Frauenbilder im Nibelungenlied und in den Wormser Festspielinszenierungen

Vortrag von Dr. Ellen Bender zu den Nibelungenfestspielen am 19.7.2022

Frauenbilder im Nibelungenlied

Im Nibelungenliedwird die Anziehungskraft der Frau, verstärkt durch Aussehen, Gestik, Kleidung beschrieben, um Männer zu erfreuen: „Was gibt es, das einen Mann erfreut und glücklich macht, wenn nicht schöne Mädchen und anmutige Frauen?“ (NL B 274,1-2). Prachtvoll gekleidete Damen sind Höhepunkte nibelungischer Feste; sie veranschaulichen kollektiv höfische Freude und mannes wünne (B 274,1) am weiblichen Geschlecht, wobei der Aspekt männlicher Lust betont wird. Frauen werden durch den Erzähler zu Objekten männlicher Blicke, welche sich in den Erzähler- und Männerkommentaren verdeutlichen. So rät Giselher Siegfried zum Verbleib in Worms mit den Worten: „Hier gibt es viele schöne Damen, die Ihr gerne sehen dürft.“ (B 321,4) So verspricht Siegfried den Burgunden auf Isenstein den Anblick schöner Damen (B 384,4), und selbstverständlich sehen die Recken – unter der Blickregie des Erzählers – schöne Frauen aus den Fenstern schauen (B 389). Deutlich wird aber auch, wie sehr der männliche Diskurs über Frauen mit frauenfeindlichen Positionen durchsetzt ist – so bei Giselher, der den Grund für den Frauenstreit, nämlich den Betrug der Männer, als eigentlich ‚unbedeutend‘ herunterspielt (B 866,4).

Kriemhilds Genderentwurf

Insbesondere Kriemhild und Brünhild sind Objekte der männlichen Blickregie und des männlichen Begehrens. i Kriemhild erscheint bei der ersten Begegnung mit Siegfried als die Schönste vor allen anderen schönen Damen im Superlativ der Lichtmetaphorik: „sam der liehte mâne vor den sternen stât“ (B 283,1). Beschrieben wird ihre prunkvolle edelsteinbesetzte Kleidung, deren Glanz mit dem Strahlen ihres Antlitzes in rosenroter Farbe wetteifert (B 282,1-2).

Gleich zu Beginn des Nibelungenlieds stellt sie uns der Dichter als zentrale Frauenfigur vor. Die burgundische Königstochter ist aufgrund ihrer außergewöhnlichen Schönheit (B 2,3) auf die Liebe hin konzipiert. Im Traum zieht sie einen Falken heran, den zwei Adler zerfleischen. Im Minne- und Lehrgespräch zwischen Mutter und Tochter deutet Mutter Ute den Falken als Kriemhilds zukünftigen Ehemann (Siegfried), den sie bald verlieren werde. Daraufhin will Kriemhild auf Liebe zu einem Mann für immer verzichten. Dem Widerstand ihrer Tochter setzt Ute das von Gott gewollte Beziehungsmodell entgegen: Das Glück der Welt erfahre man nur durch die Liebe eines Mannes: „Du wirst von Herzen glücklich, …wenn Gott dir einen ausgezeichneten Ritter zum Mann gibt.“ (B 16,4) Kriemhild weist dies zurück. Sie besteht auf ihren Liebesverzicht und begründet dies mit dem Argument, dass Frauen durch Liebe oft Leid erfahren. Sie lehnt Minne ab und damit auch das feudalhöfische Modell der Ehe. – Die einzige mittelalterliche Alternative für die Adelige wäre dann der Rückzug ins Kloster.

Kriemhilds ehekritische Haltung verdeutlicht ihren Anspruch, sich nicht der den Frauen vorgezeichneten Rolle anpassen zu wollen. Mutter Ute hingegen befürwortet das konventionelle Muster weiblicher Lebensform (B 16) innerhalb der höfischen Gesellschaftsordnung. Das Gespräch verweist auf konträre Auffassungen des Weiblichen. Für die Witwe liegt das weibliche Lebensglück in der Liebe zu einem Mann begründet – einer Liebe, die es wert ist, auch die Möglichkeit der Leiderfahrung auf sich zu nehmen, von der sie weiß, dass sich auch ihre Tochter in diesen Rahmen wird fügen müssen. – Im Übrigen besteht Utes Genderentwurf darin, eine fürsorgliche Mutter zu sein. Das gleiche gilt auch für Siegfrieds Mutter Sieglinde. Sieglinde entspricht dem stilisierten mütterlichen Genderentwurf der hochmittelalterlichen Dichtung, in dem die Frauen ganz im Interesse ihrer Gatten und Kinder wirken.

Nach dem Falkentraum heißt es von Kriemhild: „Er war ihr noch ganz unbekannt, dem sie später untertan wurde“, d.h. den sie heiraten sollte: Untertan werden und heiraten ist für Frauen offenbar dasselbe. Das Nibelungenlied spricht somit ganz im Einklang mit dem zeitgenössischen feudal-patriarchalischen Geschlechtermodell von der Subordination der Frau unter den Mann in der Ehe. Die Ehe ist für die männerdominierte höfische Feudalgesellschaft des hohen Mittelalters in erster Linie eine politische Verbindung, die zuerst unter Männern vertraglich abgesichert und dann von Mann und Frau vollzogen wird. Eine freie Partnerwahl wird der Frau nicht eingeräumt. Man denke hier an Gunthers und Siegfrieds eidlich bekräftigte Vereinbarung der Ehe Kriemhilds: „des swuoren si dô eide“ (B 333f.) Und ohne zu wissen, um wen genau es geht, erteilt Kriemhild formal ihre Zustimmung zu einem Ehearrangement, um diesen Eid ihres Bruders (B 609 f.) pflichtgemäß einzulösen: „Gern nehme ich den zum Mann, den ihr, Herr, für mich bestimmt habt.“ (B 616,4).

