Passionsspiele gegen Reformationsdrama

Luthers Verdikt über die geistlichen Spiele des Mittelalters und die Wende zum frühneuzeitlichen Drama der Reformation
von Prof. Dr. Elke Ukena-Best, Universität Heidelberg

Beitrag anlässlich der Luther-Festspiele 2021

Lorenzo Lotto/ Susanna im Bade 1517

Das religiöse Schauspiel, wie es sich als theatrale Institution in der spätmittelalterlichen Stadt am Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts etabliert hat, erfährt in der Frühen Neuzeit grundlegende Änderungen. Diese sind entscheidend von Martin Luther und seiner reformatorischen Sicht auf Inhalte, dramatische Umsetzung, Intention und Aufführungspraxis bestimmt. Zunächst werde ich daher das geistliche Spiel des Spätmittelalters kurz charakterisieren und speziell eine Passage des Alsfelder Passionsspiels, die beispielhaft für Luthers Ablehnung steht, in den Blick nehmen (I). Es folgen Luthers Kritikpunkte mit Zitaten einiger seiner Aussagen, in denen sich die Gegnerschaft zum mittelalterlichen Spiel manifestiert (II). Schließlich komme ich zur frühneuzeitlichen Wende und damit zum reformatorischen Drama (III). Es wird zu zeigen sein, welche Prinzipien für das Innovative dieses Dramentypus und seine szenische Präsentation maßgeblich sind, aber auch inwiefern das mittelalterliche geistliche Spiel im Reformationsdrama dennoch weiterwirkt. Exemplarisch wird das Bibeldrama „Susanna“ von Paul Rebhun herangezogen.

I.

Zum geistlichen Spiel des Mittelalters: Die Gattungsbezeichnung ‚Spiel‘ ist der Textüberlieferung entnommen. Der Terminus ‚Drama‘ ist in diesem Zusammenhang nicht gebräuchlich, denn es besteht kein Bezug zur aristotelischen Dramaturgie des antiken Dramas, die dem Drama der Neuzeit zugrunde liegt, im christlichen Mittelalter aber als heidnisch galt. Im geistlichen Spiel, das seinen Ursprung in der kirchlichen Liturgie des Ostersonntags hat, werden zentrale Ereignisse der christlichen Heilsgeschichte szenisch vergegenwärtigt Sie folgen nach dem Prinzip der episodischen Reihung chronologisch aufeinander. Im Mittelpunkt stehen die neutestamentlichen Ereignisse des Lebens Jesu, seiner Passion und seiner Auferstehung, so dass die Passionsspiele und die Osterspiele gegenüber anderen Spieltypen überwiegen – wie etwa den Weihnachtsspielen, den Legendenspielen oder den Weltgerichtsspielen. Die Aufführungen in der Volkssprache der jeweiligen regionalen Mundart fanden an den großen kirchlichen Festtagen statt, besonders zu Ostern und Pfingsten. Gespielt wurde im Freien, auf dem Kirchenvorplatz oder dem Marktplatz. Die Funktionen des Textautors und des Spielleiters nahmen zumeist die städtischen Geistlichen wahr, während die zahlreichen Darsteller der städtischen Bürgerschaft angehörten. Das heißt, dass alle an Inszenierung, Regie und Spiel Beteiligten Laien waren. Mit professionellem Theaterspiel, das es im Mittelalter gar nicht gab, haben diese Aufführungen nichts zu tun. Aus heutiger Sicht ist interessant, dass sämtliche Rollen, auch die Frauenrollen – wie die Gottesmutter Maria oder Maria Magdalena – von Männern gespielt wurden. Als Phänomen der stadtbürgerlichen Kultur erlebten die Spiele im Spätmittelalter bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts ihre Blütezeit. Besonders populär waren die Passionsspiele, die den Leidensweg und die Kreuzigung Jesu weit ausführlicher als die Bibel mit breiter Darstellung grausamer Details vorführten. Das Zentralgeschehen der Passion umfasst in unterschiedlicher Kombination und Ausgestaltung zum einen die Gründonnerstagsszenen vom letzten Abendmahl über die Gefangennahme Jesu bis zur Verleugnung durch Petrus, zum anderen die Karfreitagsszenen von den Verhören durch Pilatus und Herodes über die Kreuztragung und die Kreuzigung auf Golgatha bis zur Grablegung.

Bedingt durch die thematische Perspektivierung auf die Erlösungstat des Heilands greift das Passionsspiel stofflich aber noch weiter aus und bezieht Szenen ein, die die heilsgeschichtliche Bedeutung der Erlösung besonders eindringlich darbieten. Der Passion vorangestellt werden markante neutestamentliche Szenen aus dem Leben Jesu wie etwa Geburt und Taufe und sein öffentliches Wirken mit Krankenheilungen und Predigten und der Bekehrung Maria Magdalenas. Hinzu kommen alttestamentliche Geschehnisse, beginnend bereits mit der Erschaffung der Welt und der Menschen und ihrem Sündenfall.

Die Ereignisse nach der Passion werden zumeist durch Aufnahme von zentralen Szenen aus dem Osterspiel wiedergegeben, so dass sich eine Kombination von Passions- und Osterspiel ergibt. Die Hauptszenen des Osterspiels sind die Auferstehung Christi, seine Höllenfahrt, der Grabbesuch der drei Marien, die Begegnung des auferstandenen Christus mit Maria Magdalena und der Lauf der Jünger Petrus und Johannes zum Grabe. Überdies werden in manchen Spielen auch noch das Pfingstgeschehen und Christi Himmelfahrt vorgeführt. Wie man sieht, eine gewaltige Fülle heilsgeschichtlicher Stoffe, die das Passionsspiel zur facettenreichen, komplexen dramatischen Großform expandieren lässt. Die Aufführungen erstreckten sich vielerorts über mehrere Tage hinweg und wirkten so intensiv, dass man sicher zu Recht von einem mittelalterlichen Massenmedium spricht.

