Kaiser und Kreuzfahrer

im Geschichtswerk einer Fast-Kaiserin

Vortrag von Regina Urbach im Rahmen der Ausstellung „Hoher Mut, Liebe, Protest“ (22.10.20)

Anna Komnene (1083-1154), Tochter des Kaisers Alexios I.

Die „Alexias“, die Geschichte der fast 40-jährigen Regierungszeit des byzantinischen Kaisers Alexios Komnenos (reg. 1081-1118), ist eine der wichtigen Quellen für die byzantinische Sicht auf die Zeit des Ersten Kreuzzugs: auf die Normannenführer Robert Guiskard und Bohemund, auf die Korrespondenz mit Salierkaiser Heinrich IV. und auf Kämpfer und Soldaten aus dem „Westen“. Hier haben wir es mit einer kaisernahen Quelle zu tun. Die Verfasserin Anna Komnene war die älteste Tochter des Kaisers und wäre zweimal fast selbst Kaiserin geworden. Wäre sie ein Junge gewesen, wäre es so gut wie sicher dazu gekommen. Es gibt nur wenige bekannte Historikerinnen mit einem gut überlieferten Werk. Befragen wir nun diese Quelle, wie sie ihre Zeit wahrgenommen hat und blicken wir hinüber auf die Welt von Byzanz und seiner Kaiser und Kaiserinnen, auf die auch das zeitgenössische Kaisertum im Westen begehrliche Blicke warf. Auch die Historiografie gehört zu den Säulen kaiserlicher Macht.

Nach dem Tod des Vaters hat Anna, so wird bis heute landläufig dargestellt, die Nachfolge ihres Bruders Johannes bekämpft und wollte mit einem Putsch ihren eigenen Gemahl (und sich selbst) auf den Kaiserthron heben. Dies sah ich zunächst nur als Anekdote am Rande.

Geächtet wegen politischer Ambitionen der Verfasserin?

Die Alexias wurde vom Historiker Edward Gibbon im 18. Jahrhundert wegen ihrer Herrschaftsnähe als tendenziös abgetan, ihre rhetorische Kunstfertigkeit als „geschwätzig“, die Verfasserin als „arrogant“ und selbstbezogen. Auch das, was über Annas Biographie als bekannt gilt – ihr Putschversuch gegen ihren Bruder – brachte Anna keine Sympathien bei vielen Historikern des 19. Jahrhunderts ein. 2016 nahm dies die amerikanische Byzantinistin Leonora Neville zum Anlass, Leben und Werk der Anna Komnene noch einmal kritisch zu durchleuchten. Es gelang ihr eine umfassende literarische Würdigung und Neubewertung der „Alexias“ aus einem gender-sensibilisierten Blickwinkel. Neville bezweifelt sogar die Historizität von Annas Putsch- oder sogar Mordversuch gegen ihren Bruder. Sie verfolgt den oft gar nicht mehr quellenkritisch hinterfragten Weg der Geschichte von der gescheiterten und verbitterten Möchtegern-Kaiserin durch die byzantinistische Bearbeitung, angefangen von Charles Lebeau im 18. Jahrhundert bis hin zu den Standarddarstellungen des 20. Jahrhunderts wie Steven Runciman (1949) Charles Diehl (1963) oder Ralph Lilie 1994. Folgt man ihrer Lektüre, so haben Ressentiments gegen eine Frau als Historikerin und politische Akteurin bis ins 20. Jahrhundert den Umgang mit ihrem Geschichtswerk bestimmt. Grundlegend sind hier bereits Äußerungen des byzantinischen Historikers Niketas Choniates. Neville arbeitet heraus: Die Alexias sei nicht tendenziöser als andere zeitgenössische Werke, allen voran das des Begründers ihres schlechten Rufes, des Niketas Choniates.

Niketas Choniates war ein hoher Beamter der kaiserlichen Administration unter Alexios‘ Enkel Manuel Komnenos. Die Eroberung Konstantinopels im Zuge des Vierten Kreuzzugs durch die Lateiner im Jahre 1204 vernichtete seine Existenz und erschütterte sein Weltbild. Er konnte nur sein nacktes Leben und das seiner Familie retten und siedelte nach Kleinasien über. Sein Geschichtswerk Chronicae Diegesis sucht nach möglichen Ursachen für diese Katastrophe. Eine Antwort findet er in der moralischen Verderbtheit der byzantinischen Kaiserfamilien, allen voran der Komnenen. Ein Aspekt der „widernatürlichen“ Verhältnisse in dieser Familie sei der „mannhafte“ Ehrgeiz der Anna neben der „unmännlichen“ Unentschlossenheit ihres Ehegatten Nikephoros Bryennios gewesen. Denn anders als Anna wollte dieser nicht Gegenkaiser gegen den Schwager Johannes werden. Eine aktive selbstbewusste Rolle galt für eine byzantinische adlige Dame als unschicklich. Am Rande sei angemerkt, dass Choniates seine eigene Frau gut unter Verschluss vor der Öffentlichkeit gehalten haben soll.