Die Ehe wird von Mann und Frau mit dem dynastischen Ziel der Erzeugung von Nachkommenschaft vollzogen; Beispiel: Kriemhilds Etzelehe. Ansonsten werden Frauen machtlos gehalten.

Kriemhild lebt bis zur Eheschließung unter der Vormundschaft (munt) ihrer Brüder. Dass sie mit der Ehe aus der munt-Gewalt ihrer Brüder in dieihres Ehemannes Siegfried übergeht, zeigt sich insbesondere vor der Abreise nach Xanten (11. Av.), als sie nämlich ihr Erbteil am burgundischen Landbesitz von den Brüdern einfordern will. Da spricht plötzlich Siegfried stellvertretend für sie: „Wahrlich, meine liebe Frau wird sicher auf den Teil verzichten, den ihr ihr geben wolltet. Dort, wo sie die Krone tragen wird, ist sie zu meinen Lebzeiten reicher als irgendjemand sonst auf der Welt.“ (B 691,4-692,3f.) Zwar begründet Siegfried – gegen Kriemhilds Willen – denVerzicht mit dem Hinweis auf den unglaublichen Reichtum über den sie als seine Frau verfügen kann, verweigert ihr aber gleichzeitig eine eigenständige ökonomische Absicherung. Er geht später sogar so weit, dass er ihr Verhalten beim Königinnenstreit durch körperliche Züchtigung bestraft (B 891). vrouwen ziehen (B 862,1) nennt er das. Hinter der höfischen Fassade begegnet uns häusliche Gewalt. Und klaglos erträgt Kriemhild die Schläge ihres Gatten. Nach Siegfrieds Tod fällt Kriemhild wieder in die Vormundschaft ihrer Brüder zurück.

Brünhilds Genderentwurf

Werfen wir einen Blick auf Brünhilds Genderentwurf, der nicht in die Vorstellungen der feudal-höfischen Welt passt. Schon räumlich eine Randerscheinung, ist die mächtige isländische Königin im Nibelungenlied Ausnahme, eine Frau aus mythischer Zeit. Brünhild besticht durch weibliche Schönheit und jungfräuliche Stärke. Schneeweiß ist sie auf Isenstein gekleidet (B 392,2), wodurch ihre Jungfräulichkeit noch hervorgehoben wird. Der Erzähler lenkt den Blick auf Brünhilds körperliche Schönheit. Die unter den Panzerringen durchscheinende minneclîchiu varwe (B 434,4) ihrer Haut macht sie zum Objekt männlichen Begehrens.

Sie erscheint anziehend – und furchtbar zugleich durch ihre große Kraft. Der Kraftgürtel ist Zeichen ihrer Virginität. Die Frau, die sich Gunther zur Gattin erwählt, regiert ihr Reich autonom. Wenn überhaupt eine Eheschließung, dann nur mit dem herrschaftstauglichsten Freier! Sie selbst setzt die Bedingungen. Die Werber, die ihren Anforderungen nicht genügen, lässt sie umbringen. Der Erzähler kritisiert ihre Überheblichkeit als „übermuot“ (B 446,4). Hagen fürchtet um die Schande und das Leben der Helden bei einer Niederlage gegen Frauen. Durch Magie (Tarnkappe) und Täuschung gelingt der Werbungsbetrug der Männer. In der zweiten Brautnacht in Worms wird dann Brünhilds jungfräuliche Stärke von Siegfried und Gunther durch schmerzhafte Misshandlung und sexuelle Überwältigung gebrochen. Hier geht es um die Bezwingung der Frau als solche – um die Demonstration männlicher körperlicher Überlegenheit stellvertretend für alle Männer: Die bestehende patriarchale Geschlechterordnung dürfe nicht durch eine Frau wie Brünhild beschädigt werden (B 673 ; C 678). ii

Nach ihrer betrügerischen physischen Bezwingung (auf Isenstein), der systematischen Entmachtung (Verschwendung ihres Goldes durch den burgundischen Kämmerer: B 517) und durch die Entjungferung (im Brautbett) fügt sich Brünhild in die Norm des höfischen Frauenbildes. Der Erzähler schlägt sich auf die Seite der Männer, wenn er ausdrücklich Gunthers eheliches Recht betont: „Er schlief mit ihr, wie ihm das zukam“ (als im daz gezam: B 681,1). Die Defloration, die der Erzähler als rechtlich legitimiert bezeichnet, bewirkt, dass Brünhild ihre jungfräuliche Kraft verliert (B 681 f.) Nach dem Verlust ihrer Kraft erscheint Brünhild angepasst an die traditionelle Rolle der ökonomisch abhängigen Königin, die ihre Macht aus der des Mannes ableitet; sie fügt sich in die Norm des feudal-höfischen Frauenbildes. Doch sie muss erfahren, dass ihr öffentliches Ansehen unterminiert wird. Beim Streit der Königinnen beschimpft Kriemhild sie öffentlich als kebse, als Beischläferin ihres Mannes Siegfried. Als Beweis zeigt sie Ring und Gürtel der vergewaltigten Königin. Diese Zeichen sind wirksam genug, um Brünhild öffentlich zu erniedrigen. Brünhild ruft nach Gunther und beklagt ihren öffentlichen êre-Verlust. Sie erfährt aber keine Genugtuung durch den König, unter dessen Vormundschaft und Protektion sie stehen sollte. Sie ist schutzlos und in ihrer Ehre gedemütigt, mit ihr sind Hof und Reich geschändet. Ihre öffentliche Demütigung hat sie gesellschaftlich vernichtet.

