SIEGFRIED Bei Wagner und im Nibelungenlied

Jürgen Lodemann

Wan daz in twang ir minne

SIEGFRIED Bei Wagner und im Nibelungenlied
Ein Vergleich, als Neudeutung des Epos

Lebenslang setzt mir eine Frage zu, die nicht nur meine Generation betrifft. Geboren bin ich 1936. Wie nur konnte es im Deutschen kommen zu mörderischem Rassen-Hass, zu entsprechend unsäglichen Taten. Meine Antwortversuche führten mich früh zu zwei Literaturfiguren, die mehr als 100 Jahre Leitfiguren waren. Siegfried im Nibelungenlied, Siegfried in Wagners „Ring des Nibelungen“. Ignoriert blieb, wie stark beide sich unterscheiden. Wie Krieg und Frieden.

Gegen Drachen. Reden eines Freibürgers, Buch von Jürgen Lodemann, Ausschnitt Titelseite

Das Nibelungenlied entstand um 1200, zehntausend mittelhochdeutsche Langzeilen. Richard Wagners vier Opern im „Ring des Nibelungen“, uraufgeführt mehr als 600 Jahre später, dauern gut 20 Stunden. Wann immer Siegfried Thema wird, herrschen Unklarheiten. Wenn Bayreuths Festspiele nahen, liest man in großen Feuilletons (FAZ, SZ), Siegfried sei ein „deutscher Horror-Held“. Oder man liest, er sei ein „deutsches Idol“, „urdeutsch“. Obwohl um 1200 das Wort „deutsch“ längst in Gebrauch war, etwa beim Sänger Walther von der Vogelweide, wird Siegfried im Nibelungenlied kein einziges Mal „deutsch“ genannt. „Deutsch“ kommt auch in Wagners „Ring“ nicht vor. Aber Kritiker warnen bei Siegfried vor „deutschem Wabern“, fordern, sogar stabreimend, bei Siegfried müssten „die deutschen Dämonen demoliert“ werden. Und warum? Und bei welchem Siegfried?

Schon kurz nach dem Jahr Null teilte Tacitus mit (in „Annales“), die Germanen widmeten ihrem Sieger im „Teutoburger Wald“ Siegesgesänge, dem Arminius der Cherusker. Bei den Cheruskern hieß Feldherr Arminius Sigurd, und bei ihnen kam es zum Mord, Sigurd wurde getötet, von Verwandten. Aus diesem Mord, heißt es, wuchs über Jahrhunderte das Nibelungenlied. Zitieren werde ich hier aus der Fassung, die in der Germanistik als meisten geschätzt wird, aus der Handschrift B, der St. Galler, gefeiert als „Unesco-Weltkultur-Erbe“. Soviel vorweg: darin hab ich es nicht gefunden, das „deutsche Horror-Monster“, mit dem Weltkriege zu befeuern waren, zunächst nur Opern-Weltkriege. Im großen alten Nibelungenlied erschien mir die Hauptfigur tatsächlich lobebaer, „rühmenswert“, sogar ritterlich human, sogar tatkräftig friedfertig.

Anders im 19. Jahrhundert die Zentralfigur im „Ring“ Wagners. Der hat die Idee seines „Gesamtkunstwerks“ ausführlich erörtert. „Dichtung“ wie Komposition seien da gleich bedeutend, die erklärten einander. Wagner hat geradezu gefordert, seine Opernworte beim Wort zu nehmen. Das geschieht leider so gut wie nie. Der König im „Lohengrin“ singt ohne Protest aus dem Publikum: „Deutsches Land … stelle Kampfesscharen! … Mit Gott! für deutschen Reiches Ehr!“ Stürmischer Beifall, auch in Bayreuth. Auch von Kanzlerin und Verteidigungsministerinnen.

Wagner erfand Siegfried vollkommen neu, verknüpfte dafür nordische Mythologien und Sagen als ein eigener Mythen-Baumeister. Seinen Siegfried sieht er (Z.:) als „wahren Menschen überhaupt“. Bevor er ihn auftreten lässt, inszeniert sein „Ring“ in zwei großen Opern Götter, Halbgötter und mythische Elemente in einem enormen Kampf, der ausdrücklich „Krieg“ heißt, Kampf um einen magischen Ring. Der garantiert Besitz und Macht. Sehr lange vor Siegfrieds erstem Auftritt agieren da Lichtfiguren gegen Nachtfiguren, erzählen und kommentieren ausführlich Siege oder Niederlagen, Streit mit allen Mitteln, mit Betrug, mit Mord, auch mit Doping. Sehr starke Figuren begehren da noch mehr Stärke. Oberster aller Götter ist Wotan, Siegfrieds Großvater. Der führt den „Krieg“ um den Ring gegen Alberich, den Fürsten der Nachtwelt. Krieg um die Weltherrschaft, und zwar in „zähem Hass“, weiß Hagen. Der muss es wissen, bei Wagner ist Hagen der Sohn des Alberich.

Wenn Lichtgott Wotan und Nacht-Alb Alberich um die Welt ringen, ist „Welt“ nicht Europa, sondern das Dasein überhaupt. Gestritten wird aber auffallend kleinlich. Oft in Gezänk, auch zwischen Spitzengöttern. Nicht nur zwischen Wotan und Lieblingstochter Brünnhilde, auch zwischen Wotan und dessen Ehefrau. Frau Fricka rügt zum Beispiel Ehebruch. Und zwar bei den Zwillingen, die Wotan mit Urmutter Erda gezeugt hat, bei Sieglinde und Siegmund. Als die den Siegfried zeugten, da trieben Sieglinde und Siegmund außer Inzest auch Ehebruch. Sieglindes Ehemann ist Hunding.

