Dr. Nadine Hufnagel, Bayreuth
Der Tod Siegfrieds spielt in der Handlung des Nibelungenliedes eine zentrale Rolle: Vieles im ersten Teil der Handlung bereitet ihn vor, im sogenannten zweiten Handlungsteil resultiert daraus Kriemhilds Rache. Wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausgearbeitet haben, hat die Art und Weise der Darstellung unter anderem die Funktion, das Spannungsfeld von höfisch-zivilisierter Ordnung und heroischer Aggression in Szene zu setzen. Da sich heutige Leserinnen und Leser dafür weniger interessieren dürften, müssen Wiedererzählungen des 21. Jahrhunderts Siegfrieds Tod eine Gestaltung und Funktion verleihen, die nicht identisch mit denjenigen im mittelalterlichen Nibelungenlied sein können. Dem wird im Folgenden anhand der Beispiele Die Nibelungen nach alten Quellen neu erzählt von Baal Müller (2004), Neidhard von Steinach: Nibelungen. Eine sehr originale Geschichte von Ralf Nievelstein und Matthias Rummel (2010) und Heinrich Steinfests Der Nibelungen Untergang (2014) nachgegangen.
Zuvor soll an zwei Phänomene erinnert werden, die neben dem mittelalterlichen Nibelungenlied für die Bewertung einer Gestaltung von Siegfrieds Tod heute besonders wichtig erscheinen: der nationalistisch instrumentalisierte Mythos vom Heldentod und postmoderne Darstellungen des Heldentodes.
„Heldentod“ nationalistisch
Bezogen auf die Textgattung Heldenepik bezeichnet man als „Heldentod“ üblicherweise den Tod eines einzelnen herausragenden Kriegers, der oft in eher lockerem Kontakt zur Gemeinschaften steht. Als Held nimmt er sein eigenes Ableben willentlich in Kauf, um Ruhm zu erwerben. Seit Beginn der modernen Kriegsführung verwendet man den Begriff hingegen eher im Zusammenhang mit dem Tod eines Soldaten, der gerade deshalb zum Helden wird, weil er als Teil einer Gemeinschaft stirbt, die national oder anderweitig ideologisch überhöht wird. Bekanntlich ist auch Siegfrieds Tod, in diesem Zusammenhang rezipiert worden:
„Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmigen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front; vergebens hatte sie versucht, aus dem versiegenden Quell der heimatlichen Kraft neues Leben zu trinken.“
Die berüchtigte Dolchstoßlegende, die die Niederlage der angeblich im Felde ungeschlagenen deutschen Soldaten im ersten Weltkrieg rechtfertigen sollte, wird hier von Reichspräsident Paul von Hindenburg mittels der bekannten Mordszene aus dem Nibelungenlied veranschaulicht. Die nationalsozialistische Propaganda hat wiederholt daran angeknüpft, um den Mythos des soldatischen Heldentodes zu vereinnahmen und weiterzuspinnen. So heißt es etwa in Adolf Hitlers Mein Kampf:
„Wer damals nicht mitkämpfte, das waren die parlamentarischen Strauchdiebe, dieses gesamte politisierende Parteigesindel. Im Gegenteil, während wir kämpften […] haben die Mäuler dieser Ephialtesse gegen diesen Sieg so lange gehetzt und gewühlt, bis endlich der kämpfende Siegfried dem hinterhältigen Dolchstoß erlag.“
Um eine solche ideologische Instrumentalisierung von Siegfrieds Tod zu ermöglichen, bedarf es eines Prozesses des Mythologisierens, bei dem ein Zeichen (ein Symbol, eine Handlung mit bestimmter Bedeutung o.Ä.) aus den ursprünglichen Zusammenhängen herausgelöst wird, wodurch der ursprüngliche Sinn des Zeichens zurückgedrängt wird. Anschließend wird das Zeichen im neuen Zusammenhang des Mythos wieder mit Bedeutung aufgeladen.