Die Texte, die gesprochen und gesungen wurden, basieren auf vielfältigen Quellen: neben der Bibel auf der kirchlichen Liturgie des Palmsonntags, des Karfreitags und ganz besonders des Ostersonntags. Stoffliche Vorlagen bieten auch apokryphe Evangelien, also Evangelientexte, die nicht kanonisiert sind – wie etwa das weit verbreitete Evangelium Nicodemi – für Szenen wie die Höllenfahrt Christi, das Marienleben, die Kindheit Jesu oder die Szenen um Maria Magdalena.

Der Umgang der Autoren mit den zumeist erzählenden Vorlagen in lateinischer Sprache ist überaus frei. Selbst bei der Überführung biblischer Berichte in dramatische Handlung mit Dialogen in deutschen Reimpaarversen werden oft ganz eigene, die Vorlage verändernde Akzente gesetzt. Auf Wort- oder Handlungsgenauigkeit kommt es trotz der fraglos anerkannten Autorität der Bibel weniger an, zumal auch dann, wenn eine Szene aus unterschiedlichen Darstellungen der einzelnen Evangelien kompiliert wird.

Die Besonderheit der theatralen Realisierung ist die Simultanbühne, eine große Fläche, auf der sämtliche Spielorte eines Spieltages gleichzeitig aufgebaut sind. Ihre Konzeption und Konstruktion visualisiert die christliche Weltvorstellung und lässt über die chronologische Ereignisfolge hinaus den theologischen Sinn des Geschehens transparent werden. Polar nämlich stehen sich als jenseitige Handlungsorte der Himmel mit Gott und den Engeln – im Osten auf erhöhter Position – und die Hölle im Westen mit Luzifer und seinen Gefolgsteufeln gegenüber; dazwischen werden die diesseitigen, die irdischen Spielorte positioniert, womit das permanente Eingespanntsein der Menschen zwischen den transzendenten, im realen Leben ja unsichtbaren Mächten vergegenwärtigt wird, wie auch Gott, Engel und Teufel als dramatische Figuren agieren.

Wesentliches Anliegen des geistlichen Spiels, das von seiner Disposition und Inszenierung her sein Laienpublikum rational und emotional ergreift, ist neben der Glaubensverkündigung die religiöse Belehrung, die bei den zuschauenden Menschen auf individuelle Selbstbesinnung, Sündenerkenntnis, innere Umkehr und Abwendung von der Sünde abzielt. Durch direkte und indirekte Didaxe werden moraltheologische und dogmatische Sachverhalte vermittelt. Zum einen werden die Zuschauer mit predigthaften Lehrreden direkt, frontal angesprochen. Zum anderen erhalten sie durch die gespielten, vor ihren Augen sich vollziehenden Geschehnisse der historischen Heilsgeschichte Vorbilder für tugendhaftes und sündiges Verhalten. Emotional affiziert werden sie ganz besonders über die Erregung von Mitleid – ‚compassio‘ – mit dem zu Tode gemarterten Heiland und seiner Mutter Maria, die sich mit zutiefst erschütternden Klagen und Wehrufen an das Publikum wendet und es auffordert, mit ihr gemeinsam zu trauern. So werden die Zuschauer gleichsam in die Heilsgeschichte hereingeholt, und es wird die Grenze zwischen Bühnenhandlung und Gegenwartsrealität aufgehoben. Hinzu kommen die in die Handlung eingebundenen liturgischen Gesänge und Kirchenlieder, die der Aufführung partiell ein gottesdienstliches Gepräge geben. Die Institution des geistlichen Spiels also ist ein sakrales Ereignis in der spätmittelalterlichen Stadt und erscheint als eine Erweiterung des Gottesdienstes außerhalb der Kirche. Denn durch die unmittelbare Gegenwärtigsetzung des Heilsgeschehens in verständlicher Weise werden hier der Gemeinde christliche Glaubenstatsachen zusätzlich so vermittelt, wie es im strengen rituellen Rahmen des kirchlichen Gottesdienstes nicht möglich ist.

Um nun einen –wenn auch nur sehr begrenzten – Eindruck von solchen Passagen der Passionsspiele zu vermitteln, wie sie besonders unter Luthers Verdikt standen, möchte ich den Ausschnitt aus dem Alsfelder Passionsspiel vorstellen. Dieses Spiel gehört zu den textlich besonders breit entfalteten Spielen der Spätzeit. Es wurde in dem oberhessischen Ort Alsfeld an jeweils drei Tagen hintereinander auf einer großräumigen Simultanbühne ab 1501 aufgeführt. Darstellungsgegenstand ist das irdische Leben Jesu von seiner Taufe über die Passion, den Kreuzestod und die Auferstehung bis hin zum Pfingstgeschehen und zur Erteilung des Missionsbefehls an die Jünger.