Wagners Siegfried entsteht auf jeden Fall sehr eigen, aus Ehebruch und Inzest. Und unter Drogen. Für ungestörten Beischlaf mit Bruder Siegmund narkotisiert Sieglinde ihren Ehemann mit einem Spezialtrunk. Göttin Fricka rügt nun aber nicht etwa diese K.O.-Tropfen, sondern den Ehebruch, verlangt sogar die Todesstrafe, und zwar für den männlichen Ehebrecher (Z.): „Der Wälsung (also Siegmund) fällt meiner Ehre!“ Dieses „fällt“ oder „Fallen“, das ist ein Wort, das wenig später auftauchen wird in hunderttausenden Todesanzeigen. In drei Europa-Kriegen. Und „Fällt meiner Ehre“, da steht „Ehre“ im Dativ, besitzanzeigend. Mir nahm einst mein Lehrer den Malstift weg mit dem Wort „Jetzt ist er mir.“ Siegfrieds Vater Siegmund „fällt“ also für den Ehr-Besitz seiner Stiefmutter. Waltet da irgendein Tiefsinn? Ich gestehe, mir blieb er verborgen. Zumal nicht die betäubende Sieglinde „fallen“ muss, sondern der männliche der beiden Ehebrecher. Und Großvater Wotan gehorcht. Im Kampf Siegmunds gegen Hunding lässt Wotan nun nicht Hunding „fallen“, sondern den eigenen Sohn, Siegmund. Danach „fällt“ Großvater freilich auch den Hunding. Mit einem einzigen Wort: „Geh!“

Großkritiker Joachim Kaiser riet zu „höchstem Respekt“ vor Wagners Worten. In Wagners Opern-Weltkrieg türmen sich Rätsel, mit jedenfalls. Kann sein, da folgte Wagner nicht nur nordischen Mythen, sondern auch dem romantischen Baron Fouqué, auch der nutzte in seinem Drama „Der Held des Nordens“ „Vergessenstränke“, schon Heine monierte da „magere Charakterisierungen“ der Personen. Auch Fouqué schrieb Operntexte, für E.T.A. Hoffmann eine „Undine“, im Todesfinale fragt diese Undine den Ritter: „Nicht einen einen Kuss?“ Drauf der Ritter: „Ja, Liebste, weil ich muss.“ Alsdann: „Ich bin verloren, bin vernichtet. Oh lägen Tote rings geschichtet.“ ETA.Hoffmann vertonte das. Und „Tote, rings geschichtet“, kennen wir das nicht?

Für Wagners Siegfried, also für den „wahren Menschen überhaupt“ gilt nichts Übliches. Im „Ring“ wird er durchweg gefeiert, als Lichtgestalt. Als „siegendes Licht“. Erst in der dritten Ring-Oper ist, wie gesagt, sein erster Auftritt, da kommt Wagners Siegfried nicht aus Xanten, sondern aus Wald und Höhle, kommt da als Kraftmensch mit einem Bären, den er loslässt, um einen Zwerg zu erschrecken. Das Loslassen eines Bären gibt’s auch im Nibelungenlied, aber wie anders. Da ist das Siegfrieds letzter Auftritt, und da wendet Siegfried das nicht gegen einen Schwachen, sondern gegen die oberste Wormser Herrschaft. Kurz bevor die ihn tötet, treibt Siegfried im Nibelungenlied nochmal Eulenspiegel-Späße – Spaß bei Wagner? scheint undenkbar – da schreckt der mit der Bestie keinen Zwerg, sondern Burgunds Höhere, treibt die in ungemach, weil es danach nichts mehr zu trinken gibt, der Bär hat alle Fässer umgekippt. Bleibt nur noch die Quelle. An der ermorden sie ihn dann, ihren überaus hilfreichen Störenfried.

Wagners Siegfried dagegen hasst einen Zwerg, quält den ausführlich, obwohl dieser Kleine ihm einst das Leben rettete und das Schmieden beibrachte, Zwerg Mime fand ihn als Säugling und zog ihn auf, indem er „das zullende Kind“ irgendwie nährte. Nun aber befiehlt Wagners Jung-Siegfried dem Bären, den Zwerg zu fressen. „Friss ihn, den Fratzenschmied!“ Mit „Fratze“ ist Mimes Gesicht gemeint, das für die Lichtgestalt hässlich ist. Seinen Lebensretter verhöhnt er, indem er ihm Eisenstücke in die Glut wirft: „Da hast du die Stücken, hässlicher Stümper, hätt’ ich am Schädel sie dir erschlagen! … Wär mir nicht schier zu schäbig der Wicht, ich erschmiedete ihn selbst … den alten albernen Alp!“ Textdichter Wagner macht aus dem Wort „erschlagen“ das Wort „erschmieden“. Poetisch? Schöpferisch? Was nur hat sein Siegfried gegen den Winzling? Wäre das die Goldgier, dann müsste diese „wahre Mensch“ in den vier Opern alle erschlagen. Denn Gier nach Gold plagt da jeden. Für Mime nennt er als Mordmordmotiv, der sei „alt“, „schäbig“, „hässlich“. Hassenswert? Was wenig später „lebensunwert“ war?

Hässlichkeit reicht offenbar, „Minderwertige“ „in Stücke“ zu schlagen. (Z.:) „Beim Genick möcht ich den Nicker packen, den Garaus geben dem garstigen Zwicker“. Für Wagners Leit- und Lichtfigur verdienen Hässliche also den „Garaus“. Er erschlägt Mime dann tatsächlich. Singt freilich: „Nothung streckte den Strolch“, das Schwert mordete. Wagner dachte und wünschte sich Siegfried als „absolut frei“, frei auch von Rücksicht, auch „von Furcht“. Weil nur wahrhaft Freie „wahrhaft Liebende“ sein können. Siegfried ist für ihn so was wie „freie“ Natur. Der besingt sein Schwert „Nothung“ als „neidliches“ Schwert, Metall also als neidgetrieben. (Z.:) „Nothung streckte den eklen Schwätzer“. Materie hat Mordlust. An den Kriegen seit 70/71 war Kruppstahl schuld? (Z.:) „Nothung! Neidliches Schwert … trotzig und hehr … seine Schärfe schneidet hart … fälle den Schelm!“ Das Fällen von Schelmen, das Fällen und Fallen schaffen hier Schwerter wie von allein. Zwerg Mime ist halt wenig wert, nur, gefällt zu werden, das kapiert schon pure Natur. Bayreuths Festschrift 1933 belehrte. (Z.:) „Siegfried fühlt gegen Mime blutsmäßige Abneigung“.1933, immer mal wieder sind auch Programmhefte hilfreich. Und Siegfried Mordmotiv ist „hässlich“, „schäbig“, „Fratze“, ja, so was grölen sie nun wieder Horden, eine darunter heißt „Nibelungen“. Neue Nazis.

