch schlägt Untreue allzeit ihren eigenen Herrn, wie dem Frosch hier geschieht.“
Die Maus ist bezüglich ihres Ziels, das Wasser zu überqueren, ängstlich und hilflos, da sie es nicht kann. Sie macht sich abhängig vom Frosch, der ihr verspricht, sie ans andere Ufer zu bringen. Der Frosch ist ein Schalk; mit Schalk meint Luther ein boshaftes Wesen, listig und untreu. In der Handschrift dieser Fabel schreibt Luther zum Frosch: „hemisch und der Maus feind“. Er hat die Maus in seiner Hand und den ‚untreuen‘ Plan, sie zu ertränken, bemerkt aber nicht den Raubvogel, der sich den beiden nähert. Die Boshaftigkeit des Frosches im Sinne des Lemmas „Untreue“ verschärft Luther durch das in wörtlicher Rede gegebene Versprechen des Frosches: „Binde deinen Fuß an meinen Fuß, so will ich schwimmen und dich hinüberziehen.“ Der nächste Satz schildert den Mordversuch. Das Verhalten des Frosches erweist sich als untreu gegenüber dem
Versprechen, das er der Maus gegeben hat. Die Gegenwehr der Maus ist zu schwach. Da die Maus ein potentielles Opfer für den Falken darstellt, der sie verspeisen will, heißt es nun: ‚Mitgefangen, mitgehangen!‘ In einer Welt, in der der Kampf aller gegen alle Spielregel ist, schlägt „Untreue ihren eigenen Herrn“, wenn der Frosch letztlich vom Raubvogel mitgefressen wird.
Luther stellt in seiner ‚Vorrede‘ diesen Vergleich an: „Item, wenn sich ein Knecht an den andern hängt und sich verführen lässt, so geht es ihm wie dem Frosch an der Maus gebunden, in der dritten Fabel, die der Weihe [Greifvogel] alle beide fraß.“12 In den tierischen Verhältnissen spiegelten sich menschliche Verhältnisse, die der Mensch objektiv betrachten und daraus Einsicht gewinnen könne.
Die Warnung Luthers zielt auf Opfer und Täter. Die einfältige Maus wird vor voreiliger Vertrauensseligkeit gewarnt. Gleichermaßen wird auch der Frosch gewarnt, sich redlich zu verhalten, da alles Übel, was man dem andern antut, auf einen selbst zurückfällt. Hier würde auch das Sprichwort passen: „Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“. Und: Wer sich einem anderen gegenüber überlegen fühlt, muss sich im Klaren darüber sein, dass es durchaus noch Stärkere gibt.

Torheit (I):
„Vom Hahn und der Perle“
„Ein Hahn scharret auf dem Mist und fand eine köstliche Perle. Als er dieselbige im Kot so liegen sah, sprach er: „Siehe, du feines Dinglein, liegst hier so jämmerlich. Wenn dich ein Kaufmann fände, der würde deiner froh werden und du würdest zu großen Ehren kommen. Aber du bist mir und ich dir, kein [nicht] nütze. Ich nehme ein Körnlein oder Würmlein und ließe einem alle Perlen. Magst bleiben, wie du liegst.
Lehre.
Diese Fabel lehret, dass dies Büchlein, bei Bauern und groben Leuten unwert ist, wie denn alle Kunst und Weisheit bei denselbigen veracht ist. Wie man [auch] spricht: Kunst gehet nach Brot. Sie warnet aber, dass man die Lehre nicht verachten soll.“