Die ‚Entwicklung‘ der beiden Frauen verläuft im NL konträr: Während die selbstbewusste und starke Königin Brünhild von Isenstein sexuell bezwungen und politisch entmachtet wird, ‚entwickelt‘ sich die einst minneclîche Jungfrau Kriemhild des Burgundenhofes nach zeitweiser Entmachtung zu einer politisch handelnden Königin im Hunnenland. Während Brünhild von Männern gewaltsam den Normen der Feudalgesellschaft angepasst wird, wird die anfangs angepasste Kriemhild durch das ihr zugefügte Leid, durch Siegfrieds Tod und den Raub des Nibelungenschatzes, gewaltbereit wie Brünhild am Anfang war. Beide Frauen erfahren Leid, physische und ökonomische Entmachtung, beide Frauen streben danach, ihr Leid zu rächen. Die inzwischen ihrer gesellschaftlichen Rolle angepasste Burgundenkönigin, deren Ehre im Königinnenstreit durch Kriemhilds Kebsenvorwurf vernichtet ist, wird den Tod des Beleidigers ihrer Ehre fordern. Nach Siegfrieds Ermordung zieht sie sich immer mehr nach Innen zurück.

Kriemhild hingegen wendet sich nach Außen und wird zur gnadenlosen Rächerin: Weil der Hof Gunthers das ihr angetane Unrecht nicht tilgt und in seiner Pflicht zur Gerechtigkeit, nämlich der Bestrafung des Mörders Hagen, versagt, wird Kriemhild mit der Königsmacht des Hunnenkönigs den Tod ihres ersten Mannes rächen. Sie setzt geschickt ihre Weiblichkeit als Mittel ein, heiratet Etzel und instrumentalisiert ihn für ihre militante Politik, kompromisslos bis zum Untergang.

Andrea Sieber schreibt: „Während bei Brünhild die Domestizierung zur höfischen Dame gelingt, übertritt Kriemhild in gegenläufiger Bewegung erst im zweiten Teil ihre Rolle als höfische Dame, was in der Ermordung Hagens kulminiert (B 2373,2f.)“. Sie nennt dies eine „radikale Normentransgression“ iii – also einen radikalen Verstoß gegen die gesellschaftlichen Regeln. Die patriarchale Norm könne final nur dadurch wieder hergestellt werden, dass Kriemhild am Schlusspunkt der Handlung von Hildebrand hingerichtet wird (B 2374).

Mittelalterliche Kriemhild-Rezeption – ein kurzer Exkurs.

Die Nibelungensage war dem Mittelalter in ganz anderer Perspektive bekannt: als die Geschichte eines niederträchtigen Verrats – eines Verrats der bösen Kriemhild an ihren Brüdern, wie wir aus vielen verstreuten Anspielungen (z.B. in der Hvenischen Chronik) wissen. Der Name Kriemhild war sprichwörtlich für eine zanksüchtige Frau, ja sogar für eine böse Teufelin. Im Mittelalter des 13. Jahrhunderts wurde die ungehorsame, aufmüpfige Ehefrau eine übeliu Kriemhilt gescholten, – und die Kriemhilden hôchgezît stand für ein Fest, bei dem man die Gäste mit Blut statt mit Wein bewirtete. iv

Schon früh gab es die Tendenz, Kriemhild aufgrund ihrer übergroßen Liebe zu Siegfried zu entschuldigen (wie in der Nibelungenklage). Man glaubte nicht, „dass Kriemhild ganz bös war“ v und dass sie die Hauptschuld am Untergang der Nibelungen trug. Auf populärer Ebene nannte man das Kriemhild-Diskussion. Diese Diskussion ist bis heute aktuell.

Frauenbilder in den Wormser Nibelungenfestspiel-Inszenierungen

Wie deuten die Inszenierungen von 2002 – 2022 die Frauenfiguren?

Kriemhild

In den beiden ersten Nibelungenfestspielen 2002/3 interpretiert der Berliner Dramatiker Moritz Rinke (‚Die Nibelungen‘) Kriemhild unter Dieter WedelsRegie als eine Art Widerstandskämpferin gegen die politischen Verhältnisse. Kriemhilds Gespräche mit ihrem Bruder Giselher stehen in einem politischen Kontext. Der Staat ist in einer ökonomisch katastrophalen Lage. Wir sehen einen selbstgefälligen, ermüdeten Hofstaat. Keiner hat den Mut, Verantwortung zu übernehmen. Gemeinsam mit Giselher träumt Kriemhild die Utopie von der Errichtung einer neuen Staatsform in einer besseren Welt: „Giselher, sag mir, dass wir etwas Großes finden! Lass uns endlich ein Buch schreiben! Wir werden eine neue Staatsform gründen!“ vi Rinke sieht Kriemhild hier in der Attitüde einer idealistischen Weltverbesserin.