Anna war da anders. Sie schreibt in der Alexias:

Ich schreibe Geschichte als Frau, und als eine, die in der Porphyra geboren ist als der kostbarste und erstgeborene Spross des Alexios.

Alexias, Übers. Reinsch, S. 543

Anna tat alles, was byzantinischen Prinzessinnen nicht anstand: Sie erfreute sich einer umfassenden klassisch-griechischen, also heidnischen Bildung. Sie disputierte mit Gelehrten in ihrem Haus. Sie begleitete ihren Vater auf Feldzügen im Feldherrnzelt. Und wie so mancher Feldherr (etwa Xenophon, Thukydides) schrieb sie selbst Geschichte. Bei ihren Zeitgenossen war sie als Verfasserin philosophischer und poetischer Werke geschätzt.

Wer war diese Anna Komnene?

Anna wurde 1.12.1083 im Purpurgemach als erste Tochter des Kaisers Alexios I. geboren. Sie erhielt eine universale Bildung in Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik, Medizin, Philosophie und Rhetorik.

Schon bald nach ihrer Geburt wurde sie mit dem neunjährigen Konstantin Dukas, Sohn des früheren Kaisers Michael Dukas, verlobt. Konstantin und Anna nahmen den ersten Rang in der Thronfolge ein. Kaiserliche Ehren wurden ihnen zuteil:

[Konstantin unterschrieb] „…in den Schenkungsurkunden zusammen mit [Alexios] mit roten Schriftzügen“ und begleitete ihn „bei den Prozessionen mit der Tiara“. Man akklamierte ihnen an zweiter Stelle hinter Kaiser Alexios.

Alexias, Übers. Reinsch, S. 212

Einer von Annas Tutoren habe um sein Augenlicht gefürchtet, da die junge Anna ihn ständig nach neuen Aristoteles-Kommentaren fragte. Doch 1094 starb Konstantin. Mit 15 Jahren heiratete Anna den Mann, den ihre Eltern für sie aussuchten, Nikephoros Bryennios aus einer der Kaisersfamilien. Er schrieb später selbst ein Geschichtswerk und führte mit Anna einen gelehrigen Disput-Zirkel mit den bedeutendsten Köpfen ihrer Zeit. Annas Bildung war Gegenstand großer Bewunderung durch die Zeitgenossen. Auch während der Regierungszeit ihres Bruders scheint sie weiterhin gesellschaftliches Ansehen genossen zu haben. Sie leitete ein Krankenhaus und schrieb ein Traktat über Gicht. Vier ihrer Kinder wurden in angesehene Positionen verheiratet. Erst ab etwa 1143, während der Herrschaft ihres Neffen Manuel und nach der Herrschaft ihres Bruders Johannes, schrieb sie die Alexias nieder. Als Gegendarstellung, quasi als idealisierte Kaiserherrschaft ihres Vater? Als Kompensation der Fast-Kaiserin, die nicht selbst regieren durfte? Oder als Verarbeitung ihres Kummers, wie sie selbst schreibt?

Die Alexias: literarische und Quellen-Qualität

Annas Darstellung unterschiedet sich stark von einer Chronik, die schon am Anfang verrät, wie eine Geschichte ausging. Sie liest sich wie ein dokumentarischer Roman. In Alexios‘ Herrschaft gibt es keine zwei Monate Ruhe, ständig bleibt eine Spannung aufrecht erhalten. Kunstvoll komponiert und entwickelt Anna verschiedene Erzählstränge und macht den Ausgang dieser Geschichten spannend.

Sie ist sich bewusst, was von guter Geschichtsschreibung erwartet wird:

Einen Teil der Fakten kenne ich aus eigener Anschauung, anderes habe ich von denjenigen erfahren, die den Autokrator auf seinen Feldzügen begleitet haben, wobei ich mich  darüber auf verschiedene Weise durch Gewährsmänner informiert habe; (…) habe selbst oftmals mit eigenen Ohren gehört, wie der Autokrator (…) davon erzählte.

Alexias aaO. S. 502

Den größten Teil der Zeit war ich mit meinem Vater zusammen … ich habe mein Leben nicht im Schutze des Hauses, im Schatten und im luxuriösen Müßiggang zugebracht.

Alexias aaO. S. 501

Also: Vielfältige Quelleinsicht aus erster Hand. Dokumente und Verträge, die ihr vorlagen, zitiert sie im Wortlaut. Dazu gehört ein Brief an Salierkaiser Heinrich IV., auf den später noch eingegangen wird.