Der Beispieltext stammt aus dem Passionsteil und verdeutlicht die von Luther kritisch gesehene Vorführung des menschlichen Leidens Christi. Es ist eine kurze Sequenz aus der umfangreichen, über tausend Verse umfassenden Kreuzigungsszene,die den biblisch gebotenen Stoff eminent überschreitet und mit exzessiver Brutalität gestaltet ist. Nach der Kreuztragung auf Golgatha angelangt, werden Jesus die Kleider weggenommen, und man wirft ihn auf das noch am Boden befindliche Kreuz. Nun folgt in höchst detaillierter Darstellung, wie er an das Kreuz genagelt wird. Die Peiniger Jesu, vier römische Soldaten, verwenden extra stumpfe Nägel, damit die entstehenden Wunden besonders groß werden. Zuerst wird die rechte Hand angenagelt. Da der Körper Jesu den Maßen des Kreuzes aber nicht entspricht, werden ihm die Arme mit Stricken ausgerenkt und so weit auseinandergezerrt, bis dann auch die linke Hand richtig sitzt und durchbohrt werden kann, und dasselbe geschieht mit dem durch beide Füße zu schlagenden Nagel. Dann wird das Kreuz mit dem blutüberströmten Christus zum Schrecken und Entsetzen der Anwesenden aufgerichtet. Die höhnische Erbarmungslosigkeit der Kommentare seiner Peiniger, denen die Juden assistieren, sind auf verbaler Ebene die Entsprechung zu ihrem Handeln und demonstrieren in aller Krassheit die entmenschlichte Haltung der Christusfeinde. Mit dem Beginn der grausamen Annagelung (V. 5594- 5605) soll das Verfahren der dramatischen Umsetzung veranschaulicht werden:

Der zweite der vier römischen Soldaten, die die Kreuzigung ausführen, lässt sich die Marterwerkzeuge aushändigen:

Gebet her stumper nagel dry,

hamer vnd zangen auch da by.

an hende vnd an fusz byndet em strenge

vnd recket en nach des cruczes lenge

bys an der locher zeychen,

das beyn vnd fusz dar an reichenn,

das die neyl da dorch dringenn.

szo magk em wol misselingenn. (V. 5594-5601)

(Gebt mir drei stumpfe Nägel und dazu Hammer und Zange! An Hände und Füße bindet ihm Stricke und streckt ihn entsprechend der Länge des Kreuzes bis zu den Markierungen der Löcher, so dass Arme und Füße dorthin kommen, damit die Nägel sie durchdringen können! So mag es ihm [= Jesus] wohl schlecht ergehen!)

Ein Handwerker reicht ihm die verlangten Gegenstände:

Hye synt stumper neyl dry,

hamer vnd zangen hon ich auch da by. (V. 5602-5603)

(Hier sind drei stumpfe Nägel, und auch Hammer und Zange habe ich dabei!)

Während er mit dem Hammer den Nagel durch seine rechte Hand schlägt, spricht der Peiniger zu Jesus: Dissen neyl slan ich durch dyn recht hant,

pyn vnd smerczen wirt dir do von bekannt. (V. 5604-5605)

(Diesen Nagel schlage ich durch deine rechte Hand, das wird dir Qualen und Schmerzen bereiten!)

Die den Handlungsablauf bestimmenden Figurenreden lassen erkennen, in welcher performativen Breite, Drastik und angestrebten Realitätsnähe die szenischen Vorgänge dem Publikum dargeboten wurden. Vergleicht man die Angaben zur Kreuzigung in den biblischen Evangelien, so stellt man fest, dass dort keinerlei Einzelheiten mitgeteilt werden und die Nägel nur an späterer Stelle im Johannes-Evangelium Erwähnung finden (Übersetzung der im Mittelalter gültigen lateinischen Vulgata): Mt 27,35: Nachdem sie ihn aber gekreuzigt hatten […]; Mc 15,24: Und nachdem sie ihn gekreuzigt hatten […]; Lc 23,33: […] so kreuzigten sie ihn daselbst; Jo 19,18: Da kreuzigten sie ihn; Hinweis auf die Nägel Jo 20,25 (Episode vom ungläubigen Thomas): Wenn ich nicht an seinen Händen das Mal der Nägel sehe und meine Finger in den Ort der Nägel […] lege […].

Die textliche und szenische Ausgestaltung der Passionsereignisse besorgt der üblicherweise auch als Spielleiter fungierende Autor, der das im Zuge einer langen regionalen Spieltradition überlieferte Textmaterial für die aktuelle Aufführung durch Modifizierung, Ergänzung oder Erweiterung aufbereitet. Innerhalb der auf deutschsprachigem Gebiet verbreiteten, durch einen gemeinsamen Grundtext verbundenen ‚Spiellandschaften‘ gehört das Alsfelder Passionsspiel (zusammen mit den Passionsspielen von Frankfurt/Main, Friedberg, Fritzlar und Mainz) zur rheinfränkisch-hessischen Spielgruppe. Vergleichender Untersuchungen ermöglichen es, die Tendenzen und Schwerpunkte der jeweils spezifischen Bearbeitungsverfahren recht genau zu ermitteln und durch Einbezug der historischen Gegebenheiten des jeweiligen Aufführungsortes wichtige Erkenntnisse zur Entwicklungsgeschichte des geistlichen Spiels zu gewinnen.

II.

Inwiefern sich Martin Lutherund mit ihm die reformatorische Bewegung gegen diese geistlichen Spiele gewandt hat, ist nun anhand seiner polemischen Aussagen zu zeigen. Da alle diese Vorwürfe im Begründungszusammenhang der lutherischen Theologie stehen, ist vorab darauf hinzuweisen, dass im Rahmen dieses Vortrags die komplexen theologischen Sachverhalte nicht differenziert dargestellt werden können und sollen – es ist ja kein theologischer Vortrag – sondern nur soweit, wie sie zum Verständnis der Eigenheiten des Reformationsdramas nötig sind. Luther hat zu diesem Thema keine spezielle Abhandlung verfasst, sondern sich in unterschiedlichen Kontexten zu verschiedenen Aspekten wie Glaubenspostulaten, Textauswahl und Inszenierungspraxis geäußert. Festzuhalten ist, dass er dem geistlichen Spiel, insoweit es eine Realisierungsform christlicher Gläubigkeit war, nicht von vornherein negativ gesonnen war. Seine Anerkennung galt der intendierten religiösen Didaxe im propagandistisch genutzten Rahmen der Aufführung. Darauf ist später noch zurückzukommen.