Foto: Rudolf Uhrig

Kriemhild äußert Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie will sich nicht mit dem selbstherrlichen Leben am burgundischen Hof zufriedengeben. Sie rebelliert gegen die Heiratspolitik des Hofes. Was dort zählt, ist der Marktwert der Prinzessin: „Die Schönheit einer Frau muss Nutzen tragen“, sagt Gernot. – Dagegen zeigt die widerspenstig hochgereckte Frisur Kriemhilds ihre Verweigerungshaltung.Der Hof bereitet ihr schon längst Überdruss.

Foto: Rudolf Uhrig

Nach der Ermordung ihres Mannes konfrontiert uns Rinke mit Kriemhild, die den Mörder Hagen anklagt und die Stadt verlässt. Sie zieht zu Etzel – aus Berechnung! Die Ehe mit dem Hunnenkönig erweist sich als politisches Zweckbündnis. Kriemhild sichert den dynastischen Fortbestand mit der Geburt des gemeinsamen Sohnes Ortlieb und erhält dafür von Etzel uneingeschränkte Königinnenmacht. Sie genießt ihr neues Leben an der Seite des mächtigen Herrschers, den uns Rinke/Wedel als treusorgenden Familienvater zeigen.

Foto: Rudolf Uhrig

Sie lädt ihre Verwandten ein. Die Nibelungen ziehen los – in der Hoffnung auf finanzielle Unterstützung. Dass Kriemhild sich in die liebende Ehefrau Etzels verwandelt, die Siegfried vergessen hat, kann man den „Machern“ von damals aber nicht abnehmen. Soll man sich Kriemhild als eine terroristische „Schläferin“ vorstellen, die nur darauf wartet, dass sie endlich losschlagen kann?

Brünhild

Rinke stellt uns Brünhild als kriegerische Königin vor, die auf Island in einer Flammenburg wohnt: „Eine Frau wie das Feuer selbst.“ vii Um sie will Gunther werben. Das gelingt aber nur mit Siegfrieds Hilfe und durch Betrug. Wedel zeigt die Ankunft Brünhilds auf einem Eispferd in Worms: Er zeigt sie als die Fremde: „Ich bin so fremd in eurer Welt und soll hier leben.“ viii

Foto: Rudolf Uhrig

Ebenfalls als Fremde, als mythische Fremde, präsentiert Karin Beier, die Brünhildfigur in den Jahren 2004 und 2005 nach Friedrich Hebbels ‚Nibelungen‘ von 1861: ‚Die Nibelungen – Ein deutsches Trauerspiel’ (‚deutsch’ durchgestrichen). In den nordischen Heldenliedern ist Brünhild eine Walküre, von einer Waberlohe umgeben, in tiefen Schlaf versenkt. Nur wer es wagt, diesen Feuerkreis zu durchschreiten, kann sie erwecken.

Karin Beier betont die Rollen der beiden starken Königinnen Brunhild und Kriemhild und zeigt die Frauen als Opfer auf dem Spielbrett der von Männern dominierten Politik.Wiebke Puls ist als Brunhild unter Karin Beiers Regie eine schöne, barbusige Wilde, bloßgestellt bis auf Fellfetzen. Sie führt gleichsam den geographischen Konflikt vor zwischen ihrem Isenland mit dem naturmagischen Feuerkreis des Nordens – und Burgund, wo sie, die domestizierte Riesin, hin verschachert wird. Schmerzlich schreit sie auf: „Ich kann mich nicht an so viel Licht gewöhnen. Es tut mir weh, mir ist’s, als ging ich nackt.“ ix Brunhild ist für Karin Beier ein Naturkind, das durch die List mit Siegfried unter der Tarnkappe getäuscht wird. Durch diesen Betrug und ihre Vergewaltigung werde mit Brunhild zugleich die archaische Kultur ihres Herkunftslandes vernichtet. Brutal führt man sie in ihre neue Heimat ein. „Ist sie getauft?“ fragt Giselher, von André Eisermann gespielt, voller Verachtung. Und platsch, hat die so Gedemütigte zwei Schüsseln Wasser im Gesicht – Taufe auf burgundisch.

Foto: Rudolf Uhrig

Karin Beier zeigt Brunhild als Opfer im Machtspiel der Männer.

Foto: Rudolf Uhrig

2006/7 kommen ‚Siegfrieds Frauen’ und ‚Die letzten Tage von Burgund‘ zur Aufführung. Rinke und Wedel erfinden eine neue Welt für Brünhild. Spannend ist die Interpretation der Figuren in aussagekräftigen Einzelszenen: Wir befinden uns auf Island im Reich der männermordenden Königin und einer Gesellschaft kriegerischer Frauen: Amazonen in knappen Ledertops und Lederstiefeln. Nebelschwaden ziehen auf, bewaffnete Isländer ziehen ab. Ein Männeropfer hängt kopfunter im Rad.

Foto: Rudolf Uhrig

Dann trifft Siegfried nach dem Bad im Drachenblut auf Brünhild. Siegfried, der starke Mann und Brünhild, die starke Königin aus dem Eis, die in den nordischen Heldenliedern um die Walküre füreinander bestimmt sind, begegnen sich. Die kühle Frau des Nordens steht in Flammen, öffnet sich der Liebe, aber sie kann Siegfried nicht erreichen. Er geht wieder. Warum verschmäht er sie?