Bevor im „Ring“ Siegfried auch den Drachen erschlägt, rühmt auch der Drache die Lichtfigur (Z.): „helläugiger Knabe … rosiger Held“. „Helläugig“? „Rosig“? Meint das etwa jene weiße Phantom-Rasse, die sich für die stärkste und beste hielt und hält? Großvater Wotan schickt nicht umsonst sein göttliches Licht auf den Schaft, aus dem Siegfried Nothung schmiedet, mordgierig. Auch Wotan preist Siegfrieds „lichte Art“. Und diese „Art“, die lebt unüberhörbar nach dem Gesetz, wonach der Stärkere der Bessere ist und Recht hat. Siegfried first. Wo er ist, ist vorn, ist oben. Das feiert Verbrecherisches als Natur, als „wahres“ Grundgesetz. Auch Hagen singt: Brünnhilde gehöre „einem Stärkeren nur“. Für dieses Prinzip wird im „Ring“ sieben Mal gemordet. Dagegen hat Jahrhunderte früher das Nibelungenlied – im vermeintlich finsteren Mittelalter – für die Siegfried-Handlung nur einen Mord. Den an Siegfried.

Wie immer Wagners Siegfried mordet, er wird besungen, wird gefeiert als „siegendes Licht“, als Vorbild, als „Herrlicher“. Auch Wotans Tochter Brünnhilde – bei Wagner Siegfrieds Tante – auch sie rühmt Siegfried als „Hort der Welt!“, „Heil dir, Siegfried!“ Brünnhilde liebt ihren Neffen, so liest man, „brünstig“, offenbar ur-natürlich. Brünnhilde wie Siegfried sind in Wagners Text ständig umstrahlt von Lichtmetaphern, laut Igor Strawinsky „in chronischer Aufgeblasenheit“. Offenbar kommt für Wagner Licht ins Dunkel der Welt allein durch UrNatur. Und die ist mörderisch, ist Krieg. Wenn Brünnhilde Siegfried preist als „hehrsten Helden der Welt“, dann sieht Siegfried sich auch selber so, denn als „Walter der Welt“ rühmen ihn sogar die Waldvögel. Dies penetrante Beschwören von Stärke wirkt irritierend simpel. Das schmückt Wagners Siegfried ähnlich seltsam wie das unentwegte Selbstlob im Superlativ, wie es derzeit dem Präsidenten Amerikas entfährt.

Auch Prinzessin Gutrune rühmt Siegfried als „mächtigsten Mann“, will nur ihn besitzen. Doch Brünnhilde, die „hehrste Frau“, begehrt den Neffen zuerst, hehrst, will den „hehrsten Helden“ noch stärker als Gutrune, was immer „hehrst“ heißt. Das heißt höchst, herrlichst, ja, auch Tante Brünnhilde fühlt sich (Z.) „dem Stärksten nur bestimmt“, sie und Siegfried kommen nun mal als „Hehrste“ daher. Gehören einander.

Hagen, Sohn des Alberich, rät Brünnhilde (Z.): „Nach Stärkerem späh, willst du den Stärksten bestehen“. Wer also Siegfried gewinnen – oder morden – will, muss noch stärker sein als der Stärkste. Dieses Denken und Handeln in Stärke-Kategorien, es fällt mir schwer, das wenigstens komisch zu finden. Auf mich wirkt es beängstigend. Bestialisch, „blutsmäßig“. Wenn am Ende der vier „Ring“-Opern der Hehrste gegen alles Recht des Stärkeren dennoch ermordet wird, von Alberichs Sohn Hagen, dann wird geklagt zu erschütternder Trauermusik. „Der Reinste war er“. Trauer um eine Gestalt, deren Worte mir Erinnerungen wecken an frühe Lese-Texte, erstes Radio-Hören, an Ausgrenzendes, Fanatischstes.

Weil aber König Gunthers Schwester den Stärksten zum Mann wollte, musste dieser Stärkste die Brünnhilde vergessen. Nutzt auch Hagen „betäubenden Sud“ als „Vergessenstrank“. Als ob Menschen nur im Dope andere vergäßen. Kaum hat Siegfried den Sud geschluckt, ist alles ganz und gar dahin, „der Götter heiliger Himmelsnebel“, sogar das zuvor besungene „ewig … siegende Licht“, alles bislang Ewige ist plötzlich perdu, samt Tante Brünnhilde. Loriot konnte sich lustig machen über diese Rückgriffe aufs Kasperle-Theater. Zumal dann erst ein „Wieder-Erinnerungs-Trank“ den Siegfried zurück holt in sein „ewiges“ Singen und Trachten Richtung Brünnhilde. Waren also die vielen gemeinsamen Heil-Rufe gar nichts wert? bedeutungslos? schlicht wegpustbar? Nach dem „Wieder-Erinnerungs-Trank“ macht nun aber Brünnhilde nicht mehr mit, von nun an ist „Götterdämmerung“. Wotans Tochter fordert Rache, verrät Hagen die Schwachstelle in Siegfrieds Rücken. Für Mord Nummer Sieben.

Kapitalverbrechen unter Göttern und Halbgöttern. Erzwungen vom „Ring“? Der „Ring“ schafft laut Brünnhilde „aller Götter ewig währendes Glück“. Laut Machtfachmann Hagen „ungeheure Macht“. Auch Siegfried weiß, der Ring macht ihn „zum Walter der Welt“ („Gött.“, III.), schafft „heiliges“ Beuterecht, versichert Hagen („Gött.“, III). Bei „Beuterecht“ höre ich Polens “Generalgouverneur“ Hans Frank, der massenhaft Polen foltern und morden ließ (Zitat Hans Frank (wörtlich bezeugt vom Sohn)): „Der Beutetrieb ist nun mal ein Urtrieb des Menschen. Von Juden reden wir erst gar nicht“. Bei Wagner ist „Beuterecht“ nicht nur Urtrieb, sondern auch „Mannesrecht“. An Frauen. Für seinen Siegfried wie für seinen Gunther. König Gunther ist stolz auf seine „Erstlingsart“, schon die „Art“ schafft Beischlafsrecht, auch bei Brünnhilde.