Literarisch bewegend gelingt ihr die Schilderung vom Sterben ihres Vaters und dem Übergang der Herrschaft auf ihren Bruder. Beim zeitgenössischen Historiker Johannes Zonaras, einem Zeitgenossen und vermutlich Palastbediensteten des Alexios und damit wichtige Parallelquelle für dessen Herrschaft, finden sich drei Versionen dafür, die er selbst nicht bewerten will. Demnach habe Johannes Komnenos nur kurz am Sterbeabend bei Alexios vorbeigeschaut, um sich zu vergewissern, dass es zu Ende ging. Rasch sei er mit einem Teil von Alexios‘ Gefolge in den Kaiserpalast gegangen und habe sich dort akklamieren lassen- während der alte Kaiser noch die letzten Atemzüge tat.

Version 1:

Man sagt, die Kaiserin habe dem sterbenden Kaiser erregt über den Fortgang seines Sohns berichtet, doch er äußerte sich nicht dazu, weil er es nicht wollte oder konnte. Er habe nur seine Hände hoch erhoben: ob, um für seinen Sohn zu beten oder ihn zu verfluchen, weiß ich nicht.

Version 2:

Andere sagen, der Sterbende habe seine Hände nicht erhoben, da er dies nicht mehr konnte. Als die Kaiserin immer wieder rief: “Dein Sohn reißt die Herrschaft an sich, während du noch lebst!“, habe er kurz schwach gelächelt. Belustigte ihn der Gedanke an die Herrschaft, wo er seine letzten Atemzüge tat und schon bald alles Irdische hinter sich lassen und nur noch sein Seelenheil im Sinn haben würde?“

Version 3:

Der purpurgeborene Kaiser Johannes selbst sagte, er habe die Übergabe der Herrschaft nicht ohne väterliche Zustimmung vorbereitet. Vielmehr sei er von seinem Vater angewiesen worden, von ihm seinen Ring als ein Zeichen entgegenzunehmen. Die sei geschehen, als die Kaiserin nicht anwesend war, diese habe keine Kenntnis von dem Vorgang gehabt.

Übers. n. d. engl. Zonaras-Ausg. (XVIII, 28, 15-29; lat. Übers. S. 761f).

Bei Niketas Choniates, der im übrigen auch zwei Versionen anbietet, erscheint die Rolle des Johannes besonders verwerflich:

Johannes sah, dass sich die letzten Tage seines Vaters näherten, seine Mutter ihn anscheinend nicht mehr liebte und das Reich von seiner Schwester verwaltet wurde. (…) Ohne dass seine Mutter es mitbekam, betrat er das Schlafzimmer seines Vaters und warf sich wie in Trauer nieder. Dabei entwand er heimlich den Ring von des Vaters Hand.

Und Anna? Sie praktiziert die Kunst der Andeutung und beredten Auslassung:

Der Nachfolger im Kaiseramt aber hatte sich schon vorher unauffällig in seine Privatgemächer davongemacht, nachdem er erkannt hatte, dass der Tod des Basileus noch während der Nacht eintreten werde. Er hatte es sehr eilig fortzukommen.

Alexias aaO.; S. 555

Wir können aus all dem nur einigermaßen schließen: Es gab keine eindeutige Herrschaftsübergabe. Der Gerechtigkeit halber sei aber anzumerken, dass Johannes in den 25 Jahren seiner Regierung beliebt wurde und den Beinamen “der gute Johannes“ (Kaloioannis) erhielt.

Alexios Komnenos war ursprünglich Feldherr unter Nikephoros Botaneiates, einem von mehreren aufeinanderfolgenden älteren Usurpatorkaisern. Dem jungen Alexios kamen Gerüchte zu Ohren, er solle vorsorglich geblendet werden, um Kaiser Nikephoros nicht gefährlich zu werden. 1081 rebellierte er. Im Zuge der Kämpfe wurde Konstantinopel von Alexios’ Truppen geplündert.

Alexios Komnenos musste das Unmögliche versuchen und erhebliche Gebietsverluste kompensieren. Zunächst war die Lage des Reiches katastrophal. In der Schlacht von Mantzikert zehn Jahre zuvor (1071) waren die Byzantiner unter Kaiser Romanos Diogenes vernichtend von den Seldschuken in Kleinasien geschlagen worden. Sogar der Kaiser selbst wurde gefangengenommen und nur gegen das Versprechen eines Friedensvertrags freigelassen. Doch zurück in der Hauptstadt, wurde der Kaiser abgesetzt, geblendet und auf die Prinzeninseln verbannt, wo er bald an den Folgen starb. Es folgten  mehrere Usurpatoren, unter anderem Nikephoros Botaneiates. Die Seldschuken hatten ihre Hauptstadt nach Iznik/ Nikäa nur 140 Kilometer von Konstantinopel und fast direkt vis à vis verlegt. Ebenso drängten die nomadischen Reitervölker der Petschenegen, Uzen und Kumanen vom Schwarzen Meer über die Donau in den byzantinischen Balkan vor. Von beiden Seiten war die byzantinische Hauptstadt mehrfach direkten Angriffen ausgeliefert. Alexios musste zunächst das Überleben des Reiches sichern, woran seine Vorgänger mangels Feldherrnerfahrung gescheitert waren. Vor Augen standen ihm die Grenzen, wie sie 100 Jahre zuvor noch bestanden hatten.