Foto: Rudolf Uhrig

Gunther, der um Brünhild wirbt, aber abgelehnt wird, verliert die Kontrolle und erwürgt ihre isländische Vertraute Isolde. Er mordet in der Welt der starken, unabhängigen Frauen. Dieter Wedel inszeniert das Beziehungsdrama als Kampf der Geschlechter.

Frauenfeindlich ist auch die Szene, die die Isländerinnen bei der Ankunft in Worms zeigt: als gefesselte Sklavinnen in Eisen und Ketten gelegt. Rinke und Wedel zeigen Powerfrauen, aber sie zeigen auch das Brechen und Vergewaltigen der Frauen.

Foto: Rudolf Uhrig

In ‚Hebbels Nibelungen – born to die‘ und ‚born this way‘ 2013 und 2014 psychologisiert Dieter Wedeldas Verhalten der Figuren. Es geht um die brennende Liebe zweier Frauen zu einem Mann, den sie beide begehren – mit Cosma Shiva Hagen als mädchenhafter Kriemhild und mit Kathrin von Steinburg als wild-magischer Brünhild.

Foto: Rudolf Uhrig

Brünhild wird von Siegfried verschmäht und betrogen – dafür will sie Rache, die der sinistre Hagen an Siegfried vollzieht.

Für den Mord an ihrem Mann fordert Kriemhild nun vor dem Nordportal des Doms 2014 ihr Recht auf Sühne. Sie klagt Hagen an, doch der steht unter dem Schutz der burgundischen Königsbrüder.

Die Burgunden/ Nibelungen sind es, die den Krieg ins Hunnenreich tragen. Wedel führt sie uns als überhebliche Herrenmenschen vor, die auf vermeintlich unzivilisierte Hunnen herabsehen. Schnell kippt Etzels großzügiges Willkommensfest, als Kriemhild das blutige Gemetzel durch den Mord an den burgundischen Knappen in Gang setzt. Ungerührt sieht sie zu, wie Hagen ihren Sohn Ortlieb ermordet. Wieder fordert sie Gerechtigkeit, die man ihr verweigert. Ihre Brüder decken den Mörder Hagen, der sie fest im Griff hat. Wedel sieht Kriemhild alsGerechtigkeitskämpferin, die sich zur blutigen Brudermörderin verhärtet. Zum Schluss gilt ihr einziges Interesse der Obsession von der Tötung Hagens.

Foto: Rudolf Uhrig

In den Jahren 2015-2017 gestaltet Albert Ostermaier seine drei Bühnenstücke ‚Gemetzel‘, ‚Gold‘ und ‚Glut‘ als eine Nibelungen-, aber auch als eine Kriemhilden-Trilogie.

Albert Ostermaier stellt in seinem Stück ‚Gemetzel‘ unter dem neuen Intendanten Nico Hofmann (Regisseur: Thomas Schadt) Kriemhild als psychisch labil dar. In ihren fiebrigen Rache-Träumen und Alptraum-Sequenzen auf der luftigen Brücke zwischen den beiden Kulturtürmen Europas und Asiens erscheint ihr Hagen Nacht für Nacht. x– Über der Alpträumenden reichen sich Brünhild und Etzel die Hand. Irgendwann liegen sich auch die beiden rivalisierenden Frauen küssend in den Armen, alles sehr komplex und psychologisch, mit eigener Erotik! – Der zweite Teil der Aufführung beginnt mit der Ankunft der Burgunden am Etzelhof. Man spielt das Spiel der Nibelungen in geheuchelten Versöhnungen an der Festtafel und trinkt Blutsbrüderschaft. Das Spiel wird blutiger Ernst. Kriemhild zu Hagen: „Ich will den Schatz in deinem Kopf. Gib ihn mir, dann könnt ihr gehen.“ Hagen, der ihr Kind Ortlieb als Geisel genommen hat: „Euer Schatz ist in meinem Arm hier.“ Ortlieb stürzt sich mit den Worten „Ich bin Siegfried“ in Hagens Schwert. Der Junge opfert sich für Kriemhilds Rache. Dietrich: „Warum müssen alle sterben, die Ihr liebt?“ „Gold stirbt nicht“, sagt sie. Wichtiger als das gemeinsame Kind ist ihr (und Etzel) der Schatz! „Die Welt soll uns allein gehören und alles Gold“. Kriemhild mordet Gunther und Hagen.

Foto: Marion Bührle

Etzel schickt sie schließlich fort: „Hier, nimm Hagens Kopf und such darin, wo er den Schatz verborgen hat. Und findest du im Rhein ihn dann, bist rein du aller Schuld gegen mich.“ Ostermaier rechnet in seinem Stück mit der Kriemhildfigur ab. Voll beißender Ironiedemontiert er das Bild von der „liebenden Kriemhild“.