Bei Hindenburg wird der Tod Siegfrieds aus der Handlung des Nibelungenliedes herausgeschnitten. Im Kontext der Rechtfertigung der Niederlage der Wehrmacht wird Siegfried mit den deutschen Soldaten identifiziert und Hagen genannt, um Verrat zu implizieren. Durch die Kombination mit dem Bild der versiegenden Quelle aber ist die klare Identifizierung von Hagen als Täter irritiert, stattdessen gerät die Heimat als verräterisch in den Blick. Hitler greift die Identifizierung der deutschen Soldaten mit Siegfried auf, wird bezüglich des Verrats jedoch konkreter als Hindenburg. Als Verräter setzt er nun unmittelbar die Demokraten ein. Zur Verstärkung dessen verknüpft er Parlament und Parteien zusätzlich mit dem Namen Ephialtes, der laut Herodot die griechischen Truppen an die Perser verraten hatte, und ersetzt die ursprüngliche Waffe durch den Dolch, die traditionelle Waffe des hinterhältigen Verräters. Aus dem mit Siegfrieds Tod verbundenen Spannungsfeld zwischen höfisch-zivilisierter Ordnung und heroischer Aggression ist das Spannungsfeld zwischen soldatisch/deutsch und demokratisch/verräterisch geworden.
„Heldentod“ postmodern
In der Popkultur wird der Heldentod häufig postmodern inszeniert. Damit ist an dieser Stelle eine Darstellungsweise gemeint, die wesentlich damit arbeitet, andere Darstellungen zu zitieren – mitunter auch ironisch. Auch dieser postmoderne Umgang mit dem Heldentod hat Einzug in die Rezeption des Todes Siegfrieds gefunden, wie Sven Unterwalds Film Siegfried (2005) mit Tom Gerhardt in der Hauptrolle zeigt. Darin stoppt der Overvoice-Erzähler den Film, nachdem der Speer Siegfried getroffen hat, und spult die Handlung zurück, um Siegfrieds Ferkel die Chance zu geben, sich „heldenhaft“ zwischen den Speer und seinen Freund zu werfen. Damit stellt sich auch die Aufgabe, in den ausgewählten Wiedererzählungen nach Zitaten Ausschau zu halten und zu fragen, ob und wozu sie eine ironische Haltung einnehmen.
Die Ausgangsfrage nach der Gestaltung des Todes Siegfrieds in den ausgewählten Wiedererzählungen des Nibelungenliedes der Gegenwart lässt sich nun also genauer beschreiben als Frage nach der spezifischen Darstellung des Todes Siegfrieds vor dem Hintergrund eines Wissens der Autoren und vielleicht auch der Leserinnen und Leser um den ideologischen Missbrauch der Szene sowie nach dem Umgang mit Zitaten und Ironie.
Die Nibelungen nach alten Quellen neu erzählt von Baal Müller
„So sehr sich die beiden Burgunden auch sputeten, hatte [Siegfried] sie bald eingeholt und war wie der Sturmwind, freilich mit einem munteren Zuruf, an ihnen vorbeigesaust. […] [Die Quelle] sprudelte recht lustig und voller Verlockung für den Darbenden, doch Siegfried bezwang seinen Durst, da es ihm gehörig schien, den gastgebenden König den ersten Schluck tun zu lassen. […] ‚Beim Donar, das war kein schlechter Lauf, Siegfried‘, sagte der König, und sein Brustkorb hob und senkte sich keuchend. ‚Sicher hast du deinen Durst schon gestillt.‘
‚Du bist der Herr des Landes, dir geziemt der erste Trunk‘, antwortete ihm Siegfried höflich […].
‚Jetzt seid Ihr an der Reihe‘, sprach Hagen und machte eine ladende Geste.
‚Dank Euch, Herr Hagen‘, erwiderte der Held, kniete ebenfalls nieder und beugte sich über den Bronnen. […] [D]ann schien die Zeit für einen Augenblick stillezus[t]ehen, etwas zischte durch die Luft, und ein ungläubiger Schrei ertönte über dem Quell, wurde lauter und lauter, erfüllte klagend die Lichtung und verhallte zuletzt in der grünen Einsamkeit.