Hagens Mord wird begleitet von Raben-Schreien: „Der Raben Geraune, Rache raten sie mir!“ Auch Brünnhilde will nun den tödlichen Stoß in Siegfrieds Rücken. Menschen operieren hier wie Raben. Als hätten alle Weisen nicht seit je Natur bewundert, als symbiotischen Zauber im Mischen, Ergänzen, Stützen und Gemeinschaft-Leisten, Sicherheit vor Gefahren in vielfältigem Teilen. Wörter wie „Teilen“, im „Ring“ stiften sie „Krieg“. Im uralten Nibelungenlied dagegen, da erklärt König Gunther gleich in seiner ersten Äußerung (Strophe 127, Z.): allez daz wir hân … daz sî iu undertân und sî mit iu geteilet – „alles, was wir besitzen, das steht euch zur Verfügung, das sei mit euch geteilt.“ Und verkündet dann sogar den Feinden, nachdem die von Siegfried wunderbar befriedet wurden (Str. 310, Z.): mîn guot, daz will ich mit iu teilen, des hân ich willigen muot – „meinen Besitz, den will ich mit euch teilen, das will ich aufrichtig“. Und da antworten die von Siegfried Versöhnten: ê daz wir widder rîten heim in unser lant, wir gêrn staeter suone – „ehe wir wieder heimreiten in unser Land, wünschen wir bleibenden Frieden“. Um 1200 humane Wege, Vernunftwege, ermöglicht durch Siegfried. In Wagners Romantik Mord-Wege. Nicht nur Hitler war von Wagner „hin und weg“. Auch heute noch oder wieder, viele, auch Intelligente.

Sir Simon Rattle, am Ende doch auch mal Wagner-Dirigent, pries sehr die Musik, fand den Text aber „eher störend“. Wagner las seine „Ring-Dichtung“ wiederholt vor, stundenlang. 1848 will Wagner tiefe Einsichten gesammelt haben für den „Ring“. Rätselhaft, dieser Bezug zum Freiheitsversuch 1848. Wo könnte im „Ring“ iregndein Echo sein auf diesen Völkerfrühling, auf Visionen, Austausch, Teilen, Solidarität, Rücksicht, Verständigung, Kompromiss, Integration – was einen „wahren Menschen“ denn doch, für Momente, über Bestialisches hinausheben kann. Wo bleibt im „Ring“ eine Spur von all den 1848 quer durch Europa erwachenden Hoffnungen auf menschenwürdiges Miteinander.

Zufällig in den gleichen Monaten, in denen Wagner 1848 erste „Siegfried“-Entwürfe notiert, in eben diesen Monaten entsteht von einem sehr anderen Komponisten Text und Musik zu einer sehr anderen, zur ersten und einzigen klassisch-romantischen Arbeiter-Oper. Bis heute ignoriert. In großem Ernst getextet (Z.): „denn leiden soll kein Mensch auf Erden“. Komponiert von einem vor Wagner, Lortzing. Der beginnt sein Echo auf 1848 mit einem Lohn-Streik der Arbeiter, dann folgen Brandschatzung der Fabrik und Selbstmordterror – und alles in allem die Paulskirchen-Botschaft Einigkeit, Recht, Freiheit.

Im „Ring“ fehlt alles, was an Menschenrechte erinnern könnte. Wagner nennt seinen Siegfried „deutschen Rebell“. Auch noch sein ältester Enkel (Z.:) „Die Schachtanlagen und Hüttenwerke des Ruhrgebiets, im „Ring“ werden sie zu den Werkstätten Nibelheims.“ Just das hätte Grundlegendes zeigen können, Gewaltenteilung, Gewinnbeteiligung, Arbeitsteilung, Solidarität. 1849, in der ersten Phase der Planungen schreibt Wagner seiner Ehefrau: „…dass ein wirklich siegreicher Revolutionär gänzlich ohne alle Rücksicht verfahren muss – der darf nicht an Weib und Kind denken. Sein einziges Streben ist: Vernichtung.“ Und Brünnhilde hat dann tatsächlich zu singen (Z.): „Nacht der Vernichtung, neble herbei!“ „Mordliches Ringen“ waltet im „Ring“. Kampf um Weltmacht. Wotan weiht den „herrischen Schaft“ für „Nothung“ ausdrücklich dem „Krieg“. Jeder provoziert da Krieg. Auch Alberich: „Der Welt walte dann ich“. Und Wotan (Z.:) „Des Rings waltet, wer ihn gewinnt“. Als der Ring noch im Besitz des Drachen ist und Siegfried den Drachen erschlagen hat, beginnt Wagners Siegfried zu grübeln (Z.:) Es „grämt mich schier, dass viel Üblere UNerschlagen noch leben“.

Für diesen „Ring“ war 1876 ein eigenes Festspielhaus entstanden, nicht in Berlin oder München, schon gar nicht im Ruhrgebiet, sondern in Bayreuth. Und wer kam und hörte zu? Wie bei den frühesten Opern und wie in Bayreuth noch heute: Prominenz, Mächtige. Zur Uraufführung kam der Kaiser, wie in den Anfängen der Oper. Herrschende fanden sich von Grund auf bestätigt, in ihrem „Gottes Gnadentum“.

Im „Ring“ ist weder ein Echo von 1848 noch irgendetwas vom Nibelungenlied, von der vermeintlichen Vorlage. In der Vorlage fehlen Götter, fehlt alles „Hehrste“ und ist Siegfried einer, der systematisch Kriege vermeidet. Da weiß von Archaischem allein Hagen, ein erster Kanzler am Rhein, erster Propagandaminister. Und nutzt das Vorzeitliche zum Rufmord. Bevor Kriemhilds Traum-Ritter aus Xanten in Worms auftaucht – der kommt da nicht aus Wald und Höhle – bevor der Königssohn vom Niederrhein Unruhe stiftet am Oberrhein, also in der schönen Burgunderprinzessin, da behauptet Hagen, der Xantener hätte „siebenhundert Recken“ erschlagen, einen Drachen und außer den nibelungischen Riesen auch einen Zwerg, der sich tückisch zu tarnen wusste. Hagen stellt den potentiellen Bewerber um Kriemhild vorweg in zweifelhaftes Licht. Die Autoren des Epos dagegen, die Passauer Mönche erzählen von Siegfrieds Jugend kein Wort, überlassen das Hagen. Drachenkampf und Gewalt stehen da ausdrücklich in Anführungszeichen, ab Strophe 86: Alsô sprach do Hagene (Doppelpunkt, Anführungszeichen). Und das endet 13 Strophen später nach Punkt und Abführungszeichen: So sprach von Hagene Tronege. Die Erzähler selber berichten in der Zehntausend-Zeilen-Dichtung vom Drachenkampf – nichts.