Allerdings gab es glaubensbedingt prinzipielle Einwände, die Luther teils sehr drastisch erhob. Besonders sprach er sich gegen die Passionsspiele aus, in denen Christus verzerrt dargestellt werde, nämlich als leidender Mensch, der zu beklagen und zu beweinen sei. Daraus resultiert entsprechend reformatorischer Vorstellung ein ganz anderer religiöser Stellenwert der Passion für den Christenmenschen. Zu dieser aus seiner Sicht falschen Haltung des Mitleids mit dem Leiden Christi äußert sich Luther in seinem „Sermon von der Betrachtung des heyligen leydens Christi“ von 1519 (WA 2, S. 136-142). Ich zitiere daraus, muss mich aber auf einzelne Textstellen beschränken.

Zur ‚compassio‘, dem im geistlichen Spiel nachdrücklich eingeforderten Mitleiden mit Christus und Maria, sagt er: Sie haben eyn mitleyden mit Christo / yhn zu clagen vnd zu beweynen / alsz eynen vnschuldigen menschen / gleych wie die weyber / die Christo von Ierusalem nach folgeten / vnd von yhm gestrafft wurden / Sie sollten sich selb beweynen vnd yhre kinder [Lk 23,27] Der art seynd die / die mitten / yn der passion / weyt ausz reyszen / vnd von dem abschied Christi zu Bethanien / vnd von der Iunckfrawen Marien schmertzen / viel eyntragen / vnd kummen auch nit weyter / (S. 136; Sie haben Mitleid mit Christus, beklagen und beweinen ihn als einen unschuldigen Menschen – so wie die Frauen, die Christus von Jerusalem aus nachfolgten und von ihm gescholten wurden, sie sollten sich selbst und ihre Kinder beweinen. Solcher Art sind diejenigen, die weit von der Mitte der Passion abschweifen und vieles vom Abschied Christi in Bethanien und den Schmerzen der Jungfrau Maria hinzusetzen, aber doch nicht weiterkommen.)

Christus selbst also habe sich, wie es das Lukas-Evangelium von der Kreuztragung (Lk 23,27) berichtet, deutlich gegen die emotionale Anteilnahme in Form des erwiesenen Mitleids ausgesprochen und habe das als Abschweifung vom Kern der Passion bezeichnet. Dazu gehöre auch das Mitleiden mit den Seelenqualen Marias, der Mutter des Heilands. Denn das Mitleid, das die menschliche Qual Christi beklagt und mitträgt, verhindert die Erkenntnis des eigenen Anteils an Jesu Leiden. Der Mensch nämlich soll in der Marter Christi seine persönlichen Sünden erkennen: wan du die negel Christi sihst durch seyn hend dringen / glaub sicher das deynn werck / seynd. // sichstu seyn doerenn kron / glaub / es seyn deyn boesz gedancken (S. 137; Wenn du die Nägel Christi durch seine Hände dringen siehst, glaube sicher, dass es deine Werke sind; siehst du seine Dornenkrone, glaube, es seien deine bösen Gedanken).

Aus dieser Sicht erwächst dem Gläubigen der individuelle Nutzen des Leidens Christi, nämlich: der nutz des leydens Christi / gar daran gelegen ist / das der mensch zu seyns selb erkentnisz kumme / vnd fuor yhm selbs erschrecke vnd zurschlagenn werden / Vn wo der mensch nit da hyn kommet / ist yhm das leyden Christi noch nit recht nuz worden. (S. 138; Der Nutzen des Leidens Christi liegt ganz und gar darin, dass der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst kommt und vor sich selbst erschrickt und niedergeschmettert wird. Wenn aber der Mensch nicht dahin kommt, ist ihm das Leiden Christi noch nicht in der richtigen Weise zum Nutzen geworden). Das aber kann nur durch das Begreifen der eigenen sündhaften Existenz geschehen, aus der Gottes Gnade den Menschen erlösen kann. Hier konturieren sich der reformatorische ’sola fide‘- und der ’sola gratia‘-Gedanke – allein der Glaube und allein die Gnade: Die Rechtfertigung des Menschen ist nur durch den der göttlichen Gnade vorausgehenden Glauben möglich.

Und noch eine letzte erhellende Aussage: Dan die vbeltether die Iuden / wie sie nu gott gerichtet vnd vortrieben hatt / seynd sie doch deyner sunde diener gewest / vnnd du bist warhafftig der / der durch seyn sunde gott seynen sun erwurget vnd gecreutziget hatt. (S. 138; Denn die Übeltäter, die Juden, wie Gott sie nun gerichtet und vertrieben hat, sind doch deiner Sünde Diener gewesen, und du bist wahrhaftig derjenige, der durch seine Sünde Gottes Sohn getötet und gekreuzigt hat). Ein harter Vorwurf, der im Rahmen dieser Passionsauffassung die Mitleidshaltung gegenüber Christus und Maria als Ausdruck falschen Glaubens erscheinen lässt.