[…] In [Siegfrieds] Gesicht war weder Furcht noch Schmerz noch Entsetzen zu lesen, nicht einmal ein Vorwurf, sondern nur ein großes Nichtverstehen, die stumme Frage des prangenden, noch in Fülle stehenden Lebens vor dem ungeahnten, so völlig fremden Ende. Siegfrieds Augen rollten langsam zwischen seinen Mördern hin und her. […] Doch plötzlich schien das schwindende Leben sich noch einmal in eine einzige letzte Tat zusammenfassen und verströmen zu wollen: Siegfried bückte sich nach seinem Schilde […], stürzte, ohne sich noch einmal ganz aufrichten zu können, auf Hagen zu und riß ihn zu Boden. […] Mit einem schmerzhaften Ruck wandte er das Gesicht König Gunther zu, sah ihn mit verglasenden Augen an, und erst jetzt verzerrten sich seine Züge langsam zu bitterer Anklage: ‚Warum vergiltst du mir so meine Freundschaft?‘ […]
Nach diesen Worten kippte Siegfrieds Kopf zur Seite, seine Augen brachen, und er verschied. Die Blumen um ihn herum auf der Waldwiese hatten sich dunkelrot gefärbt. […] Hagen aber sagte schwer atmend, doch mit fester Stimme: ‚Laßt es Euch nicht gereuen, mein Herr; seine Herrschaft ist beendet, Ihr seid wieder der einzige König zu Worms.‘ […] Als einige ein Wehklagen anstimmen wollten, gebot Hagen mit scharfer Stimme zu schweigen, und der Spielmann Volker redete ihm das Wort: ‚Ihr Memmen‘, rief er, ‚was flennt ihr um den Niederländer? Hagen hat recht getan – seid froh, daß ihr den Fremden los seid!‘
Siegfried wird wiederholt als Held bezeichnet, ein Begriff, der in der Wiedererzählung Müllers durchaus mit positiver und zugleich tragischer Bedeutung belegt ist – nicht zuletzt, weil Hildebrand zum Erzähler der Geschichte wird. Dieser berichtet, was er erlebt hat, einem alten einäugigen Einsiedler, der stellenweise mit Wotan/Odin assoziiert wird. Damit erfährt man die Ereignisse aus dem Mund einer Figur, die derart konsequent am Heldentum festhält, dass sie sogar ihren eigenen Sohn im Kampf tötet. Am Ende übergibt er seinen Sohn ins Totenreich und verschwindet in den Bergen, wo er bis heute für seinen Herrn die Grenze verteidige, bis dieser wiederkehre.
Bei der Beschreibung von Siegfrieds Tod zeichnet er den Helden vor allem als fröhlich-übermütig, nicht als aggressiv, seine Höflichkeit wird geradezu in den Vordergrund gerückt. Insgesamt wird die Szene mit Pathos geschildert; man wird an die Darstellung im Nibelungen-Stummfilm Fritz Langs erinnert. Eine distanzierende oder ironische Haltung ist nicht zu erkennen. Bewertet wird Siegfrieds Tod von den Figuren unterschiedlich: als Mord und Verrat auf der einen Seite, auf der anderen Seite als notwendige Verteidigung gegen Fremdherrschaft. Anschließend unterbricht Hildebrand seine Geschichte, um Siegfrieds Tod selbst zu kommentieren: Zwar sei er der Anfang vom Untergang gewesen, aber alle hätten so gehandelt, wie sie es nun einmal mussten. Hagen als treuer Gefolgsmann musste die Herrschaft Gunthers sichern. Siegfried trage selbst eine gewisse Mitschuld, dadurch dass er sich durch seine früheren Taten wohl den Zorn der Götter zugezogen habe. Hildebrands Gesprächspartner wiederum entschuldigt Siegfrieds früheres Handeln. Die Verbindung von Siegfrieds früheren Taten und seiner Ermordung wird von ihm nicht im Sinne einer moralischen oder juristischen Schuld interpretiert, sondern mythologisch gedeutet: Junge Helden durchlebten mit ihren ersten Heldentaten eine Art Weihe, während der sie in Kontakt mit den toten Helden kämen, die auch bei der Wilden Jagd in sie fahren würden. Manchmal bleibe dabei etwas von der „segenspendenden Kraft“ der Toten an ihnen haften, weshalb sie bald wieder ganz zu ihnen zurückkehren müssten. Müller verweigert also eine endgültige Bewertung der Tat. Es lässt sich aber eine Tendenz zur Rechtfertigung von Gewalt und dem Glauben an die Unausweichlichkeit des Schicksals feststellen.
Die Abbildung hebt außerdem die künstlerisch-schöne und gruselig-faszinierende Seite von Gewalt zusätzlich hervor. Dies zeigt sich nicht zuletzt in einer gewissen Monstrosität der Natur, wie einem Baum, der gleichsam mit Tentakelarmen nach Siegfried greift. Auch der Täter erscheint weniger menschlich denn als monströser Schatten. Die Gestaltung erinnert an Märchen-, Fantasy- oder Horror-Darstellungen. Unverkennbar sind auch hier die künstlerischen Anleihen bei Fritz Lang. Die Zitate sind aber keineswegs ironisch oder parodierend.