14 Tage nach meiner Geburt in einer Krupp-Klinik in Essen legte mein Vater ein Tagebuch an, begrüßte mich als seinen dritten Sohn (als Faksimile in www.jürgen-lodemann.de), und der Vater wünscht dann: „Werde einst ein ganzer Mann!“ Was das sei, sagt der Bauernsohn nicht. Statt auf dem ererbten Heidehof Landwirt zu sein, studierte er die um 1900 weltweit aufstrebende Elektrotechnik und nun – im März 1936, im Willkommen zu meiner Geburt und in großem Ernst – schwärmt er „vom größten Siege, vom Sieg des Friedens. Vergiss nie, dass das deutsche Volk diesen Sieg Adolf Hitler zu danken hat, dem Manne, dem du danken kannst, dass du lebst. Ohne ihn wäre Deutschland nicht, wärest du nicht.“

1965, in Frankfurt liefen die Ausschwitz-Prozesse, schickte mir der 70jährige fast hundert handgetippte Seiten unter dem Titel: „Der große Irrtum“. Darin Worte wie „Grauenhaftigkeit“ und „unvorstellbar“. „Gegen das größte Verbrechen der Menschheit“ sei er geblendet gewesen von Lügen, auch von Friedenslügen. Wirksamste Propaganda berauschte in der Tat Millionen, und zwar so sehr, dass Goebbels und Co ihre Lügen am Ende selber glaubten. Psychologie ermittelte, dass Lügen, die der Lügner selber glaubt, beste Chancen haben, geglaubt zu werden. Nach dem Tod meines Vaters wurde sein „Der große Irrtum“ ein beachtetes Buch, Vorwort Harald Welzer. Kann sein, schon Hagen glaubte seine Drachen-Sagen selber. Wie sonst hätten er und Kriemhild die Schwachstelle in Siegfrieds Rücken so vehement glauben können.

In der größten deutschen Stadt, in der Städtestadt Ruhr stand meine Kindheit unter vaterlands-berauschten Gesängen, noch jetzt höre ich sie, all die empörten Radio-Redner, dann aber Alarme und Bomben dicht nebenan. Die zehn und acht Jahre älteren Brüder schwärmten von Siegfried, schrieben mir ins Tagebuch, das erstes Lied, das ich gesungen hätte, ginge um eine „Siegfried-Linie“ samt „Bomben auf Engel-Land“, „Engelland“ hätte ich gesungen, mit fünf. Im Winter 42/43 verkaufte ich auf der Straße Siegfried, Hagen und Gunther als kleine Holzfiguren für Geld „an die Ostfront“, wo, wie ich verstand, „unsere Soldaten jämmerlich frieren mussten, in sibirischer Kälte“. In der „NS-Frauenschaft“ strickte die Mutter Pullover und Socken und ließ mich singen. Im Krieg lähmt den Einzelnen idiotisches Unwissen, Falschwissen. Und seit langem ist darunter ein fatal gefälschtes Siegfried-Bild.

Meine Kindheit stand fast 10 Jahre im Zeichen vom Drachen. Und vom Siegfried in Wagners Fassung. Wichtig für Lehrer war ab 1934 die Zeitschrift „Politische Unterrichtspraxis“. Die pries Siegfried wörtlich als (Z.) „glückhafte Verkörperung rassischer Hochwerte“. Schon im Weltkrieg I nannte die Militärführung Frontlinien „Siegfriedlinien“. Wenn schon keine Generäle, Germanistik hätte klären können – müssen – dass Siegfried im Epos keinen Krieg führt, sondern Kriege blockiert. Und dass er da niemanden ermordet. Nicht mal Drachen.

Kaum waren ab 1750 die alten Handschriften entdeckt, wurden sie verklärt. Zu Urkunden der deutschen Nation. Und die wollte Stärke. Schon im „Jahrhundert der Aufklärung“ wurde das entstellt. Johannes von Müller, 1750 Entdecker der St.Galler Handschrift, teilte mit, dies sei eine „teutsche Ilias“. Friedrich von der Hagen, erster Germanist, feierte den Fund als „Urkunde des unvertilgbaren teutschen Karakters.“ Der sehr erfolgreiche Theaterdichter Kotzebue meint, Siegfried sei über die Deutschen gekommen „wie ein deutscher Napoleon“. 1870, im Krieg gegen Frankreich, erklärte Germanist Karl Simrock, Herausgeber des Nibelungenlieds, das Lied sei eine „Feld- und Zeltpoesie“. Mit dem könne man „Armeen aus der Erde stampfen“, gegen die „Verwüster des Reiches, die gallischen Mordbrennern und ihrer römischen Anmaßung“. Gemeint waren da Frankreich und die Kirche in Rom. Keinen Moment störte es Professor Simrock, dass in den zehntausend alten Zeilen Siegfried kein einziges Mal deutsch genannt wird. Auch Hebbel nannte sein Nibelungen-Drama „Deutsches Trauerspiel“. Nannte das den „gewaltigsten aller Gesänge von deutscher Kraft und deutscher Treue“. Das stärkt meinen Verdacht, auch Wagner und Hebbel, sie kannten vom Nibelungenlied nur, was sie sich wünschten. Mythen, Gerüchte. Drachensagen, Stärke. So, wie Größenwahn das wollte und – die Regime.