In seiner Fastenpostille, einer Predigtsammlung von 1525 (WA 17,2), wendet sich Luther gegen „narrenteyding“ (Narrengeschwätz) und „affenspiel“ (Affentheater), was den in der Predigt und im geistlichen Spiel verhandelten ernsten Inhalten zur bloßen Unterhaltung der unaufmerksamen Zuhörer und Zuschauer hinzugefügt wird, und nennt ein solches Verfahren, das den Glauben verunglimpft, „unchristlich“: Und sonderlich ist das unchristlich, wo man solche narrenteyding treybt ynn der gemeynde, da man zu samen kompt Gotts wort zu hören und die schrifft zu lernen, // wie sichs denn alle zeyt begibt, wo viel zu samen komen, ob sie gleich zu erst anfahen von ernsten sachen, doch bald fallen auff leichtfertige, lose, lecherliche teydinge, //damit man die zeyt verleuret und bessers verseumet. Wie denn bisher geschehen ist, das man auffs osterfest eyn nerrisch lecherlich geschwetz unter die predigt gemengt hat, die schlefferigen damit wacher zu machen. Und da man zu Weynachten das kindlin gewigt und mit reymen affenspiel getrieben hat, gleich wie auch mit den heyligen Dreykönigen, mit der passio Christi, mit Dorothea und andern heyligen geschehen ist.“ (S. 208f.; Und besonders ist das unchristlich, wenn man in der Gemeinde derartiges Narrengeschwätz verbreitet, wo man zusammenkommt, um Gottes Wort zu hören und die heilige Schrift zu verstehen, wie es denn immer wieder vorkommt, wo viele zusammenkommen, wenn die auch zunächst mit ernsten Dingen anfangen, doch bald auf leichtfertiges, freches und lächerliches Geschwätz verfallen, mit dem man die Zeit verliert und Wichtiges versäumt. So, wie es bisher geschehen ist, dass man am Osterfest ein närrisch-lächerliches Geschwätz in die Predigt eingefügt hat [Rekurs auf den kultischen Brauch des ‚Osterlachens‘ am Ostersonntag anlässlich des Sieges Christi über Hölle, Teufel und Tod], um die Schläfrigen damit aufzuwecken. Und da man zu Weihnachten das Kindlein gewiegt und mit Reimen Affentheater getrieben hat, wie es auch mit den heiligen Dreikönigen, mit der Passion Christi, mit Dorothea und anderen Heiligen geschehen ist). Wegen einer unzulässigen Verweltlichung der ernsten Sachverhalte, wie Luther sie in den gereimten Spieltexten vorfindet, werden hier das Weihnachtsspiel mit dem Brauch des Kindelwiegens, das Dreikönigsspiel, die Passion Christi und die Legendenspiele als „affenspiel“ diffamiert und abqualifiziert.

In der Kritik steht auch das aufwendige Inszenierungsspektakel, das, ganz besonders in der Kreuzigungsszene, zur Profanierung des heiligen Geschehens geführt habe und dessen Ernst und religiös-theologischer Tragweite man so nicht gerecht werden konnte. Der Vorführung mit angemessener Andacht und Ernsthaftigkeit zu folgen und sich auf ihre religiöse Substanz zu konzentrieren, war dem sich vor der Simultanbühne und um sie herum bewegenden und von den Schaueffekten gefesselten Publikum kaum möglich.

Und schließlich ist nach dem strengen reformatorischen Leitprinzip ’sola scriptura‘, der alleinigen Gültigkeit der heiligen Schrift, die weite Entfernung vom biblischen Text, wie etwa am Beispiel des Alsfelder Spiels ersichtlich, und die Vielfalt außerbiblischer Quellen keineswegs zu billigen. So äußert sich Luther in seiner „Dritten Predigt auff den Ostertag“ von 1530 (WA 37) zur Darstellung von Christi Höllenfahrt, die in den Osterspielen (wie übrigens auch in den bildlichen Darstellungen der Sakralkunst) real aufgefasst und dramatisch in einer großen Szene ausgeführt wird. Die Ereignisse der Höllenfahrt aber sind, wie schon erwähnt, nicht in der Bibel, sondern im apokryphen Evangelium Nicodemi enthalten und insofern für die Reformatoren absolut nicht verbindlich. Aus reformatorischer Sicht wird die Höllenfahrt nur geistig, nicht leiblich vollzogen. Luther meint, man solle sich darüber keine tieferen Gedanken machen, weil es ja nicht leiblich geschehen ist, sintemal er [= Christus] die drey tage ja im grabe ist blieben (S. 63). Mehr ist den kanonischen Evangelien dazu nicht zu entnehmen. Daraus resultiert weiter auch, dass Luther keine eigenständige Theologie der Hölle entwickelt und das Fegefeuer negiert hat.

III.

Wenden wir uns nun angesichts all dessen, was von Luther als „lecherey“, „affenspiel“, „narrenteyding“ oder gar „unchristlich“ abgewertet wurde, dem Reformationsdrama zu, um der Frage nachzugehen, welches seine zentralen Kriterien der Intention, Stoffauswahl, dramatischen Form, religiösen Inhalte und Aufführungspraxis sind.

Wie bereits kurz angesprochen, stand Luther dem religiösen Schauspiel nicht prinzipiell ablehnend gegenüber. Als wirksames Instrument zur Verbreitung reformatorischer Glaubensmaximen, verbunden teils auch mit scharfer Polemik gegen die Altgläubigen, konnte das Medium Theater für die Christenlehre und den Glaubenskampf funktionalisiert werden. Luthers Vorgabe für die zu dramatisierenden Stoffe leitet sich aus dem schon erwähnten reformatorischen ’sola scriptura‘- Diktum her, wonach allein die heilige Schrift, also die Bibel, die Autorität für die Heilsbotschaft, die Heilstatsachen und die Heilsgeschichte ist. Von daher schloss Luther nichtbiblische Stoffe und ihre Quellen, wie sie so umfangreich und vielgestaltig das mittelalterliche Spiel prägen, kategorisch aus. Aufgrund seiner Bedenken gegenüber der Darstellung des Christuslebens mit der Entheiligung des Gottesohnes im Bühnenspektakel fielen aber auch diese Passagen aus den kanonischen Evangelien als Dramenvorlagen aus. Das Stoffreservoir für die Dramatisierung biblischer Stoffe sollte nach Luthers Empfehlung vor allem das Alte Testament sein. Neben alttestamentlichen Stoffen -wie etwa Tobias, Judith, Esther, Susanna oder Abraham – werden aber auch neutestamentliche Gleichnisse herangezogen, in denen Christus selbst ja keine handelnde Figur ist, z. B. das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus oder das Gleichnis vom großen Abendmahl. Zum größten Teil also sind die reformatorischen Schauspiele Bibeldramen.