Nibelungen. Eine sehr originale Geschichte von Ralf Nievelstein und Matthias Rummel
„Siegfried, der viel Wetteifernde, willigte [in den Wettlauf] ein. Damit es ein gerechtes Kräftemessen wäre, wollte er mit seiner Ausrüstung antreten. Hagen und Gunther, die viel Ungetreuen, legten ihre Waffen und Rüstungen ab und los ging es. […]
Dann schlich der Tronjer wieder zurück, ergriff Siegfrieds Speer und schleuderte diesen mit aller Kraft in den Rücken des ahnungslosen Helden. Der Meuchelmörder traf das Kreuz auf seines Opfers Gewand genau.
Ein Schwall hellroten Blutes schoß aus der Wunde. Gunther starrte entsetzt auf den Nibelungen, der da jetzt viel Blut spuckte und starb. Wie grauenerregend dieser Anblick für den armen Burgunderkönig war! Da zuckten die Verschwörer zusammen, als der Tote sich erhob, umdrehte und sie fragend anblickte. Kühnen Auges blickte Hagen zurück, woran Siegfried seinen Mörder erkannte. Mit zittriger Hand versuchte er, sein Schwert zu ziehen, ertastete aber nur noch die leere Scheide. Sein ganzer Körper schmerzte ihn, und er merkte, wie seine Kräfte mit jedem Herzschlag schwanden. Noch einmal bäumte er sich auf und ergriff seinen Schild. Damit stürmte er brüllend auf Hagen zu und zog ihm das Ding mit solcher Wucht über den Schädel, daß die Edelsteine nur so von den Spangen sprangen.
Die Edelsteine, sind das die Felsen aus Kriemhilds Traum?
Gut aufgepaßt. Von diesem Schlag wurde der Tronjer, bekanntlich nicht gerade aus weichem Holz geschnitzt, so schwer getroffen, daß er in gefährlicher Nähe zum Drachentöter strauchelte. Aber er hatte Glück: Siegfried der viel Leidende, sank von allen guten Kräften verlassen zu Boden und konnte keinem mehr etwas anhaben. Ein letzter Schmerz durchfuhr seine Glieder, bevor sein Körper erschlaffte. Sein Wille schwand, seine Kraft verließ ihn und der Schild entglitt seinen tauben Fingern. Mit letzter Kraft sprach er zu ihnen über Pflicht, Vertrauen, Freundschaft und Verrat. Er verdammte die Burgunder und ihre ganze Sippe in alle Ewigkeit. Daß er damit auch seine Frau und seinen Sohn verfluchte, fiel ihm in diesem Moment gar nicht auf. Schnell sprach Siegfried, langsam starb er. Gunther bedauerte jetzt lauthals seinen treuen Freund, den er zu ermorden half. Der stolze Burgunderkönig, er jammerte und bedauerte und bedauerte und bedauerte und jammerte so laut, daß Siegfried – schon fast im Jenseits angekommen – sich noch einmal aufraffte und dem verräterischen Freund die Leviten las. Ausgerechnet sein Mitleid bräuchte er jetzt wirklich nicht mehr, spuckte er seinem Schwager noch entgegen, und zu spät käme es auch, da hätte er sein Hirn besser mal vorher eingeschalten. Das waren vorerst seine letzten Worte. Von dem Tumult angezogen kamen die ritterlichen Jäger herbeigelaufen. Als sie den sterbenden König so sahen, beklagten sie ihn unter Tränen.
Hagen schritt mit geschwellter Brust um den Siechenden herum, der sich nochmal aufbäumte und ihm mit seinem letzten Atem eine Verwünschung entgegenspie. Von Gunther aber forderte Siegfried, sich um Kriemhild zu kümmern. Dafür war noch ein wenig Luft übrig. Dann starb der Nibelunge. Endlich und endgültig. Hinterhältig von feiger Hand gemeuchelt hauchte der Strahlendste der Helden sein Leben aus, während die Attentäter schon darüber nachdachten, wie man der Welt den Tod dieses Helden am besten erklären könnte. Nach gründlicher Überlegung einigte man sich auf die Sprachregelung, es seien Räuber gewesen.“
In der Wiedererzählung von Nievelstein und Rummel wird immer wieder Pathos aufgebaut, aber dann wird eine pathetische Lektüre umso deutlicher ironisch unterbrochen. Das geschieht beispielsweise durch ironische Verweise auf die Dauer des Ablebens. Dieses langsame Sterben ermöglicht eigentlich gewichtige letzte Worte, die aber gerade nicht in direkter Rede wiedergegeben, sondern nur zusammengefasst oder ironisch kommentiert werden. Darüber hinaus wird an einer Stelle eine pathetische Lektüre durch eine Herausstellung der Erzählsituation unterbrochen. Die Handlungswiedergabe wird nämlich im gesamten Text als Interview der beiden „Herausgeber“ mit dem fiktiven Nachfahren des ursprünglichen Nibelungenlied-Dichters inszeniert, in dessen Familie die Geschichte von Generation zu Generation weitergegeben werde. Dass sich die Nachfrage der Interviewpartner ausgerechnet auf ein unwichtiges Detail und nicht auf den heldenhaften Todeskampf oder bedeutungsvolle letzte Worte Siegfrieds richtet, trägt ebenfalls zur Störung des Pathos bei. Darüber hinaus macht sich der Text an dieser Stelle darüber lustig, wie versessen die Gegenwart darauf aus ist, jedes noch so kleine Detail des Nibelungenliedes mit Bedeutung zu versehen.