Äsops Epimythion lautet: „Das Stücklein Brot, das dich ernährt, ist mehr als Gold und Perlen wert.“
Welche Moral zeigt uns nun aber Luthers Lehre? Interessanterweise gibt es zu dieser Fabel in der Manuskriptfassung zwei Epimythien, von denen eins in einer Mischung aus Latein und Deutsch geschrieben ist. „Malum, Malum dicit omnis emptor.13 Wer Christum nicht hat, der begeret sein sicut gentes. Wer yhn hat, der creuzigt yhn und will yhn nicht wie die Juden…“ Hier bezieht Luther die Fabel auf die Juden, die Jesus kreuzigten, weil sie ihn nicht als Messias erkannten – wie der Hahn die Perle nicht als Schatz erkennt. In der Reinschrift und Druckfassung der Fabel verzichtet Luther allerdings auf diese religiös motivierte Unterweisung. Auch verändert Luther den Lehrsatz der Urschrift, indem er nicht nur die ‚groben Leute‘, die unwissenden, ungebildeten Menschen, zur Zielscheibe macht, vielmehr fügt er in der Reinschrift zusätzlich die „baurn“ ein: „Diese Fabel lehret, dass dies Büchlein bei Bauern und groben Leuten unwert ist […]“. Der Vergleich von Urschrift und Reinschrift lässt eine Verstärkung des sozialkritischen Aspekts erkennen. So sind es zum Schluss die Bauern in ihrer Torheit, die das ihnen erreichbare Gut achtlos liegenlassen. Sie nimmt diese Fabel aufs Korn.
Im zweiten Epimythion wird die Aussage komprimiert: „Kunst gehet nach Brot…“14 Den Wert, den eine solche Perle beispielsweise für Kaufleute besitzt, hat sie nicht für den Hahn, der für die Landbevölkerung, für die „Bauern und groben Leute“ steht. Für diese ist in erster Linie der Lebensunterhalt, das Beschaffen von Brot, wichtig.
Eine vergleichbare Situation träfe die Metapher „Perlen vor die Säue werfen“. Man könnte aber auch sagen, dass die Perle, die hier wohl als Symbol für ‚die schönen Künste‘ und ‚die Weisheit der klugen Gedanken‘ steht, einen relativen Wert besitzt, der sich aus dem jeweiligen Lebenskontext ergibt. Am Ende mahnt Luther, „dass man die Lehre aber auch nicht verachten solle“, dass also sowohl Broterwerb als auch Kunst ihren Wert haben, der jedoch von den jeweiligen Präferenzen abhängt.
Werfen wir einen kurzen Blick auf die Fabel „Le Coq et la Perle“ des Jean de la Fontaine im 17. Jh. La Fontaine hat die Fabel umgedichtet, das Personal wird ironisiert. Dort trägt der Hahn die Perle schnurstracks zum Juwelier und will ein Hirsekorn dafür. Er handelt genauso wie ein Dummkopf, der einen wertvollen Codex erbt, ihn zum Buchhändler trägt und froh ist, wenigstens einen kleinen Dukaten dafür zu bekommen. Der eigentliche Witz und die tiefere Ironie sind, dass der Hahn und der Dummkopf durch ihre klug gemeinten Einfälle ihre Unfähigkeit, höhere Werte zu schätzen, erst recht enthüllen, ja, dass erst durch ihre Pfiffigkeit ihre Dummheit ans Licht kommt.

Neid (IV):
„Vom Hund und Schaf“
„Der Hund sprach [verklagte] ein Schaf vor Gericht um Brot an, das er ihm geliehen hätte. Da aber das Schaf leugnete, berief sich der Hund auf Zeugen. Die musste man zulassen. Der erste Zeuge war der Wolf, der sprach: „Ich weiß, dass der Hund dem Schaf Brot geliehen hat.“ Der Weihe sprach: „Ich bin dabei gewesen.“ Der Geier sprach zum Schaf: „Wie kannst du so unverschämt leugnen?“ Also verlor das Schaf seine Sache und musste mit Schaden zur uneben [ungünstigen] Zeit seine Wolle angreifen [d.h. Wolle von seinem Rücken hergeben], damit es das Brot bezahlt, das es nicht schuldig war.“