Erwartungsgemäß steht die Herrschaft ihres Vaters bei Anna in grundsätzlich positivem Licht. Auf die Charakterisierung des Alexios durch Anna soll hier nicht ausführlich eingegangen werden. Stichpunktartig seien sie hier umrissen:

    • Großzügig
    • Intellektuell jedem Disput gewachsen
    • Ausgewogen
    • Fromm
    • Versiert in Diplomatie
    • Fingerspitzengefühl
    • Menschenkenntnis

Aus heutiger Sicht besonders bemerkenswert ist die fast missionarische Frömmigkeit des Alexios, selbst im Feld oder vor einer wichtigen Schlacht.

Nicht auf Männer, Pferde und Kriegslisten setzte er seine Zuversicht, sondern auf das Vertrauen auf den Beistand von oben.

Alexias aaO., S. 278

Und er habe vorgehabt, die Petschenegen etc….

(…) in unsere Glaubensgemeinschaft zu führen und auch  ganz Persien und alle jene Barbaren, die Ägypten und Libyen bewohnen und in den Kultfeiern Mohammeds ihre Erfüllung suchen.

Alexias aaO., S. 229

Fehler, Historiographie und Rhetorik

Viele von den Fehlern des Kaisers kennen wir nur durch Annas Werk. Interessant wird es, wenn sie Fehler erwähnt, wozu sie sich als Historikerin ja verpflichtet:

Wo immer ich sehe, dass mein Vater Fehler begangen hat, setze ich mich geradezu über das Gesetz der Natur hinweg und halte mich strikt an die Wahrheit; denn mir ist zwar auch mein Vater lieb, doch lieber ist mir die Wahrheit.

Alexias aaO., S. 501

Doch als voll ausgebildete Rhetorikerin entwickelt Anna kreatives Geschick, um mit solchen Fehlern umzugehen. Zu den Plünderungen von Konstantinopel durch Alexios‘ Männer sagt sie beispielsweise:

Der Autokrator aber, der von Kind an eine gute Erziehung genossen hatte und sich nach den Mahnungen seiner Mutter richtete, und der daher die Gottesfurcht fest in seinem Herzen trug, hatte heftige Gewissensbisse wegen der Plünderung der Stadt (…).

Alexias aaO, S. 118

Das war das erste Argument zu seiner Rechtfertigung: Reue. Außerdem führt sie weitere ins Feld.

Argument 2: Es waren es nur seine Leute, er selbst war nicht treibende Kraft.

Argument 3: Niemand solle Alexios deswegen verurteilen. Denn keiner, der Verantwortung trägt und Lebenserfahrung sammelt, sei selbst frei von Schuld. Wer Alexios deswegen verurteile, sei dünkelhaft und habe vermutlich selbst wenig Regierungserfahrung.

Und als Argument Nummer 4 schildert sie, wie sich Alexios von Geistlichen für diese Missetaten Buße auferlegen ließ: Fasten, Schlafen auf dem nackten Boden, Sackleinen unter dem Purpurmantel tragen.

Die Kunst des Argumentierens tritt uns auch entgegen, als der Kaiser in der Schlacht vor der sicheren Gefangennahme flieht:

Da er aber wusste, dass die Gefahr ganz unabweislich war, hielt er es für seine Pflicht, sein Leben zu retten, um erneut (…) zu kämpfen und (…) ein starker Gegner sein zu können.

Das hätte sicher so mancher seiner Soldaten auch gerne so gesehen!

Ganz verkünstelt wirkt die Rechtfertigung für einen Affront des Kaisers gegen Kirchengesetz und religiöse Gefühle. Er konfiszierte Kirchenschätze, um Soldaten zu bezahlen.

Argument 1: Zunächst legt Anna die Idee Alexios‘ Mutter und seinem Bruder in den Mund.

Argument 2: Sie argumentiert mit dem Gesetz, das die Verwendung von Kirchengut für den Freikauf von Kriegsgefangenen gestattet, mit einem abenteuerlichen Analogieschluss:

[Erlaubt ist,](…) die geweihten Schätze der heiligen Kirchen Gottes zum Zwecke der Rettung von Kriegsgefangenen zu veräußern (sie sahen auch, dass diejenigen Christen, die in Kleinasien unter der Barbarenherrschaft lebten und dem Massaker entkommen waren, durch das Zusammenleben mit den Ungläubigen befleckt wurden).