Im Gegensatz zur offenen Form der episodischen Reihung im geistlichen Spiel, in das immer wieder weitere Episoden eingefügt werden konnten, konzentriert sich das Reformationsdrama auf die Dramatisierung jeweils einzelner Episoden, deren Handlung in sich geschlossen ist. Als formales Aufbauprinzip wurde die Einteilung in fünf Akte mit Prolog und Epilog vom lateinischen Humanistendrama übernommen, das im akademischen Umkreis von Universitäten und Lateinschulen gepflegt wurde. Dabei handelt es sich für das deutsche Reformationsdrama allerdings mehr um äußerliche Formkriterien, denn die Gliederung des Handlungsverlaufs nach steigender Handlung, Höhepunkt mit Peripeti und fallender Handlung war in den erzählenden Vorlagetexten häufig nicht angelegt und wurde – wegen der Bibeltreue – auch nicht unbedingt angestrebt. Bei der Umwandlung der biblischen Vorlage in ein aufführungsgerecht dialogisiertes Schauspiel hatten die Autoren auf größtmögliche Nähe zum Wortlaut des Originaltextes zu achten. Prätextfremde Elemente, die notwendigerweise zu einer Dramatisierung gehörten, mussten stets auf das zentrale Thema und die religiöse Botschaft des Stücks ausgerichtet sein und durften nicht etwa als unterhaltendes, womöglich durch Spannungssteigerung vom religiös-didaktischen Anliegen ablenkendes Beiwerk eingebracht werden.

So bezieht das Reformationsdrama seine Legitimation aus der ihm zugewiesenen Funktion eines Mediums der Übermittlung religiös-theologischer und moralisch-lebenspraktischer Belehrung im Sinne der neuen Glaubensrichtung, der sämtliche Gestaltungsaspekte untergeordnet sind. Die Handlung soll insofern vorbildhaft sein, als sie die Bestätigung der göttlichen Ordnung demonstriert, in der sich der Mensch zeitlebens bewähren muss.

Vor diesem für das Reformationsdrama konstituierenden Hintergrund wird verständlich, dass die handlungstragenden Figuren als Exempelfiguren und damit als Typen, nicht als individuelle Charaktere gezeichnet sind. Sie sind eindeutig Gute oder Böse und dienen als Vorbild oder auch als abschreckendes Gegenbild, indem sie bestimmte Grundsätze reformatorischer Ethik und Moral verkörpern oder konterkarieren. Im Sinne der intendierten Didaxe ist die Bewertung des Verhaltens und Handelns der Figuren ein substantielles Element, das durch den Prolog und den Epilog, ausführliche exegetische Kommentare und handlungsimmanent durch Figurenreden realisiert wird. Daher gelten die Methoden der Zuschauerlenkung im Reformationsdrama einer dezidiert rationalen, nicht – wie im geistlichen Spiel – auch emotional-identifikatorischen Rezeption. Jeder Zuschauer soll von den Figuren für sich selbst lernen; er soll sich nicht gefühlsmäßig ergreifen lassen, nicht mitleiden oder mittrauern, sich nicht mitfürchten oder ängstigen. Wenn Figuren unschuldig in schwerste Bedrängnis, oft in Todesgefahr geraten und sich standhaft und glaubensstark bewähren müssen, so sind ihre Klagen nicht auf die ‚compassio‘ der Zuschauer ausgerichtet, sondern darauf, ihnen beispielhaft vorzuführen, wie ein Mensch dazu gelangt, sein Schicksal mit Gottvertrauen und in der Hoffnung auf Gottes Hilfe zu ertragen. Hinzu kommt, dass das Publikum durch den ausführlichen didaktischen Prolog bereits das Vorwissen hat, dass die Geschichte, so schlimm es darin auch zugehen mag, letztlich durch Gottes gnadenhaftes Eingreifen zu einem guten Ende kommt.

Das reformatorische Bibeldrama ist mit seiner ideellen ’sola scriptura‘-Basis und seiner Ausdeutung des Bibeltextes als Exempel ein breitenwirksames Instrument zur Verkündigung von Gottes Wort in gleicher Weise wie die Predigt, nur eben in der performativen Realisationsform des Theaters. Als Elemente des protestantischen Gottesdienstes, dessen zentraler Teil ja die Predigt ist, wurden in die Dramatisierungen auch liturgische Teile einbezogen, nämlich das Gebet als Bitt-, Dank-, Lob- oder Klagegebet und liturgische Formeln wie etwa die Begrüßung des Publikums als die ‚in Christi Namen‘ versammelte Gemeinde und der Kirchengesang in Form von Psalmen und Kirchenliedern. Man kann also durchaus sagen, dass das Bibeldrama als eine besondere Form von Gottesdienst konzipiert war und als solcher von den Zuschauern verstanden wurde.