Eine ironische Lesart wird auch durch das zugehörige Bild unterstützt. Zum Beispiel lässt sich der Hirsch im Hintergrund der Szene als ein Zitat des Logos der Schnapsmarke Jägermeister verstehen. Dieses stellt wiederum ein Zitat mittelalterlicher Darstellungen des Heiligen Hubertus dar. Dieses Zitat eines Zitats ist offen für unterschiedliche Interpretationen, beispielsweise spielt es mit dem Vorwissen der Betrachter und Betrachterinnen und beleuchtet ironisch dessen Relevanz: Jägermeister ist ein Produkt aus Wolfenbüttel, wo sich auch die Herzog August Bibliothek befindet, die für ihre mittelalterlichen Handschriften bekannt ist; Bekanntheit dürfte die Stadt heute aber weniger aufgrund der Bibliothek besitzen, sondern eben vielmehr als Sitz der Firmenzentrale der international erfolgreichsten deutschen Export-Spirituose. Mit Vorwissen über mittelalterliche Handschriftenillustrationen kann man allerdings die seltsame Gestik der Figuren verstehen. Diese verweist auf die Gesten und die Richterpose in Handschriften und parodiert diese zugleich als bizarre Verrenkungen eines Sterbenden und belehrend erhobene Zeigefinger.
Neben dem außergewöhnlich langen Sterben Siegfrieds liegt der Fokus der Szene im Text weniger auf den Täter als auf der Figur Gunther. Aufgrund der Verwendung der Begriffe „Attentäter“ und „Sprachregelung“ lässt sich dies als satirischer Seitenhieb auf politisch Verantwortliche, die, unmittelbar konfrontiert mit den gewalttätigen Folgen ihrer politischen Entscheidungen, einerseits fassungslos sind und diese lauthals beklagen, andererseits unter den Augen der Öffentlichkeit sofort in den Modus des Vertuschens geraten, verstehen.
Der Nibelungen Untergang von Heinrich Steinfest
„Hagen kennt seinen Siegfried. Dieser bietet sofort eine Demonstration seiner Laufkünste an und fordert ein Wettrennen gegen Hagen und Gunther. Und weil er wie immer den Weg der Übertreibung sucht, läuft er in voller Montur, […] und hätte sich wohl gerne auch noch den toten Bären auf die Schulter gelegt. Hagen und Gunther hingegen ziehen sich bis auf ihre Hemden aus. Ihre dünnen weißen Männerbeine legen im kühlen Wind eine Gänsehaut an. […]
Allerdings stürzt [Siegfried] sich nicht sofort auf das erlösende Nass, sondern wartet geduldig auf seine Kontrahenten. (Wäre er nur ähnlich vornehm bei der Jagd auf den Bären gewesen.)
Als er da wartet, bemerkt er etwas Buntes neben der Quelle im Gras liegen. Er hebt es auf, betrachtet es, ein merkwürdiges Stück Papier, auf dem ein Symbol zu sehen ist, eine Art Herzform […].
Was nun Siegfried nicht wissen kann, ist, dass an der Stelle, an der er sich befindet, später einmal einer der sogenannten Siegfriedbrunnen stehen wird. Was jetzt noch die pure Idylle ist, wird dann ein kümmerliches Rasenstück sein, ein paar Bäume samt trockengelegtem Brunnen, Bank und Mülleimer, umrahmt von Hochhäusern, einem Einkaufszentrum und dem Fabrikgelände der Langnese-Iglo GmbH, bekannt dafür, diverse Eissorten herzustellen und diese in beschichtete, farbenfrohe Papiere zu wickeln.