Sprich: Die christliche Bevölkerung Kleinasiens wird als potenzielle Kriegsgefangenen der Seldschuken gesehen. Soldaten, die gegen die Seldschuken kämpfen, sind eine Form, sie von dieser Gefahr loszukaufen- quasi prophylaktisch. Übrigens:  Der original so verschachtelte Satzbau spiegelt hier die logischen Windungen wunderbar wieder, wie ich meine.

Als weitere Argumente  führt sie schließlich an: Es sei nur…

eine geringe Menge der seit langer Zeit nicht mehr benutzten und beiseitegelegten geweihten Schätze, die keinem Zwecke mehr dienten, sondern der Menge nur einen Anlass zum Kirchendiebstahl und zum Sakrileg boten, (… ) als Rohmaterial für Münzgeld für den Sold der Soldaten und Bundesgenossen verwendet worden.

Alexias, aaO. S. 166f.

Der Metropolit von Chalkedon sah dies nicht so und wurde letztendlich von Alexios dafür verbannt (S. 169).

Die Herrschaft einer Kaiserin

Zu Beginn seiner Herrschaft bevollmächtigte Kaiser Alexios häufig seine Mutter Anna Dalassene mit den Regierungsgeschäften, wenn er nicht in der Hauptstadt weilte. Dies ist Anna eine positive Hervorhebung wert. Da die Großmutter für Anna „in allem Erzieherin und Führerin“ war (S. 121), liegt die Vermutung nahe, dass sie die Herrschaft einer Kaiserin, etwa auch für den Fall ihrer Mutter Irene oder auch für sich selbst unter ähnlichen Vorzeichen befürwortete. Die byzantinische Geschichte kennt zahlreiche Regentschaften von Kaiserinwitwen für ihre minderjährigen Söhne und starke Kaiserinnen. Pflichtgemäß verbeugt sich Anna zwar vor dem Ehrenkodex für vornehme Byzantinerinnen und beschreibt sowohl ihre Mutter als auch ihre Großmutter als frei von jeglichem politischen Ehrgeiz, als geradezu nonnenhaft zurückgezogen.

Dennoch scheint sie gutzuheißen, was sie von Alexios‘ Bevollmächtigung der Anna Dalassene schildert. Er holt den Rat seiner Mutter ein, gab ihr…

nach und nach Anteil an der politischen Führung der Staatsgeschäfte, obwohl ihr eigenes Trachten auf ein höheres Leben gerichtet war.

Alexias aaO., S. 120f

Er und seine Mutter seien „eine Seele in verschiedenen Körpern“ gewesen:

Er besaß die äußere Hülle der Kaiserherrschaft, sie hingegen die Kaiserherrschaft selbst; sie erließ Gesetze, lenkte alles und saß allem vor. Er bestätigte ihre Regierungsakte mit der Hand oder durch sein Wort. Er war ihr sozusagen ein Werkzeug der Kaiserherrschaft, nicht aber ein Kaiser.

Alexias aaO., S. 125

Als er auf einen Feldzug ging, soll er ihr die gesamte Verwaltung überlassen haben. Per kaiserlicher Urkunde (Chrysobull) legitimierte er all ihre schriftlichen Verfügungen, Urteile, Fiskus-Angelegenheiten dauerhaft (S. 122).

Die Herrschaft ihrer Großmutter kann also als Annas Vorstellung von einer idealen Kaiserinnenherrschaft gesehen werden. Bei den persönlichen Eigenschaften hebt sie dabei die moralische Integrität hervor: Anna Dalassene habe den zuvor übel beleumundeten Kaiserpalast zum „heiligen Ort klösterlicher Einkehr“ gemacht. Ihr Charakter halte die Balance zwischen…

aufrechter Strenge und menschenliebender Milde (…). Ihr inneres Wesen aber neigte zur Reflexion, indem sie immer wieder neue Konzepte entwickelte (…), welche die bereits völlig korrumpierte kaiserliche Macht wieder zu voller Größe zurückführten und das Gemeinwohl, das den absoluten Tiefpunkt erreicht hatte, nach Kräften wieder aufrichteten.

Alexias aaO., S. 126

„Barbaren“

Wie stellte Anna nichtbyzantinische Völker dar, unter anderem auch Krieger und Ritter aus Westeuropa?

Zunächst einmal hielt sie es mit ihren antiken griechischen Vorbildern. Nichtgriechen werden als „Barbaren“ wahrgenommen. Das Wort ist lautmalerisch, da angeblich alle Sprachen außer der schönen griechischen sich anhörten wie „br-br“. Von diesem Wort leitet sich übrigens auch das bis heute gebrauchte Wort für die nordafrikanischen Berber ab.