2016 ein weiteres Stück aus Albert Ostermaiers G-Trilogie: ‚GOLD. Der Film der Nibelungen‘ (Regie: Nuran David Calis). Ein Filmteam dreht am authentischen Ort in Worms die letzte Szene des Films „Gold“, nämlich den Königinnenstreit, der ja Auslöser für den mörderischen Verlauf der Sage ist. Der Regisseur des Filmdrehs will die Auseinandersetzung zwischen Kriemhild und Brünhild auf die Schauspielerinnen übertragen, indem er seinen beiden Hauptdarstellerinnen jeweils eine jüngere Zweitbesetzung zur Seite stellt. Er will vier Frauen, die sich hassen und zerfleischen. In den vier Darstellerinnen, zwei älteren und zwei jüngeren, spiegeln sich Rivalität und Eifersucht. Das sich daraus entwickelnde Konfliktpotential sorgt für die stärksten Szenen, wenn die älteren Darstellerinnen unter diesem Druck leiden. Ostermaier zeigt verwirrende Seelenabgründe: So, als Karina Bergmann als ältere Kriemhildeine Klage über das Altern anstimmt und die Angst, wegen verblassender Attraktivität nicht mehr geliebt zu werden: „Ich bin alt, und ich betete im Dom. Für Was? Für Liebe, dass mich jemand liebt.“.

Foto: Bernward Bertram

Sehr viel reizvoller als „diese Psychoexkurse“ seien die Momente, in denen der Regisseur Calis mit der Verfilmung des Nibelungenstoffes wirklich ernst mache – so ‚Spiegel online‘, etwa als Karina/Kriemhild, im Bühnenteich stehend ihren Hass auf Hagen herausschreit.

Susanne Schul interpretiert Ostermaiers ‚Gold‘: Die Darsteller seien Opfer von Diskriminierung. Sie würden an ihre psychischen und physischen Grenzen geführt und zum Scheitern gebracht. Die Frauen würden als Opfer psychologisiert, wie Karina Bergmann als ältere Kriemhild oder wie die Wodka-Trinkerin Lotte Jünger als ältere Brünhild, die ihre Wut über die erlittene Schändung artikuliert.

Politisch wird Albert Ostermaier dann in seinem letzten Stück 2017, mit dem er seine Nibelungentrilogiebeschließt: GLUT. Siegfried von Arabien‘ (ebenfalls von Nuran David Calis inszeniert). Es geht um einen Zug des deutschen Hauptmanns Fritz Klein während des Ersten Weltkriegs durch die Wüste im mittleren Orient zu den persischen Ölquellen. In einem Extra-Waggon sind Artisten, Sänger, Musiker untergebracht. Sie spielen die Geschichte der Nibelungen, sind aber auch getarnte deutsche Agenten 1915 mitten im Krieg. Die deutschen Offiziere spielen nicht nur, sie sind die Nibelungen: Hauptmann Klein ist Hagen. Und auch eine Brünnhilde ist dabei! Und ähnlich wie die Wormser Königssippe auf dem Weg zu König Etzels Hof, treten die Agenten eine Reise in den Untergang an. Wenn die Tarnung fällt, fällt auch ihr Leben.

Verwirren können die vielen Ebenen des Stücks: Der einflussreiche persische Scheich Omar, den man als Verbündeten zu gewinnen hofft, ist zugleich der Etzel des Orients.Ziel der Geheimmission ist es, die Muslime zum Heiligen Krieg (Dschihad) anzustacheln, um die von den Briten kontrollierten Ölfelder anzugreifen: den Dschihad will man als Waffe gegen die Westmächte nutzen.Welche Rolle spielt Scheich Omars Frau dabei? Omars deutsche Frau, Gräfin Falke (!), erklärt sich offiziell zur „Kriemhild des Reiches“. Sie betreibt eine eigene Geheimdiplomatie – und tarnt sich ebenfalls: „Manchmal fürchte ich, sie will uns nur dorthin [zu den Ölfeldern] locken, um uns dann abzuschlachten!“ sagt Klein. Die Befürchtung ist berechtigt, denn, Ostermaier politisiert Gräfin Falke. Sie ist die Doppelagentin Kriemhild. Gnaden- und maßlos will sie Rache. Dafür wird sie am Ende ihren Sohn Faisal opfern, wenn er im Spiel den Siegfried gibt und sich in Hagens Speer stürzt.Als den Agenten an Omars Hof ihre Götterdämmerung ereilt, intoniert dieWalküre Brünnhilde den alles verschlingenden Weltenbrand.

Foto: David Baltzer

Für die Nibelungen-Festspiele 2018 verfasste das Duo Feridun Zaimoglu und Günter Senkel den Text zu ‚Siegfrieds Erben‘. (Regisseur: Roger Vontobel). Sie zeigen die Personen, die den Burgundenuntergang überstanden haben. Wir sehen die Niederländer, Siegfrieds Eltern und Siegfrieds Kinder aus Xanten. Die Tochter Swanhild agiert hier in der Nachfolge ihrer Mutter Kriemhild. Sie soll Etzel heiraten, der ebenfalls nach Worms zieht und Erbansprüche auf den Nibelungenschatz und die Herrschaft über Burgund anmeldet.

Doch sie alle haben die Rechnung ohne die Burgherrin Brunhild gemacht. Die Isländerin, die eine doppelte Vergewaltigung durch Siegfried und durch Gunther hinnehmen musste, kämpft für ihre Gerechtigkeit und dafür, dass sie gehört werden möchte. Sie ist eine Versehrte, die aus Wut über ihre einstige Erniedrigung um sich schlägt und die hilflose Dienerschaft malträtiert. Stolz und verletzt zugleich nennt sie in einem anklagenden Monolog Siegfried einen Schänder.