Es ist also eine Wassereisverpackung, die Siegfried da entdeckt hat, die vielleicht ein Zeitreisender hier achtlos wegwarf. Oder auch ganz bewusst an dieser ‚historischen Stelle‘ deponierte. […]
Doch er wirft das Papier einfach weg und ist nun ganz jovialer Triumphator, als da Gunther und Hagen mit großem Abstand eintreffen. […] [Hagen von Tronje] wirft mit aller Kraft. Und er wirft gut. Der Spieß bohrt sich durch den Körper des Helden. Das Blut spritzt, es spritzt derart, dass es Hagens Gesicht und seine nackten Beine benetzt. Der Tronjer spürt, wie es brennt. Eine Weile überlegt er sogar, ob nicht für dieses Blut dasselbe gelten könnte wie im Falle des Drachen und es sich also lohnen würde, darin zu baden. Doch noch widersteht Siegfried dem Tod und richtet sich brüllend auf. […] Jeder andere hätte sofort zu atmen aufgehört, der todwunde Held aber ballt seine Fäuste und hält Ausschau nach seinen Waffen. Keine Möglichkeit für Hagen, sich im Blut zu baden, stattdessen ergreift er die Flucht. […]
Siegfried stirbt. Er geht in die Knie. […] Noch besitzt er so viel Stimme, um den Verrat zu beklagen, Hagens Hinterhältigkeit, Gunthers Heuchelei. […]
Ein letzter Atemzug. Für manche ist es so, als verwelke die ganze Welt. (Man stelle sich aber vor, wie Siegfried nun im Jenseits all jenen begegnet, Tieren und Menschen, denen er einst das Leben nahm. Heerscharen, die auf ihn zurasen.)
Da Siegfried jetzt wirklich tot ist, legt man einen Schild von rotem Gold über ihn, wie um ihn nicht betrachten zu müssen.“
Hagen und Gunther, die neben dem Helden blass und lächerlich aussehen, dienen bei Steinfest deutlich als Kontrastfolie zu dessen Außergewöhnlichkeit. Hagen spielt zwar mit dem Gedanken, in die Fußstapfen des Helden zu treten, er ist aber nicht in der Lage dazu. Der Darstellung liegt viel daran, die Besonderheit eines Helden herauszustellen, aber ohne Bewunderung dafür aufkommen zu lassen. Ständig unter Beweis stellen zu müssen, wie außergewöhnlich er ist, macht den Helden vorhersehbar und geradezu manipulierbar. Heldenhaftigkeit basiert auf einem Hang zur Übertreibung und Profilierungssucht und äußert sich im Wesentlichen durch Aggression. Eine potentielle Glorifizierung findet ihren Höhepunkt, wenn der Tod des Helden als das Ende der Welt wahrgenommen wird. Dazu passt auch, dass sein toter Körper mit einem Goldschild bedeckt wird. Aber der Erzähler entlarvt Glorifizierung als lediglich eine Möglichkeit der Wahrnehmung unter anderen und das Vergolden bewertet er als Verweigerung eines genauen Hinsehens sowie einer kritischen Auseinandersetzung. Er selbst lenkt den Blick statt auf den Schmerz des Helden oder dessen Ruhm auf dessen Opfer. Dass Siegfried nun für seine Taten büßen muss, ist ebenfalls eine Möglichkeit der Wahrnehmung. Der Erzähler greift außerdem wiederholt die vorangegangene Tötung eines Bären durch Siegfried auf. Dies ist einerseits Teil der Thematisierung von Übermut und Profilierungssucht, andererseits der Problematisierung des Umgangs des Menschen mit der Umwelt. Nicht umsonst zählt der Erzähler zu den Heerscharen, die im Jenseits auf Siegfried vermutlich zurasen, nicht nur Menschen, sondern – an erster Stelle – auch Tiere.
Anders als der Begriff Storyboard es impliziert, visualisieren die Bilder, die das untere Drittel der Doppelseite einnehmen, nicht die Szene, wie sie beschrieben ist, sondern abweichend vom Text stehen hier Hagen und seine Emotionen im Fokus. Statt eines kaltblütigen Meuchelmörders sieht man einen versehrten Mann, der mit der Tat, die er begeht, ringt. Und der im Text als Übermensch dargestellte Held ist, statt sich wie beschrieben zu wehren und zu fluchen, passiv und bewegungslos. Damit bieten die Bilder eine weitere eigenständige Bedeutungsebene an. Der Nibelungen Untergang macht durch diese unterschiedliche Präsentation der Szene in Wort und Bild sichtbar, dass es unterschiedliche Perspektiven gibt, und regt zum kritischen Nachdenken über unterschiedliche Darstellungs- und Deutungsmöglichkeiten ein und desselben Geschehens an.