Bei Anna und anderen byzantinischen Autoren werden Fremdvölker und Ortsnamen häufig mit antiken, seit 1000 bis 2000 Jahren überholten Bezeichnungen versehen. Wichtiger als sich korrekt über die Feinde zu informieren scheint Anna die Sicht der eigenen Geschichte in Kontinuität zur griechischen Antike. So werden die Seldschuken zu „Persern“. Petschenegen und Kumanen, erst seit wenigen Hundert Jahren im Schwarzmeerraum siedelten, werden zu halb mythischen „Skythen“. Muslime allgemein, ob Seldschuken oder Araber, sind bei ihr Sarazenen (S. 149) Ismaeliten (Söhne von Abrahams unehelichem Sohn Ismail) oder „Hagarener“ (Nachkommen von Abrahams Magd Hagar). Vermutlich war es einfach guter Stil, sich wie eine klassische Griechin auszudrücken.

Die „Barbaren“ also erscheinen bei Anna als hitzig, unüberlegt, kopflos, tollkühn, treulos, wankelmütig und grenzenlos geldgierig.

Das ganze Barbarenvolk ist fast immer wankelmütig und von Natur aus nicht in der Lage, einen Vertrag einzuhalten.

Alexias, aaO:, S. 250

Die Kumanen, die als Barbaren Leichtsinn und Wankelmut gleichsam als Teil ihrer Natur besaßen, (…).

Alexias aaO., S. 326

[Kumanen] die danach dürsten, Menschenblut zu trinken und sich an Menschenfleisch zu sättigen, (…).

Alexias aaO., S. 321

[Die Petschenegen] sind von Natur aus ein sehr kriegerischer Stamm, und sie sind immer begierig darauf, das Blut von Menschen zu schlucken, wie Hunde.

Alexias aao., S. 230

Anna erwähnt im Heer des Kaisers verschiedene Kontingente aus Fremdvölkern. Ein Kontingent aus Seldschuken heißt bei ihr „Ungläubige“ (S. 154). Muslime sind für Anna „Söhne Ismaels, die uns schon von jeher heimtückische Nachbarn waren.“ (S. 333).

Keine Differenzierung zeigt sich dabei für das zu ihrer Zeit bereits symbiotische Verhältnis zu den kleinasiatischen Seldschuken, die sich, angelehnt an „Rum“= Byzanz „Rumseldschuken“ nannten und in ihren kleinasiatischen Sultanaten byzantinische Lebensweisen nachahmten.

Selbst für armenische Christen verwendet Anna an einer Stelle das Wort „Unglauben“, als diese nämlich einem Ketzer namens Neilos Gehör schenkten. Neilos sei „ein Ferment ihrer Ungläubigkeit“ gewesen, schreibt sie.(S. 318). Zur Erklärung: Die armenische Kirche bezeichnet sich zwar auch als „orthodox“, weicht aber bei der Frage nach der göttlichen und der menschlichen Natur Christi vom byzantinischen Dogma ab.

Westler und Kreuzfahrer

Mit den Bezeichnungen „Franken“, „Kelten“ oder „Lateiner“ werden Menschen aus dem Westen bezeichnet, die auch als Kontingente im byzantinischen Heer zu finden waren. Zur Zeit des Alexios mussten Heere immer wieder ad hoc für einen bestimmten Feldzug rekrutiert werden. Als Bezahlung wurde ihnen in der Regel der Einbehalt von geplünderter Beute versprochen. (Daher vielleicht ihre „grenzenlose Habgier“?)

Seit etwa 100 Jahren vertrauten byzantinische Kaiser auf eine Leibwache von Warägern (Skandinaviern oder Briten), die eine Axt über der Schulter trugen (S. 95). Es gab Kontingente von „Franken“ (Lateinern) und von (britischen oder deutschen) „Kelten“ (S.150). Die Kampfkraft dieser Menschen verdient Annas Bewunderung. Ein Kompliment an den Feind bedeutet Annas Lob eines byzantinischen Reiters:

Wenn man ihn galoppieren sah, so konnte man meinen, er sei kein Romäer, sondern stamme von einem Normannen ab.

Alexias aaO., S. 327

Sowie:

Jeder Kelte ist zu Pferde unwiderstehlich im Ansturm und unerträglich anzuschauen.

relativiert sie jedoch:

Wenn er aber vom Pferd absteigt, ist er teils wegen der Größe seines Schildes, teils auch, weil seine Schuhe ganz ungeeignet sind für Sprünge und zum Laufen, leicht zu überwinden.