Foto: David Baltzer

Etzel bindet Brunhild und die Königsmutter Ute gemeinsam ans Kreuz: Wenn sie das Versteck des Schatzes nicht verraten, sollen sie sterben. Da stellt sich Brunhilds Sohn als Geisel zur Verfügung.

Etzels Hochzeitsgelage beginnt. Aber Swanhild entpuppt sich als furioser Racheengel, ihrer Mutter Kriemhild in nichts nachstehend. Statt sich in die Hochzeit mit Etzel zu fügen, der sich von ihr einen neuen Erben erhofft, bricht sie einen Krieg los. „Einen Berg von Leichen“ will Swanhild auftürmen, „bis man sie auf dem Mond begraben kann.“ xi Und sie nennt die Schuldigen: König Etzel und ihre berühmten Eltern: „Ich bin in allem euer Widerschein“. Ihre Rachsucht bezahlt sie mit dem Leben: Etzel tötet sie. Ute und Brunhild werden von den Niederländern gemordet, die selbst sterben müssen. Rache folgt auf Rache folgt auf Rache…..

Thomas Melleerzählt in ‚Überwältigung‘ 2019 in gebundener Rede (Regie: Lilja Rupprecht) die Geschichte der Nibelungen vom Ende her. Er beginnt mit der rächenden Kriemhild und den Toten am Etzelhof. Er stellt die Frage: Gibt es keinen Ausweg aus dem Rachewahn? Ist der Mensch also unbelehrbar? Oder gibt es am Ende vielleicht so etwas wie ein Schicksal, dem wir nicht entkommen können? Die Nibelungen: ein Schicksalsspiel? Der junge Ortlieb, Sohn Kriemhilds und Etzels, begehrt auf und schert aus der Gruppe der Toten aus. Er will nicht sterben: „Nein, nein, nein! Zieht mich hier raus!“ Er verlangt einen Neustart. Und dann erzählt Melle die Nibelungengeschichte von Neuem und stellt die Frage, ob alles vom Schicksal vorgegeben sei? Thomas Melle sagt, er wolle ergründen, warum es so schwer sei, Entscheidungen zu revidieren, selbst wenn das bittere Ende einer Entwicklung auf der Hand liege. In ‚Überwältigung‘, das wird bald klar, sind es allzu menschliche Schwächen und Begierden, die die Nibelungen antreiben – wie die Werbung Gunthers um die mächtige Riesin Brünhild, die auf einem Reifrock thront, der sie überlebensgroß erscheinen lässt. König Gunther ist auch hier ein Schwächling, aber er gibt es zu und will mit Brünhild einen ehrlichen Neuanfang wagen. Siegfried und Hagen sind sich ihrer Rolle bewusst und entkommen ihr dennoch nicht. Kathleen Morgeneyer spielt die Kriemhild, zunächst voller Sehnsucht nach Veränderung, dann schicksalhaft-zwanghaft auf ihre Zukunft als Rächerin zusteuernd.

Foto: David Baltzer

Zum Schluss teilt Hagen Ortliebs Sehnsucht, weggenommen zu werden: „Gehen wir auf die andere Seite…“ Doch die „andere Seite“ erschließt sich ihm nicht, weil er nicht an die Veränderbarkeit der Menschen glaubt.

Fazit

Auffällig ist, dass alle Wormser Neuinszenierungen das Bemühen um Psychologisierung der Frauen zeigen, um ihr Verhalten zu erklären: Brünhild, das mythische Naturkind (bei Beier),

die von Siegfried verschmähte Riesin (bei Melle),

wird zur doppelt Vergewaltigten, die, ihrer Kraft beraubt, am Hof in Burgund verzweifelt ihren Platz sucht (bei Rinke).

Sie ist die Fremde (bei Wedel), Gedemütigte, Versehrte, die den Tod ihres ‚Schänders‘ (bei Zaimoglu) einklagt. Sie fordert Bestrafung.

Bestrafung fordert auch Kriemhild. Aber das Unrecht der Tötung Siegfrieds wird nicht getilgt. Deshalb ist ihre Rache maßlos.

Diese „monströse“ Maßlosigkeit der Rächerin will man psychologisch erklären, und zwar zum einen mit einer kranken Psyche der Kindsmörderin (bei Ostermaier in ‚Gemetzel‘)

oder mit Selbstübersteigerung (in ‚Glut‘).

Oder man sucht nach politisch reaktionären Bildern für die Kriemhildfigur als Widerstandskämpferin (bei Moritz Rinke)

oder als Gerechtigkeitskämpferin (bei Dieter Wedel)

oder man sieht sie und Brünhild als Opfer der Politik der Männer diskriminiert (bei Karin Beier, in Ostermaiers ‚Gold‘).

Oder man erschafft eine Fortsetzung in der Tochter als Racheengel (bei Zaimoglu).

Oder man spinnt die Frauen ein in eine schicksalhafte Verstrickung nach dem Vorbild antiker Tragödien (bei Melle).

Das alles zeigt, wie facettenreich die Frauenfiguren im Nibelungenmythos angelegt sind und wie sehr ihre Wertung von der Sichtweise und den Weiblichkeitsvorstellungen ihrer Interpreten geprägt ist.