Geschichte und Gegenwart
Die Verflechtung der Zeitebenen in dieser Wiedererzählung veranschaulicht, dass die Gegenwart mit der Vergangenheit nicht nur in Verbindung steht, weil sie aus ihr hervorgegangen ist. Auch die Geschichte wird von der Gegenwart hervorgebracht. Dies wird schon allein dadurch deutlich, dass das Geschehen nicht – wie im ersten Textbeispiel – durch einen Augenzeugen, sondern durch einen Erzähler präsentiert wird, der deutlich zu unserer Gegenwart gehört. In der Mordszene ist das sichtbare Zeichen dafür das zeitgereiste Eispapier. Aber auch die Bezeichnung des Tatorts als ‚historische Stelle‘ mit Anführungszeichen weist darauf hin. Der Hinweis auf das vielleicht absichtliche Deponieren des Eispapiers zeigt, dass die Konstruktion der Geschichte durch die Gegenwart durchaus auch manipulativ erfolgen kann. Nibelungen. Eine sehr originale Geschichte inszeniert über die Gestaltung der Erzählsituation als Interview mit dem Nachfahren des Nibelungendichters die Geschichte wesentlich als ein weitergetragenes Erbe und benutzt dieses – nicht zuletzt in der Bebilderung – als Spielmaterial. Die Nibelungen von Müller kennzeichnen die Geschichte durch die Gestaltung als Augenzeugenbericht aus der Völkerwanderungszeit einerseits als vergangen, andererseits als mythische Erzählung von zeitenthobener Bedeutung.
Wie erwartet spielt die Spannung zwischen höfisch-zivilisierter Ordnung und heroischer Aggression in keinem der drei Texte bei der Darstellung der Szene eine Rolle. Aber auch der nationalistische Mythos vom soldatischen Heldentod ist im Zusammenhang mit Siegfrieds Tod nicht explizit thematisiert. Die Erzählungen scheinen vielmehr zu zeigen, dass, wenn eine alte Geschichte auch eine Zukunft haben soll, man beim Wiedererzählen aktuelle Themen integrieren muss, wobei die Texte keineswegs so unpolitisch sind, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Beispielsweise kann man sie in Hinblick auf ihre Verwendung von Zeichen und Zitaten politisch lesen: Steinfest führt in der Gestaltung der Mordszene die Zuweisung von Bedeutung an Zeichen vor und damit den Prozess des Mythologisierens. Er regt darüber hinaus zum kritischen Nachdenken über den Umgang des Menschen mit natürlichen und kulturellen Ressourcen an. Die Erzählung zeigt mit ihrer zitatreichen Text-Bild-Kombination außerdem, dass es verschiedene Perspektiven auf ein und dasselbe Geschehen gibt. Auch die Gemachtheit und Manipulierbarkeit der Geschichte durch die Gegenwart geraten in den Blick. Nievelstein und Rummel gehen ironisch mit Zeichen um und setzen vor allem auf Parodie und Satire. Anders als diese beiden Wiedererzählungen, die die Erzählsituation in der Gegenwart verorten und sich sowohl von Heldenverehrung als auch von einer pathetischen Darstellung des Heldentodes distanzieren, nimmt Müller keine eindeutig kritisch- oder ironisch-distanzierende Haltung gegenüber dem Umgang mit Geschichte ein. Stattdessen präsentiert er einen heidnisch-mythologischen Zusammenhang. Der Heldentod ist in diesem Kontext tragisch, weil er die Konsequenz dessen ist, was die Helden vor allen anderen Menschen auszeichnet; er ist ihr unausweichliches Schicksal. Wenn Hagens Tat bei Müller damit gerechtfertigt wird, dass er Burgund vor Fremdherrschaft bewahrt habe, und erzählt wird, dass Hildebrand bis heute die Grenze von Dietrichs Reich verteidige, werden der Kampf gegen das Fremde und Grenzsicherung als die Zeiten überdauernde Heldentat hervorgehoben.