1907 durchquerte die Reichshauptstadt des Kaisers Auto mit Hupen-Gedröhn nach Wagner-Motiven. 1907 feierte der Philosoph Wilhelm Dilthey das „nationale Epos“, als „wahrste Darstellung von Heldentum und Nation“. Im Weltkrieg I markierte Militärführung außer Siegfriedfronten auch „Hagen-Stellungen“. Und das „gemeine Volk“ litt Hirn-Risse. „Jeder Stoß ein Franzos“. „Jeder Schuss ein Russ“. Noch nach Weltkrieg II nennt Heiner Müller den Nibelungenstoff den „deutschesten aller deutschen Stoffe“. Siegfried sieht er in einem „Totenhaus“. Dabei wird im Nibelungenlied ausführlich geschildert, wie Siegfried Verwundeten hilft und wie er Festspiele stiftet. Doch wer heute von Siegfried redet, meint den des Richard Wagner, z.B. Heiner Müller in „Die Kinder der Nibelungen“. Noch jüngst, in der sehr guten Zeitschrift „Volltext“ und bei Suhrkamp kann Sibylle Lewitscharow publizieren: (Z.) „Siegfried ist ein … Schlagetot, nicht mehr. … ein Schlagetot, der bei der ersten Gelegenheit zum Schwert greift.“ Schon Ernst Jüngers Kriegsbuch „In Stahlgewittern“ wurde begeistert begrüßt als „Siegfried-Buch“, und was das damals hieß, sagte Freischärler Jünger genügend deutlich: „Unsere Arbeit ist töten, und es ist unsere Pflicht, diese Arbeit gut und ganz zu tun.“ Ja, „Vernichtung nebelt“. Dichter und Germanist Felix Dahn verkündete: „Und lachend, wie der grimme Hagen, so springet in die Schwerter, in den Tod! … So soll Europa stehn in Flammen!“ Das gelang dann ja zweifellos, Europa in Flammen.

Wagner hat natürlich Kriegslust und Judenverfolgung nicht initiiert, hat nur einen vorhandenen Strom einzigartig verstärkt. Weniger mit seinen Ausfällen gegen die Konkurrenten Meyerbeer oder Mendelssohn. Sondern mit der ungeheuren Wirksamkeit seiner Musik. Zu fatalen Texten.

Wenn live übertragen wird von den Wagner-Festspielen, dann gellen am Ende Schreie. Aus welcher Begeisterung? Das Nibelungenlied las ich inzwischen abermals neu, zehntausend Zeilen. Daneben Wagners Text. Schon weil ich zum Ende meines Lebens doch wenigstens ahnen will, von was deutsche Völkermorde kommen konnten. Vom Popanz unbesiegbarer Überlegenheit über alle anderen? Vom „ganzen Mann“ im Sinne Siegfrieds, der auch ich werden sollte? Nie solle ich vergessen, mahnte der Vater, dass ich Hitler zu danken hätte, dass ich lebe. Wird gemacht, Alter.

1918 wurde das überaus wirksame Bild vom Stoß in Siegfrieds Rücken zum Stoß in den Rücken Deutschlands. Gestoßen von „Undeutschen“. In Hitlers „Mein Kampf“. (Z.:) „So lange wurde“ – 1918 – „gehetzt und gewühlt, bis endlich der kämpfende Siegfried dem hinterhältigen Dolchstoß erlag.“

Über den 900 Seiten meines Siegfried-Buchs steht als Widmung die letzte Äußerung eines 19jährigen. Der schrieb den Eltern am 8. 9. 1914, kurz bevor er fiel: „Glaubt mir, ich beneide keinen, der mit heilem Fell davonkommt und übrig bleibt. Irgendwas stimmt an unserer Zeit nicht. Irgendwas stimmt an ganz Deutschland nicht.“ In fast allen Volksausgaben des Nibelungenlieds operierte Siegfried wie der des Richard Wagner. Vorbildlich, verheerend, als Totschläger, unbezwingbar, „rassisch hochwertig“. Nicht nur Hitler war von Siegfried begeistert (Z.): „Wir benötigen Soldaten, die gläubig sind.“ Sein Glaubenskrieg kostete 50 Millionen. „Gefallene“. Menschen. 25 Millionen russische, ukrainische. Zwölf Millionen deutsche. Sechs Millionen jüdische, Ermordete. Sechs Millionen polnische, Ermordete. Für die aktuellen Jugendbetrüger „Vogelschiss“.

Nach 1945, als gebe es Scham, haben Germanisten von Siegfried eher geschwiegen. Immerhin lernte ich in Freiburg sieben Jahre lang Altdeutsch, bei Siegfried Grosse, bei Siegfried Gutenbrunner. Friedrich Maurer, dort gleichfalls verehrt als Altgermanist, hörte ich 1956 in der gefüllten Aula (Z.:) „Hauptfigur im Nibelungenlied ist eindeutig Kriemhild“. Von was aber und von wem erzählt dann das große Epos? Für mich von Kriemhild und Siegfried. Und nicht von Göttern und Halbgöttern, sondern von Welt und Menschen, so real wie zeitlos. Höchste Zeit, in Sachen Siegfried endlich die beste, die genaueste, die St. Galler Handschrift B – zu lesen. Die ersten zwei Zeilen:

Uns ist in alten maeren / wunders vil geseit
von helden lobebaeren / von grozer arebeit.

„Uns wird in alten Berichten viel Wunderliches gesagt. Aber auch von Helden, die man loben könnte, von schwerer Arbeit.“ Als Vorwort zu einer riesigen Begebenheit nur zwei Zeilen. Aber wie grandios und wie genau. Auf drei Zeit-Ebenen werde erzählt: von maeren, von wunders vil, von grozer arebeit.

Maeren sind nicht Märchen, sondern das, was heute Nachricht heißt, schon damals gern bezweifelt. Liedersänger Walther: der iu maere bringet, daz bin ich. Und wenn später Luther seinen Engel singen lässt, ich „bring euch gute neue Mär!“, so meint das nicht Märchen, sondern Hoffnungen. Historiker sind sich einig, das Nibelungenlied spiegelt auch die erste nachweisliche „Völkerwanderung“, meginfart michil, blutige „Völkerflucht“ quer durch Europa. Mit ihr kriegt Siegfrieds arebeit zu tun, mit Sippen und Völkern, die auch damals bessere Regionen erreichen wollten oder mussten, Sachsen, Franken, Burgunder, West- und Ostgoten, Vandalen, Alemannen.

Groze arebeit meint ritterliche Mühsal gegen den Krieg. Auch in dem, was das Finale einzigartig erzählt als Untergang aller im Bann des Besitzdrachen. – Wunders vil ist dann diese Sagenwelt von Riesen und Drachen, die im Nibelungenlied nur einer verbreitet, Hagen.