Zum Schluss noch der Blick auf die ‚hildensaga. ein königinnendrama‘ von Ferdinand Schmalz, das jetzt zu den Nibelungenfestspielen 2022 mit einer Wasserwelt des Regisseurs Roger Vontobel zur Aufführung kam.

Die Wasserwelt Islands ist das Element Brünhilds (Genija Rykova), Wotans Tochter, voller Energie, die die Burgunden ‚abzapfen‘ wollen. Und schon tauchen – nach einer ersten Begegnung mit dem Drachentöter Siegfried (Felix Rech) – ihre fordernden Machthaber aus dem Wasser auf: Hagen, König Gunther und seine Brüder. Siegfried soll Gunther helfen, um Brünhild zu freien, um sie als Königin an den Wormser Hof zu holen.

Schmalz hat die beiden Königinnen als starke, aufbegehrende Figuren angelegt. Wie sehr die Figuren jedoch von den männerdominierten Feudalstrukturen eingeengt werden, verdeutlicht Schmalz mit der Rede Kriemhilds (Gina Haller), die sich von den burgundischen Machthabern am Hof distanziert: „Wie kaputt das alles ist!“ – Oder bei Siegfrieds Vergewaltigung Brünhilds, als diese ihre Schmach laut hinausschreit. Hier sieht er Parallelen zur gegenwärtigen „#MeToo“- Debatte! Wie gehen die Frauen dagegen vor? xii Brünhild will Rache. Kriemhild erklärt sich solidarisch: „Ich will dir eine Schwester sein“. Sie verrät Siegfrieds verwundbare Stelle.

Foto: David Baltzer

Hier geht es um die Geschichte der Nibelungen aus der Sicht der beiden Frauen! Ferdinand Schmalz stellt die Frage: „Was passiert, wenn die Frauen sich nicht zanken, sondern in ihrem erwachenden Bewusstsein weiblicher Selbstbestimmung zum Handeln kommen, sich solidarisieren und verschwistern? Wäre dann die Welt eine andere, wenn Frauen die Macht hätten?

Das Stück von Schmalz endet in eindringlicher Atmosphäre. Der Dom wird zum mythischen Wald bei einer wilden Jagd durch den sumpfigen Morast. Es ist Siegfried, der beim ‚Jagdtreiben‘ selbst zur Beute der Jäger wird! Hagen mordet ihn. -Können Kriemhild und Brünhild, die jetzt Verbündeten, der Männerherrschaft trotzen und sich der Entfesselung von Krieg und Gewalt entziehen? „Zwei gegen einen ganzen Hof?!“ – Auf dem Weg zur Antwort findet man bloß weitere, schreckliche Gewalt in einem finsteren, leichenstarrenden Sumpf. „Dort draußen lauern wölfische Zeiten“ sagt Brünhild im Schlussmonolog.

Foto: David Baltzer

Mein Dank für die Genehmigung der Fotos gilt der Nibelungenfestspiele gGmbH der Stadt Worms.


Anmerkungen

i Andrea Sieber, in: Andrea Stieldorf, Linda Dohmen, Irina Dumitrescu, Ludwig D. Morenz (Hg.), Geschlecht macht Herrschaft. Interdisziplinäre Studien zu vormoderner Macht und Herrschaft, Bonn 2021, S. 251

ii Demgemäß erlangt die Überwindung Brünhilds aus der Perspektive Siegfrieds den Charakter eines „Stellvertreterkrieges der Geschlechter“ (Heinz Sieburg, Literatur des Mittelalters, 2. Aufl., Berlin 2012, S. 187) (B 673): „‘O weh‘, dachte der Recke, ‚wenn ich jetzt mein Leben durch die Hand eines Mädchens verliere, dann können künftig alle Frauen ihren Männern gegenüber auftrumpfen, die es sonst niemals versucht hätten, sich so zu verhalten‘.

iii Andrea Sieber, ebenda, S. 267: Kriemhild werde in Hagens Rede zuvor in frauenfeindlicher Manier als vâlandinne (2368,4) herabgewürdigt und letztlich von ihm durch die Hortverweigerung zum Mord an ihrem Bruder Gunther provoziert (NL 2364-2368).

iv Vgl. Jan-Dirk Müller, Die Klage – Die Irritation durch das Epos, in: Der Mord und die Klage. Dokumentation des vierten Symposiums der Nibelungenliedgesellschaft Worms e.V. vom 11. Bis 13. Oktober 2002, hrsg. von Gerold Bönnen und Volker Gallé, S. 171

v Otfrid Ehrismann, Nibelungenlied. Epoche-Werk-Wirkung, 2. Neu bearb. Aufl., München 2002, S. 244

vi Moritz Rinke, Die Nibelungen, S. 18

vii Rinke, S. 32

viii Hebbel, S. 64

ix Hebbel, S. 64

x Hagen: „Der tote Siegfried ist unser Bett, auf dem wir uns lieben. Nur im Töten lieben wir uns, nur in der Rache, und wenn wir uns vernichten wollen, wollen wir uns in Wahrheit lieben.“ In: Albert Ostermaier, Gemetzel, S. 23

xi Auch F. Zaimoglu übernimmt hier ein Zitat Kriemhilds aus Friedrich Hebbels Drama, 5. Akt von „Kriemhilds Rache“, 6. Szene, S. 235

xii In: Wormser Zeitung vom 3.11.20 „Zwei selbstbewusste Königinnen. Zum Künstlergespräch der Nibelungen- Festspiele am 1.11.20“

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