Das Narrativ der Fabel berührt hier die Lehre der Bibel, denn die biblische Formulierung des 8. Gebots „Du sollst nicht Falsch gegen deinen Nächsten aussagen“ bezieht sich auf die sehr konkrete Situation einer Gerichtsverhandlung.
Was schreibt nun Luther in seiner Lehre?
„Hüte dich vor bösen Nachbarn, oder schicke [rüste] dich mit Geduld, willst du bei [solchen] Leuten gewinnen. Denn es gönnet niemand dem andern was Guts. Das ist der Welt Lauf.“
Das könnte man auch so formulieren: Wenn sich Kläger, Richter und Zeugen gegen jemanden vereinigt haben und ihn verleumden, so hilft die Unschuld nicht. Was bleibt da noch ein sittliches Verhalten anzumahnen, wenn gerade dem Gerechten und Braven Böses widerfährt – wie dem Schaf vor Gericht, das noch bezahlen muss, nur weil es sein Recht haben wollte?
Luther geht es hier aber um mehr als um einen Rechtsstreit. Weit über den narrativen Teil seiner Fabel hinaus, betrifft die Lehre allgemein die Beziehungen zwischen den Menschen. Er zeigt die Alternative auf, sich entweder vor den „bösen“ Menschen zu hüten oder, sofern man mit ihnen zusammenleben muss, Geduld mit ihnen zu haben.

Geiz (V):
„Vom Hund im Wasser“
„Es lief ein Hund durch einen Wasserstrom und hatte ein Stück Fleisch im Maul. Als er aber den Schemen [Spiegelbild] vom Fleisch im Wasser siehet, wähnet er, es wäre auch Fleisch und schnappet gierig danach. Da er aber das Maul auftat, entfiel ihm das Stück Fleisch, und das Wasser führet‘s weg. Also verlor er beide, das Fleisch und den Schemen.
Lehre.
Man soll sich begnügen lassen an dem, was Gott gibt. Wer das wenige verschmähet [wem es zu gering ist], dem wird das Große nicht [bekommt auch nicht mehr]. Wer zu viel haben will, der behält zuletzt nichts. Mancher verliert das Gewisse über dem Ungewissen.“

In seiner ‚Vorrede‘ gibt der Reformator ein Beispiel für die von ihm gewünschte Rezeption: Was die fünfte Fabel, vom Hund, der das Stück Fleisch im Maul zugunsten des Spiegelbildes fallen lässt und leer ausgeht, bedeutet: „Wenn einem Knecht oder Magd zu wohl ist, und will’s bessern, so geht’s ihm wie dem Hund, dass sie das Gute verlieren und jenes Bessere nicht kriegen.“15 Das Lemma „Geiz“ ist hier im frühneuhochdeutschen Sinn von „Gier“ gemeint. Diese Bedeutung kommt auch in der Sentenz des ‚fabula docet‘ zum Ausdruck: „Wer zu viel haben will, der behält zuletzt nichts. Man soll sich begnügen mit dem, was Gott gibt.“ Das muss nicht als theologische Aussage verstanden werden, es gehört zur Lebensweisheit.16 Luther ergänzt: „Wer das wenige verschmähet, dem wird das Große nicht“, ein Sprichwort, das den Fabelsinn nicht ganz trifft, das Luther aber wiederholt erwähnt und in seinem Zimmer an die Wand hinter dem Ofen geschrieben hat.17