Alexias aaO., S. 182

Die Alexias gilt als wichtigste byzantinische Quelle zur Ankunft der Kreuzfahrer im byzantinischen Reich. Anna erwähnt weder einen Hilferuf des Alexios noch auch die Rolle von Papst Urban II. Folgen wir ihrer Erzählung, so bezweifelt sie fromme Motive und argwöhnt als eigentliches Ziel das, was 1204, gut 120 Jahre später, tatsächlich eintrat: eine Eroberung des byzantinischen Reiches.

[Peter der Einsiedler und nicht etwa Papst Urban II.] senkte gleichsam eine göttliche Stimme in aller Herzen und brachte die Kelten in sämtlichen Ländern dazu, sich von allen Richtungen her mit Waffen und Pferden (…) zu versammeln.

Alexias aaO., S. 335

Bei ihren Aufenthalten in Konstantinopel und Kleinasien wirft Anna den Kreuzfahrern respektloses Auftreten, Geschwätzigkeit und Geldgier vor. Kaum einer sei bereit gewesen, Alexios als christlichem Oberherrn den Lehenseid zu leisten und die eroberten Gebiete in Kleinasien dem byzantinischen Reich zurückzugeben. 

Wer hätte nicht von den unzählbar großen Massen jener Kelten gehört, die in die Kaiserstadt kamen? Damals stürzte Alexios in ein unermesslich tiefes Meer von Sorgen, da er erkannt hatte, dass sie von der Kaiserherrschaft der Romäer träumten.

Alexias aaO., S. 490

Anna weist den Kreuzfahrern eine Mitschuld an der Verschlimmerung der Rheuma-Erkrankung und tiefen Erschöpfung ihres Vaters zu.

Robert Guiskard: Ein ebenbürtiger Gegner

Wenn Anna normannische Heerführer persönlich kennengelernt hat, so waren es Robert Guiskard und vor allem sein Sohn Bohemund. Als hartnäckige „Geißeln“ der Herrschaft des Alexios zollt sie ihnen erstaunlichen Respekt.

Ein hervorragender Herrscher, intelligent, mit edlen Zügen, von urbanem Witz in seinen Reden und schlagfertig; seine Stimme war kräftig, er war leutselig, von großer Statur, trug sein Haar immer eng am Kopf anliegend und hatte einen dichten Bart. (….) Bis zum Ende bewahrte er das blühende Aussehen seines Gesichtes und des gesamten Körpers und war stolz auf die Merkmale, durch die seine Erscheinung für „würdig eines Throns“ befunden wurde.

Alexias aaO., S. 210

Dieser Robert war ein äußerst beherzter und keiner Gefahr ausweichender Mann, andererseits aber ein Mensch voll unbarmherziger Schärfe, und er hatte den Jähzorn in den Nüstern sitzen. Sein Herz war voller Leidenschaft und Groll. Mit seinen Gegnern im Gefecht erging es ihm so, dass er entweder den Kontrahenten mit der Lanze durchbohren oder aber sich selbst umbringen wollte, aus dem Leben scheidend nicht, so wie man sagt, gemäß dem von der Moira zugesponnenen Faden.

Alexias aaO. , S. 161

Bemerkenswert erscheint Anna, dass Robert nach einer Niederlage nie verzagte, sondern ihm „noch größerer Mut zuwuchs.“ (S. 202)

Er war ein Mensch, auf welchen nichts Eindruck machen konnte und der, glaube ich, darum betete, sein Leben möge nur so lange währen, wie er in der Lage sei zu kämpfen.

Alexias aaO., S.140

Annas größte Kritik an Robert gilt seiner unersättlichen Habgier, die ihn ihrer Meinung nach zu seinen Angriffen auf altes byzantinisches Gebiet in Italien und dem heutigen Albanien trieb:

Auf der anderen Seite war er sehr geizig und voller Gier nach Gold, hatte ganz und gar die Mentalität eines Händlers und war sehr auf Besitz aus und dazu äußerst ruhmgierig (…) So ist das ganze Lateinervolk: aufs Geld versessen und gewohnt, für eine Obole selbst das, was ihnen das Liebste ist, zu verkaufen.

Alexias aaO, S. 207

Denn ein habgieriger Mensch unterscheidet sich, wenn er an die Macht kommt, in nichts vom Wundbrand, der, wenn er einmal einen Körper befallen hat, nicht eher halt macht, als bis er ihn ganz durchwandert und zugrunde gerichtet hat.