In diesem ersten Weltspiegel deutscher Sprache machen schon die zwei ersten Zeilen Mitteilungen wie ein moderner Riesen-Roman. Sie sagen gleichzeitig drei Welten an, drei Zeiten. Erzählt wird von den alten Zeiten der Völkerwanderung, von aktueller Kriegs-Gegenwart und von Zukunft, schon Zeile 3 weiß von weinen unde klagen. Obendrein gibt Aventiure Eins in der letzten Zeile denkwürdigen Vorausblick (das Wort sîn meint Siegfried, Z.): „Durch sîn eines sterben starb vil maneger muoter kind“. „Das Sterben dieses Einzig(artig)en sorgte fürs Sterben der Kinder unzählbar vieler Mütter“. Das wurde wahr. Und dann millionenfach.

Aventiure Eins rühmt Burgunderprinzessin Kriemhild, die habe in Worms von einem Falken geträumt. In ihrem Flugtraum wird der getötet, so wie dann im Epos Siegfried. Aventiure Zwei erzählt vom Prinzen in Xanten. Als der von der schönsten aller Prinzessinnen hört, erklärt er den Eltern, er erstrebe hohe minne. Um 1200 steht Minne in Europa in höchstem ritterlichen Ansehen.

Aventiure Drei erzählt, wie Burgunds Heermeister Hagen in Worms „Wunderliches“ erzählt, Siegfrieds Töten von Drachen und Riesen. Immerhin habe der auch Schmieden gelernt. In Worms ist Schmieden Sache des Heer- und Waffenmeisters. Nun naht da einer, der Waffen noch besser beherrscht? Der, sagen die Erzähler, ist Minne-Ritter. Er versuchte vil der rîche, besuchte „viele Reiche“. Just das sagen sie auch von Hagen, fast wortgleich. Auch dem sint kunt diu rîche.

Als Siegfried in Worms erscheint, erschreckt er Burgunds Regierende wie ein Muhamad Ali des Mittelalters, prahlt aber nicht etwa, dass er Vorzeitmonster besiegt hätte, das hätte doch nun bestens gepasst, nein, Wunderliches bleibt Sache des ersten deutschen Propaganda-Fachmanns. Jung-Siegfried, prahlend wie ein früher Spitzensportler, erklärt, er könnte Burgund im Nu besitzen und besetzen. Im Zeichen hoher minne ist das nur schlechtes Benehmen, ändert sich aber sofort, wenn er an Kriemhild denkt. (Str.123):Do gedâhte Sivrit an die herlìchen meit (Str.131): er het uf hohe minne sîne sinne gewant. „Da hatte Siegfried seine Sinne gewendet, auf hohe minne“. Im Denken an Kriemhild wird er höflich – erste Lehre des großen Lehrstücks.

Und zwischen Kriemhild und Siegfried, was passiert bei ihrer ersten höfischen Begrüßung? (Str.293):Bi der hende si in vie, „bei den Händen nahm sie ihn“. Präziser übersetzt: bei den Händen „fing“ sie ihn: si in vie – sie fasst den jungen Mann an, berührt ihn. Kriemhild, von dem Gast fasziniert, fesselt ihrerseits. Im alten Epos geht es um vielfaches Fesseln. Wan daz in twang ir minne – „hätte ihn nicht ihre Liebe gefesselt“, hier mit der Doppel-Bedeutung von „ihre“, das beide zugleich meint, es begehren ja beide.

Kriemhild sieht ihn lange nur fern. Statt Minnedienst leistet er Kriegsdienst, einen dringend nötigen. Und bald auf sehr eigene Weise. Denn da gelingt ihm nichts weniger, als Kriege zu umgehen, ausfallen zu lassen. Da wolder wesen herre für allen den gewalt, des in den landen vorhte, der degen küen unde balt – „da war dieser mutige und kühne Ritter bereit, sämtliche Gewalt zu beherrschen, alle Bedrohungen des Landes“.

Im Patriarchat wird Burgunds Prinzessin nicht einfach hergegeben, vorweg verlangen die Regierenden arebeit, Kriegsdienst. Und wie leistet die der Xantener? Die meistec hat verhouwen des küenen Sivrides hant, „die meisten hat er verhauen, eigenhändig“. Kriemhild kunden disiu maere nimmer lieber gesîn, „Kriemhild konnte davon nie genug hören“. Fasziniert ist sie von dem Kerl, von seiner spöttischen, fast schon eulenspiegeligen Haltung, wenn er etwa vor einem der Kämpfe dem König Gunther rät: Herr König, belîbet ir bi den frouwen und traget hohen muot, „bleibt Ihr hier bei den Frauen und beschäftigt euch mit euerem hohen Mut“ –schon diese Hauptfigur des Nibelungenlieds war ein erster „Tyll“. Hoher muot war um 1200 ähnlich angesagt wie hohe minne, man könnte Siegfrieds Spott so übersetzen: „Lest ihr nur weiter eure edlen Feuilletons, ich mache so lang da draußen die Drecks-Arbeit“. Im Nibelungenlied ist Siegfried alles andere als tumber Tor aus dem Wald, der Siegfried des Mittelalters agiert ritterlich, spöttisch spielerisch, besiegt angreifende Wandervölker sportlich. Nicht erschlagend, sondern „fesselnd“.

Im alten Epos geht es präzise ums WIE des Erzählens. Das WAS, vor allem das tödliche Finale, das ist bekannt von Beginn an, schon durch den Falkentraum, schon Zeile 3 wusste von weinen unde klagen. Das Ende wird als Katastrophe ständig vorausgesagt, erzählerisch wird da alles getan für das WIE – wie das hat kommen können, wie intensiv die Hauptfigur in der Hälfte Eins der Dichtung Unheil und Krieg zu verhindern weiß, Kriege. Um so fataler, dass dieses Besondere des Nibelungenlieds so gut wie ignoriert wurde, Aventiuren 4 und 5 spielten bei Germanisten selten eine Rolle – die Mühsal genauen Erzählens im Passauer Kloster blieb umsonst, vergeblich die Methoden der Hauptfigur, obwohl ihn die Erzähler schon in Zeile 2 hervorhoben als „Helden, den man loben sollte“, ach, schon der erste Herausgeber und Germanist Karl Simrock übersetzte das lobebaer mit „preiswert“.