(XIII):
„Vom Raben und Fuchs“
„Ein Rabe hatte einen Käse gestohlen und setzte sich auf einen hohen Baum und wollte [den Käse ver-] zehren. Als er aber seiner Art nach nicht schweigen kann, wenn er isset, höret ihn ein Fuchs über dem Käse kecken [krächzen] und lief zu [ihm] und sprach: „Oh, Rabe, nun habe ich mein Lebtag keinen schöneren Vogel von Federn und Gestalt gesehen, denn du bist. Und wenn du auch so eine schöne Stimme hättest zu singen, so sollte man dich zum König krönen über alle Vögel.“ Den Raben kitzeln solches Lob und Schmeicheln. Er fing an und wollte seinen schönen Gesang hören lassen. Als er den Schnabel auftat, entfiel ihm der Käse. Den nahm der Fuchs behänd, fraß ihn und lachet über den törichten Raben.
[Lehre:]
Hüte dich, wenn der Fuchs den Raben lobt. Hüte dich vor Schmeichlern, so schinden und schaben etc.“ [D.h. die ausplündern und betrügen, also anderen Schaden zufügen.]

Der Fuchs erringt den Käse durch Tücke und Schmeichelei. So bei Luther, so bei La Fontaine. Der deutsche Fuchs entfernt sich mit höhnischem Lachen, der französische Fuchs würdigt den geprellten Raben 100 Jahre später immerhin einer pädagogischen Ansprache: “Dank für die Bescherung! / Von mir nimm dafür die Belehrung: / Ein Schmeichler lebt von dem, der auf ihn hört. / Die Lehre ist gewiss den Käse wert.“/ Der Rabe saß verdutzt und schwor: / Das käm‘ ihm nicht noch einmal vor. – Lessing verfasst im 18. Jahrhundert unter dem Titel Der Rabe und der Fuchs eine ironische Abwandlung des Themas, in der die Schmeichelei nicht etwa belohnt, sondern bestraft wird: Da das vom Raben fallen gelassene Stück Fleisch [nicht: Käse] vergiftet war, musste der unwissende Fuchs schließlich qualvoll daran verenden.
Die Fabel vom Raben und Fuchs zählt zu den bekanntesten der äsopischen Fabeln. Luther versteht sie als Warnung vor Schmeichlern. Daraus kann die Lehre gezogen werden, stets zu prüfen, ob die lobenden Worte vielleicht mit Hintergedanken gesprochen wurden, oder aber zu erkennen, dass man, wenn man sich bei anderen einschmeichelt, Schaden davontragen kann. Dies ist jedoch keineswegs die einzige Interpretation. Der Prediger Odo von Cheriton (1185-1247) gibt der Geschichte eine moraltheologische Deutung: die Tugend (zuvor: das Stück Käse) verliert, wer sich vom Teufel (zuvor: vom Fuchs) zum Streben nach eitlem Ruhm, symbolisiert durch das Singen, verführen lässt.
Die Fabel hat kulturelle Bedeutung. Darstellungen und Verweise finden sich in zahlreichen Kunstwerken, in Literatur, Malerei, in handgewirkten Teppichen. So taucht beispielsweise in der Randborte des Teppichs von Bayeux um 1170 eine Darstellung der Fabel auf. Gezeigt wird der Moment, in dem der Rabe den Schnabel öffnet und der Käse herausfällt. Es gibt auch eine orientalische Fassung. – Die Moral vom Fuchs und dem Raben wird bis heute erzählt. So gibt es eine TV-Folge der ‚Sesamstraße‘, in der diese Fabel umgesetzt wird.