Alexias aaO., S. 144

Annas ambivalenter Lobgesang auf Roberts Sohn Boemund, einen der prominenten Kreuzzugsführer, lässt einen heute noch schaudern:

Dieser Mann hatte auch etwas Gewinnendes an sich, es wurde jedoch durch das Furchteinflößende (…) wieder zunichte gemacht. Denn dieser Mensch wirkte in seiner gesamten äußeren Erscheinung durchaus grausam und wild; das rührte von seiner Größe und von seinem Blick her, und auch sein Lachen, glaube ich, klang für die anderen wie ein ärgerliches Schnauben. An Seele und Körper war er so beschaffen, dass bei ihm sowohl der Zorn als auch das Liebesverlangen eine Rüstung trugen und auf Kampf aus waren. In seinem Denken war er überaus wendig, voller Schläue und um eine Ausflucht nie verlegen. Seine Äußerungen im Gespräch waren nämlich sehr genau berechnet, und die Antworten, die er gab, waren glatt auf allen Seiten. Mit solchen Eigenschaften und solchen Fähigkeiten begabt, war er nur vom Autokrator zu schlagen an Rang, geistigen Fähigkeiten und (…) übrigen Vorzügen.

Alexias aaO., S. 460

Kaiser Heinrich IV. (1053-1106): Bruder in Christo und Lehensmann

Es gibt auch einen „Guten“ aus dem Westen, nämlich Salierkaiser Heinrich IV. Dieser scharfe Kontrahent der Normannen und des Papstes in Italien wird von Alexios mit einem Bündnisangebot umworben. Zuvor hatte Alexios vergeblich Hilfebriefe an „alle Herrscher der Länder der Kelten“ geschrieben. Ein Schreiben an Papst Urban, der sich darauf ja später bei der Ausrufung des I. Kreuzzugs berief, erwähnt Anna nicht. Da die Normannen mit dem Papst im Bunde waren, erhoffte sich Alexios vom antipäpstlichen Kaiser Heinrich IV. Hilfe gegen sie in Italien. Das Schreiben an Heinrich zitiert Anna im Wortlaut. Eine Kostprobe:

„Dass es um dein großmächtiges Herrschertum gut bestellt sei und es zum besseren fortschreiten möge, ist meiner Majestät Gegenstand des Gebetes, alleredelster und wahrhaft christlichster Bruder. (…) Diese deine brüderliche Zuneigung und Liebe zu unserer Majestät und die Mühsal mit dem Übles im Schilde führenden Mann, die du versprochen hast, auf dich zu nehmen, damit du mit dem ruchlosen und frevelhaften Feind Gottes und der Christenheit in einer seiner schlechten Gesinnung entsprechenden Weise verfährst, zeigen doch klar das lautere Wollen deiner Seele.

Alexias aaO., S.133

Mit großzügigen Geschenken soll Heinrich als Vasall gewonnen werden. Zusätzlich wird ihm ein Eheprojekt mit einem kaiserlichen Neffen in Aussicht gestellt. Alexios fordert Heinrich dazu auf, ihm einen Treueid zu leisten und Robert in Italien anzugreifen (S. 143). Vorab werden Heinrich 144.000 Nomismata (Goldmünzen, das entspricht etwa 2000 Pfund oder einer Tonne Gold) und 100 Seidenstoffe geschickt. Weitere 216.000 Nomismata und Ehrentitel sollen erst nach erfolgtem Einmarsch ausbezahlt werden.

Daraus wurde nichts. Mit dem „Feind Gottes und der Christenheit“ meint Alexios natürlich Robert Guiskard – der ja immerhin mit dem Papst im Bunde stand! Im Mai 1082 musste Alexios den „Dux von Alemannia“ noch einmal drängen, sein Versprechen zu halten und die Normannen in Italien zu schwächen (S. 170). Heinrich marschierte wirklich in „Langobardia“ ein, machte aber kehrt, als er vernahm, Alexios habe auf dem Balkan eine Schlacht gegen die Normannen verloren.

Der westliche Salierkaiser war für Alexios kein Partner auf Augenhöhe. Die byzantinischen Bezeichnungen für Kaiser (autokrator) und König (basileus) finden keine Anwendung auf den potenziellen Vasallenfürsten. Daran hatten auch die bestehenden Eheprojekte westlicher Herrscher mit byzantinischen Prinzessinnen wenig geändert. Immerhin standen die Salier als „christliche Brüder“ eine Stufe über den (gottlosen) Normannen und den (ungläubigen) Seldschuken.

Alexios legte den Grundstein für bedeutende Gebietsrückgewinne unter seinen Nachfolgern Johannes und Manuel Komnenos. Insgesamt regierten die Komnenen ziemlich genau 100 Jahre, die dem Reich eine letzte Verschnaufpause brachten. Im Vergleich zur moralisch durchsetzten Weltsicht eines Niketas Choniates mit dem Untergang im Blick wirkt die Alexias wohltuend offen. Auch abgesehen von jeglicher Gender-Perspektive bietet sie eine facettenreiche Lektüre mit vielen Perlen, von denen hier nur einige vorgestellt wurden. Von Diether Roderich Reinsch liegt die Alexias in gut lesbarer deutscher Übersetzung vor. Der Autor, emeritierter Professor für Byzantinistik, gab 2001 auch das griechische Original textkritisch neu heraus.