Die Aufführungen dieser Dramen erzielten eine große Breitenwirkung in allen protestantischen Gegenden, auch in kleineren Ortschaften. Sie waren ganz überwiegend an die Schulen gebunden, von daher spricht man auch vom protestantischen Schuldrama. Die Aufführungen fanden in größeren Räumen, z. B. in Rathäusern, oder auf städtischen Plätzen statt. Mit ihnen sollte – wie mit den mittelalterlichen Spielen – die gesamte Bevölkerung erreicht werden, gerade auch die ungebildeten Zuschauer, die die Bibel und die Erbauungsliteratur selbst nicht lesen konnten. Verfasser der Textbücher waren Pfarrer, Lehrer, oder auch Stadtschreiber. Gegenüber der Wortpredigt hat das dramatische Spiel den Vorteil, die religiösen Inhalte zu veranschaulichen, sie als lebendige Handlung zu zeigen und damit leichter fassbar zu machen. Doch war es ein Grundsatz der protestantischen Theaterpraxis, die Inszenierung schlicht zu gestalten und keine Illusion zu erzeugen, um nicht vom gesprochenen Wort abzulenken. Darsteller waren hauptsächlich die Schüler, aber es konnten auch Spieler aus der Bürgerschaft mitwirken. Als wichtige Veranstaltung für das gesellschaftliche Leben einer Stadt verband eine öffentliche Theateraufführung das Stadtregiment, die Schule, die Kirche und die Bevölkerung – hier wieder analog zum geistlichen Spiel.

Abschließend komme ich nun zum „Susanna“-Drama. Als Bibeltext ist die alttestamentliche Susanna-Geschichte im Buch Daniel, Kap. 13, in der Septuaginta, der Bibel in griechischer Alltagssprache, doch nicht in der hebräischen Bibel überliefert. Gleichwohl nahm Luther sie in einen Anhang zu seiner Bibelübersetzung auf. Er schätzte sie als wichtigen glaubensvermittelnden Text ein und platzierte sie vor den Beginn des Neuen Testaments. Der von Luther zur Dramatisierung empfohlene Susanna-Stoff war im 16. Jahrhundert überaus beliebt und wurde von mehreren Autoren verarbeitet.

Der Verfasser der hier vorgestellten „Susanna“, der Pfarrer Paul Rebhun, lebte von etwa 1500 bis 1546 und wohnte während seines Studiums in Wittenberg zeitweise im Hause Luther, so dass er mit Luthers Ansichten zu Schauspiel und Theater durchaus vertraut war. Die „Susanna“ wurde unter seiner Leitung erstmals 1535 in Kahla, später auch in Zwickau und in Oelsnitz aufgeführt, wo Rebhun als Pastor tätig war.

Die biblische „Susanna“-Erzählung berichtet von der frommen und gottesfürchtigen Susanna, die ein tugendhaftes Leben als Ehefrau und Mutter zweier Kinder führt. Ihre Schönheit hat die Lüsternheit der beiden alten Richter geweckt, die sie – notfalls unter Zwang – verführen wollen. Sie nutzen Susannas Gewohnheit aus, zu einer bestimmten Tageszeit in ihrem Garten ein Bad zu nehmen, indem sie sich im Garten verstecken und zur gegebenen Zeit auf Susanna eindringen. Sie stellen sie vor die Alternative: Entweder Susanna erfüllt ihnen ihr sexuelles Begehren, oder man werde behaupten, sie im Garten beim Liebesspiel mit einem jungen Mann ertappt zu haben. Susanna bleibt standhaft, worauf die beiden Alten sie wegen Ehebruchs verklagen und Susanna zum Tode verurteilt wird. Da greift Gott ein, indem er den jungen Daniel zu Hilfe schickt. Dieser überführt die beiden Alten der Lüge, so dass die unschuldige Susanna gerettet wird, die wahren Schuldigen aber mit dem Tod durch Steinigung bestraft werden.

Als Textbeispielziehe ich die Rede der Susanna aus der 2. Szene des 3. Aktes heran. Es handelt sich um Susannas Entscheidungsrede, nachdem die beiden Richter ihr die Alternative Unzucht oder Tod eröffnet haben. Susanna stellt die zwei Möglichkeiten sachlich abwägend gegeneinander und fällt ihre Entscheidung – natürlich – gegen das böse Ansinnen der Richter. Dann wendet sie sich an Gott, den gerechten Richter, dem sie ihr Schicksal befiehlt und den sie um Rettung bittet. Die Emotionalität ist hier deutlich reduziert; Susannas Angst geht in ihrem Gottvertrauen auf. Der zugrundeliegende Prosatext aus der Lutherbibel ist kurz und prägnant: DA erseuffzet Susanna / vnd sprach / Ah wie bin ich in so grossen engsten / Denn wo ich solchs thu / So bin ich des tods / Thu ichs aber nicht / so kome ich nicht aus ewren henden. Doch wil ich lieber vnschüldig in der Menschen hende komen / denn wider den HERRN sündigen. (Dan 13,22-23)

Die entsprechende Rede der Susanna als dramatis persona (V. 125-150) folgt inhaltlich genau dem Bibeltext, führt aber dessen Fakten weiter aus und vermittelt so dem Publikum eingängig die implizierte Belehrung. Susannas Gottesanrufung, die Rebhun hinzugefügt hat, gibt ein nachdrückliches Beispiel für das von allen Gläubigen geforderte unverbrüchliche Gottvertrauen. Mit den Versen 125-128 verleiht sie ihrer Angst Ausdruck und legt ihre dilemmatische Situation dar: Die angst hat mich beyder seit