(XII):
„Die Stadtmaus und die Feldmaus“
„Eine Stadtmaus ging spazieren und kam zu einer Feldmaus, die tat ihr gütlich mit Eicheln, Gerste, Nüssen und womit sie konnte. Aber die Stadtmaus sprach: „Du bist eine arme Maus, was willst du in Armut leben. Komm mit mir, ich will dir und mir genug schaffen mit allerlei köstlicher Speise.“ Die Feldmaus zog mit ihr hin in ein herrlich schönes Haus, darin die Stadtmaus wohnet. Und sie gingen in die Kemnoten [Vorratskammer], die war voll auf von Brot, Fleisch, Speck, Würsten, Käse und allem. Da sprach die Stadtmaus: „Nun iss und sei guter Dinge, solche Speise habe ich täglich im Überfluss.“ Indes kommt der Kellner [Küchen- und Kellermeister] und rumpelt mit Schlüsseln an der Tür. Die Mäuse erschraken und liefen davon. Die Stadtmaus fand bald ihr Loch, aber die Feldmaus wusste nirgends hin und lief die Wand auf und ab und war in Lebensgefahr [auf den Tod gefasst]. Da der Kellner wieder hinaus war, sprach die Stadtmaus: „Es hat nun keine Not [mehr], lass uns guter Dinge sein.“ Die Feldmaus antwortete: „Du hast gut sagen, du wusstest dein Loch fein zu treffen, dieweil ich schier vor Angst gestorben bin. Ich will dir sagen, was die [meine] Meinung ist. Bleibe du eine reiche Stadtmaus und friss Würste und Speck. Ich will ein armes Feldmäuslein bleiben und meine Eicheln essen. Du bist keinen Augenblick sicher vor dem Kellner, solches alles bin ich frei und sicher in meinem armen Feldlöchlein.“
[Lehre:]
In großen Wassern sehet man große Fische. Aber in kleinen Wassern sehet man gute Fischlein. Wer reich ist, hat viele Neider, Sorge und Gefahr.“

Die Moral dieser Fabel von der Stadtmaus und der Feldmaus ist, man soll mit dem zufrieden und glücklich sein, was man hat. Was nütze ein Leben, in dem man alles besitzt, dafür jedoch Sorgen und Gefahr einen ständig begleiten. Genügsamkeit und Zufriedenheit machten glücklicher als Reichtum und Überfluss unter großen Sorgen. – Ob diese Lehre in unserer heutigen Konsumgesellschaft noch Rezipienten findet? Vielleicht doch: Nach einer langen Periode des Materialismus, in der mehr Einkommen mehr Konsum, mehr Reichtum bedeutete, zeichnet sich eine Tendenz ab, die das immer „Nochmehr“ durchbricht. Lebenszufriedenheit wird heute nicht unbedingt aus materiellen Dingen, die konsumiert werden wollen, gezogen. Das Streben nach noch mehr Besitz und Konsum im Überfluss macht nicht zwingend glücklicher. Übrigens: Die „Eicheln, Gerste, Nüsse“ der Feldmaus: Sie könnten symbolisch auch für ein ‚veganes Leben‘ stehen.
Zurück zur Lutherzeit. Das „betriegen zur Wahrheit“, Verlocken bzw. (Ver)-Führen zur Wahrheit und damit das Enthüllen, wie der Reformator es in seiner ‚Vorrede‘ nennt, ist Luthers Anliegen bei seiner äsopischen Fabelbearbeitung.18 Denn die weltliche Wirklichkeit, wie Luther sie in seinen Lehrgeschichten zeichnet, ist unchristlich, hart, von Grund auf schlecht: „es gönnet niemand dem andern was Guts. Das ist der Welt lauff.“ Die Sicht auf eine Gesellschaft voller ‚Laster‘ findet sich auch in den Überschriften, die Luther seinen ersten sechs Fabeln gibt. Angesichts der Verworfenheit des äußeren Lebens in Form von Not, sozialem Elend, Unrecht, Missgunst könne es die Fabel leisten, den Menschen die Augen zu öffnen, die Wahrheit zu sehen und damit auch Einsicht zu gewinnen in die realen sozialen und moralischen Zustände in der menschlichen Gesellschaft. Luther geht es nicht um die Vermittlung von Normen für ein christliches Verhalten gemäß der reformatorischen Lehre,19 vielmehr setzt er didaktische und sozialpolitische Akzente. Die Fabel eignet sich als Spiegel der Welt.