An dieser Stelle lohnt es sich, noch einen Seitenblick auf einige öffentlichen Äußerungen Müllers zu werfen, denn der Autor trat zuletzt wiederholt bei Pegida als Redner auf. In dieser Funktion kritisierte er in Dresden im Mai 2017 die Flüchtlingspolitik Angela Merkels. Er konstatierte, ein friedliches Zusammenleben von Kulturen sei nur innerhalb fester Grenzen zwischen den Kulturen möglich; Grenzen zu sichern sei die wichtigste Voraussetzung für Schutz und Sicherheit. Vor diesem Hintergrund sind die Rezeption und die Neudeutungen nationalistischer Mythen ein aktuelles Thema, das in künftigen Wiedererzählungen des Nibelungenliedes vielleicht wieder eine prominentere Rolle spielen wird. Aus meiner Sicht wäre wünschenswert, dass es dabei nicht in die politische Richtung Müllers geht und, dass man auch über eine ironische Distanzierung hinaus geht. Wir brauchen einen verantwortungsvollen und nachhaltigen Umgang mit der kulturellen Ressource, die das Nibelungenlied und seine Rezeptionsgeschichte darstellen, einen Umgang, der bei aller Multiperspektivität doch eine klare Position bezieht.
(Diese gekürzte Version meines Vortrags für die Nibelungenfestspiele 2018 basiert auf meinem Beitrag für den Sammelband zur Tagung altiu mære heute. Die Nibelungen und ihre Rezeption im 21. Jahrhundert. Bamberg 09.-11.11.2017, hg. von Ingrid Bennewitz und Detlef Goller.)
Verwendete und zitierte Literatur:
Müller, Baal: Die Nibelungen nach alten Quellen neu erzählt mit Illustrationen von Linde Gerwin. Uhlstädt-Kirchhasel 2004.
Nibelungen. Eine sehr originale Geschichte, hg. von Ralf Nievelstein und Matthias Rummel. Worms 2010.
Steinfest, Heinrich: Der Nibelungen Untergang. Storyboard von Robert de Rijn. Stuttgart 2014.
von Hindenburg, Paul: Aus meinem Leben. 12. Aufl. Leipzig 1920.
Hitler, Adolf: Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band II. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte. München, Berlin 2016.
Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Frankfurt am Main 2012 (suhrkamp taschenbuch 4338).
Behrenbeck, Sabine: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945. Greifswald 1996 (Kölner Beiträge zu Nationsforschung 2).
Brackert, Helmut: Nibelungenlied und Nationalgedanke. Zur Geschichte einer deutschen Ideologie. In: Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag, hg. von Ursula Hennig und Herbert Kolb. München 1971, S. 343-364.
Fasbender, Christoph: Siegfrieds Wald-Tod. Versuch über die Semantik von Räumen im Nibelungenlied. In: Außen und Innen. Räume und ihre Symbolik im Mittelalter, hg. von Nikolaus Staubach, Vera Johanterwage. Frankfurt u.a. 2007 (Tradition – Reform – Innovation 14).
Lienert, Elisabeth: Mittelhochdeutsche Heldenepik. Eine Einführung. Berlin 2015 (Grundlagen der Germanistik 58).
Luckscheiter, Roman: Zwischen Pathos, Politik und Parodie – Die Rezeption des Nibelungenlieds in Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Die Nibelungen in der Moderne. Dokumentation des 5. Symposiums der Nibelungenliedgesellschaft Worms e.V. am 17. August 2003, hg. von Gerold Bönnen und Volker Gallé. Worms 2004 (Schriftenreihe der Nibelungenliedgesellschaft Worms e.V. 4), S. 43-63.
Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998.
Münkler, Herfried; Storch, Wolfgang: Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos. Berlin 1988.
Münkler, Herfried: Siegfrieden – Politische Mythen um das Nibelungenlied. In: Ein Lied von gestern? Zur Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes. Dokumentation des 1. wissenschaftlichen Symposiums der Nibelungenliedgesellschaft Worms e.V. und der Stadt Worms vom 5. bis 6. Oktober 1998, hg. von Gerold Bönnen und Volker Gallé. 2. Aufl. Worms 2009, S. 141-157.
von See, Klaus: Held und Kollektiv. In: Ders.: Europa und der Norden im Mittelalter. Heidelberg 1999, S. 145-181.
von See, Klaus: Die politische Rezeption der Siegfriedfigur im 19. und 20. Jahrhundert. In: Siegfried. Schmied und Drachentöter, hg. von Volker Gallé im Auftrag des Nibelungenmuseums Worms. Worms 2005 (Nibelungenedition 1), S. 138-155.