Verstrickt mit kumer und mit leydt

Ich greiff zu welchem ort ich woll

So steckts mit gfärlickeit gantz voll

1. Reaktionsmöglichkeit (Vers 129-130): Dann so ich thue nach eurm gepot

So werde ich zu theil dem todt

2. Reaktionsmöglichkeit (Vers 131-136): So abr ich euch thue widerstandt

So fall ich euch in eure handt

Und werd eur straff enpfliehen nicht

Dann ungerecht seind eur gericht

Die unschuld hat bey euch kein stadt

Wenn euch der grym besessen hat

Nun verkündet sie ihre Entscheidung, den Tod durch die Richter zu erleiden, um sündenfrei bleiben zu können (Vers 137-144):

Vil besser aber ist mir das

Das ich mein leben fahren laß

Und leid von euch den todt mit gwalt

Dann das ich mich verßündign salt

Sie bekennt sich zu Gott, dem gerechten Richter, der beim Jüngsten Gericht ihre Sündenlosigkeit mit Gerechtigkeit bewerten wird (Vers 141-144):

Vor got meins herren angesicht

Der aller menschen werck ansicht

Unnd die [= die Werke] wirt all zu seiner zeyt

Auch richten mit gerechtigkeit

Sie schließt mit der Gottesanrufung (Vers 145-148):

Darümb o got und herre mein

Laß dir mein not bevolen sein

Errette mich von dieser handt

Yhr frevel ist dir wol bekandt

Ab Vers 149 ruft sie das Gesinde herbei, und die dramatische Handlung nimmt ihren Fortgang: Wo seit yhr ytzt yhr knecht und meid

Kumt kumt und helfft mir aus dem leidt

Über ihre biblische Bedeutung hinaus erfüllt die Figur der Susanna eine mehrfache Exempelfunktion. Sie beweist ihre Gottesfurcht, indem sie sich an das göttliche Gebot der ehelichen Treue hält und sich nicht der Unzucht hingibt, auch wenn sie weiß, dass das ihr Todesurteil bedeutet. Sie hadert nicht, sondern trägt das ihr von Gott auferlegte Schicksal in Geduld, der von den Reformatoren besonders propagierten Tugend ‚patientia‘, mit Gottergebenheit und Gottvertrauen. Sie selbst fordert am Schluss des Dramas ihre Mitspieler – und damit alle Zuschauer – auf, ihr Schicksal exemplarisch zu sehen (5. Akt, 6. Szene, Vers 489-495):

Last das euch zum exempel sein

Das yhr stets fürchtet Gott den herrn

Yhn liebt / vertrawt / und halt inn ehrn

Dann yhr ja ytzt habt gsehen frey

Wie Gott der her mir gstanden bey

Mich hat errett meinem lebn

Und mich gesund euch widergebn

Rebhuns szenischen Ausweitungen der biblischen Vorlage mit den selbstgeschaffenen Sprechtextpassagen stehen insgesamt im Dienste der belehrenden Aufgabe, indem die Charakteristik der Handlungsträger genauer und deutlicher und die Profilierung des Gegensatzes zwischen den Guten und den Bösen schärfer wird. Dass er sich der Verantwortung gegenüber der Heiligen Schrift wohl bewusst ist, kann man daran erkennen, dass er in seinem Textbuch alle Hinzufügungen zum Bibeltext akribisch markiert hat.

Fazit

Wie dargelegt wurde, nutzen die Autoren der Reformationsdramen das Potential der eminent sozialen Funktion und Wirkung eines Schauspiels und seiner Aufführung, wie sie es vom geistlichen Spiel des Mittelalters her kannten, für ihre reformatorische Glaubenspropaganda. Die Weitergabe christlicher Lehre im Gewand des Theaters wird in der Reformationszeit als wichtiges Mittel der Kommunikation mit dem Publikum und somit einer wirkungsvollen Strategie der Publikumsüberzeugung übernommen. Aufgrund der strikten und einseitigen Ausrichtung auf die glaubenspädagogische Funktion des Schauspiels sind es die diesbezüglichen dramatischen Verfahren, die das reformatorische Drama vom geistlichen Spiel – mit entsprechenden Modifizierungen – adaptiert. Neben der religiösen Grundhaltung, dem Stofflichen und dem Inhaltlichen gibt es Unterschiede in der Aufführung selbst: Während das geistliche Spiel seine Zuschauer mit der Vorführung des Heilsgeschehens an diesem durch emotionales Miterleben selbst partizipieren lässt und immer wieder die Gegenwartsrealität in die heilsgeschichtliche Vergangenheit integriert, bleibt im reformatorischen Drama zugunsten der an der Predigt orientierten Konzentration auf die Wirkkraft des gesprochenen Wortes die Distanz zum historischen Geschehen der Bühnenhandlung und somit der biblischen Vergangenheit gewahrt.

Textquellen:

Alsfelder Passionsspiel, hg. von Johannes Janota, Tübingen 2002.

D. Martin Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deutsch, Wittenberg 1545, hg. von Hans Volz u. a., Darmstadt 1972.

D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883-2000 (WA).

Paul Rebhun, Susanna. Ein Geistlich Spiel von der Gottfürchtigen und keuschen Frauen Susannen (1536), hg. von Hans-Gert Roloff, Stuttgart 1967.

Übersichtsartikel (mit weiterführender Literatur) im Metzler Lexikon Literatur, 3 Aufl. Stuttgart/Weimar 2007:

Elke Ukena-Best, Geistliches Spiel (Sp. 270-271); Passionsspiel (Sp. 574); Osterspiel (Sp. 562); Christoph Fasbender, Reformationsdrama (Sp. 634); Helmut Weidhase, Reformationsliteratur (Sp. 634-635).