Luther bearbeitet die Fabeln in der Absicht, die tatsächlichen Verhältnisse des Lebens erkennen zu lassen, insofern ist die mitteilenswerte Wahrheit eine gesellschaftliche. Er erklärt sie aber nicht aus der Sicht eines Weltverbesserers. Er nutzt die Fabel nicht agitatorisch als Angriffswaffe im religionspolitischen Kampf gegen die katholische Kirche, sondern versteht sie als Ausdruck der Sozialkritik, deren Lehrgehalt sich mit den Lehren der höchsten Autorität, der Bibel, deckte.20
Luther ist pragmatisch und ambivalent. Die Fabeln empfehlen keine lutherischen Heldenposen, sondern Realismus und Klugheit gemäß dem Jesuswort21 : „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Darum seid klug wie die Schlangen…“

  1. Klaus Doderer, Über das „betriegen zur Wahrheit“. Die Fabelbearbeitungen Martin Luthers, in: Peter Hasubek, Fabelforschung, Darmstadt 1983, S. 207-223, hier S. 207
  2. Martin Luther, ‚Vorrede‘ zu seinen Fabelbearbeitungen, 1530, in: Reinhard Dithmar, Martin Luthers Fabeln und Sprichwörter, Darmstadt, 1989, 2., korrigierte Auflage 1995, S. 157-163, hier S. 157
  3. WA 5,309, Übersetzung von Reinhard Dithmar, Martin Luthers Fabeln und Sprichwörter, S. 14
  4. ebenda, S. 15
  5. Text nach: Martin Luther – Fabeln mit Bildern von Andreas Weißgerber (Künstler aus Leipzig) und einem Essay von Christoph Dieckmann, Altenburg 2011, Edition Akanthus
  6. Martin Luther, ‚Vorrede‘, in: Reinhard Dithmar, Luthers Fabeln und Sprichwörter, S. 157 f.
  7. ebenda, S. 158 f.
  8. ebenda, S. 161
  9. ebenda, S. 159
  10. ebenda, S. 160
  11. Doderer, a.a.O., S. 218
  12. Dithmar, a.a.O., S. 162 f.
  13. „Böse, böse!“ spricht man, wenn man’s hat; aber wenn’s weg ist, so rühmt man es dann (Sprüche Salomons)
  14. Vgl. Luthers Sprichwörtersammlung Nr. 480: „Kunst gehet noch brod“; das bedeutet: „Kunst ist brotlos, dient nicht im auseichenden Maß zum Lebensunterhalt, [geht betteln]. Die Künstler müssen sich um ihr Auskommen sorgen.“, Dithmar, a.a.O., S. 26
  15. Luthers ‚Vorrede‘, in: Dithmar, a.a.O., S. 162
  16. Vgl. Klaus Düwel und Jörg Ohlemacher, „das ist der wellt lauf.“ Zugänge zu Luthers Fabelbearbeitung, in: Martin Luther, hrsg. von Heinz Ludwig Arnold, München 1983, S. 121-143, hier S. 138
  17. Luther nutzte die Fabel ‚Vom Hund mit dem Stück Fleisch‘ oft als rhetorisches Element in Predigten und bereits 1520 in der Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (WA 7,28)
  18. „Eine Kunstform – gereinigt von allem phantasievoll sprachlichen Verweilen – verknappt bis zum äußersten, soll als ‚Betrugsmittel‘ genutzt werden.“ Doderer, a.a.O., S. 211
  19. Vgl. Ernst Heinrich Rehermann und Ines Köhler-Zülch, Aspekte der Gesellschafts- und Kirchenkritik in den Fabeln von Martin Luther, in: Peter Hasubek (Hrsg.), Die Fabel, Berlin 1982, S. 27-42
  20. Die Berührung der Fabel-Moral mit den Lehren der höchsten Autorität, der Bibel, die Eignung als Spiegel der Welt, als Ausdruck der Kritik an den herrschenden sozialen und moralischen Zuständen – dies waren die Grundlagen, die die Blüte der protestantischen Fabeldichtung ermöglichten.
  21. Matthäus 10,16