Immer neu kommt es im Text auch auf kleinste Silben an, wenn es etwa in Str. 207 heißt, dass er von den Sachsen so manegen sluoc, das ist kein „irslac“, kein Erschlagen, sondern „Schlagen“. Wie im Trotz gegen grauenhafte Epochen kämpft Siegfried nie mörderisch, auch dann nicht, wenn 40 000 Sachsen angreifen (Strophe 181). Lediglich wehren muss er sich da, werlîche sluoc er (Str.191), „abwehrend“, in tödlicher Umzingelung rettet er sein Leben gegen vielfache Übermacht, werliche, in Notwehr. Und seine grandiosen Erfolge erzwingt er dann dadurch, dass er sich jeweils zum gegnerischen König oder Herzog durchschlägt und vom Führenden die alte ritterliche Übung Zweikampf fordert. Und dies Duell, der Tjost der Ritter, hat prompt Publikum bei Angreifern wie Verteidigern. Und Zweikämpfe gewinnt dieser Kerl immer, auch im blutigen Ernst. Die Besiegten jedoch tötet er nicht wie damals üblich, auch noch im Alten Testament, nein, Siegfried fesselt die Geschlagenen und überstellt dann die gefangenen Führer dem König Burgunds. In der Blut-Epoche der Völkerwanderung ist da einer nicht auf Massaker aus, sondern auf Waffenstillstand, auf Versöhnung, Frieden – eine solitäre Leistung, von der Nachwelt ignoriert, folgenreich von den Nazis endgültig, von Germanisten gehütet wie einGeheimnis, als sei das eine peinliche Schwäche des Superhelden.

Obwohl das Epos Deutschlands Anfänge so schildert, als hätten die Autoren die tausend Seiten des Johannes Fried gekannt: „Die Anfänge der Deutschen“. Frieds enorme Faktensammlung kommt zu dem Fazit: „Unerschöpflich das Betrugsarsenal“. Streit, Betrug, Mord, Massaker. Nur selten Kluges – Bündnisse, Verträge, Heiraten, Übereinkunft.

Im Nibelungenlied ertragen kampfbereite Dänen vil grimme leit, sehen plötzlich ihren König bezwungen, zwar nicht erschlagen, aber: „gefesselt“, entsetzt sind sie (Z.:) Ir herre was gefangen (Str.192/93). Werden am Ende als sigelosen recken ze Tenemarke rîten, also „sieglos zurück reiten nach Dänemark“. Nicht anders ergeht es den Sachsen unter Liudeger, auch der wird vom Xantener gleichfalls nicht getötet, sondern gefesselt: vrides bat der, plötzlich fleht auch Herzog Liudeger um „Frieden“, der wird auch ihm gewährt. Do muos Liudeger werden gîsel in Gunthers land, „auch Ludger muss Gefangener sein im Lande Gunthers“. Bei all dem ist der Xantener nach den geographischen Gegebenheiten so was wie ein erster Ruhrschmied, 2010 gehörte zu „Europas Kulturhauptstadt Ruhr“ auch Xanten, und wo sonst war das Schmieden besser zu lernen wenn nicht an der Ruhr, im Süden Bochums, im Süden Essens („Eschen-Ort“), wo die Archäologie alte und älteste Werkstätten dokumentiert. Dieser Schmied bringt nun rîche gîsel in daz Guntherez lant, „schafft reichlich Gefangene in Gunthers Land“: alsô hôher gîsel gewan nie ein künec mêr, „dermaßen hochgestellte Gefesselte gewann ein König nie“.

Die Aventiuren Vier und Fünf, sie sind entscheidend für die große Lehrdichtung Nibelungenlied, das heute höchstens noch bekannt ist mit seinem finalen Blutbad – als wäre nicht weit wichtiger die Entwicklung davor, das WIE vor dem Untergang. Wie konnte das kommen. Wie hilfreich wäre es gewesen, Generationen junger Leute hätten auch die Anfänge gekannt, die vernunftnah glanzvollen Gegenbilder.

Dazu gehört nicht nur das Güter-„Teilen“ mit den Feinden oder die Bilder davon, wie da die Verwundeten gepflegt werden, auch und sogar die Verletzten der Besiegten, der Feinde, wie man auch die aus dem Schlachtfeld heraus nach Worms bringt, auf blutigen Bahren, rôte bâre heißt es da (Strophe 239): Man brâhte sie ze ruowe und scuof in îr gemach. Den wunden man gebettet vil güetlîchen sach. „Man sorgte für ihre Ruhe, für ihr Wohlbefinden. Die Verwundeten sah man besonders liebevoll gebettet.“ (Z.:) Man schancte den gesunden met und guoten wîn. Dô kunde das gesinde nimmer vroelîcher sîn. „Den Unverletzten, denen schenkte man Met und guten Wein. Da ging es unter den Leuten bald so fröhlich zu wie selten“. Wunne âne mâzen, mit vreuden überkraft heten al die liute (270). „Unermessliche Wonne, ja, überschäumende gute Laune“ – ja, alle. Siegfried hiez der wunden hüeten und scaffen guot gemach / wol man sîne tugende an sînen vianden sach (Str.248). Siegfried „ließ die Verwundeten pflegen und für Wohlbefinden sorgen, wunderbar erwies er seine Tugenden an seinen Feinden“. Seine Tugenden, sie waren menschenfreundlich. Kaum sind alle wieder gesund, gibt’s abermals Ritter-Turniere: An einem pfinxtmorgen sah man füre gan fünftausend oder mêre dâ zer hôhgezît / sich huop diu kurzewîle an manegem ende wider strît (Str.271). „An einem Pfingstmorgen sah man gut fünftausend in die Festspiele ziehen – ja, in Wormser Festspiele, der Sache nach erfunden und begründet von der Siegfriedfigur. Als „Kurzweil“gegen den Krieg“ – wider strit. Das vermeintlich bloß blutige Epos mit seinem grausigsten Finale, es beginnt ungewöhnlich human.

Und erst nach ausgiebigen Versöhnungen dürfen all die zuvor feindseligen Stämme heimziehen, siegfriedfertig. Auch dieser Abschied denkwürdig (Str.218, Z.): Mit gemeinem rate so lîezen si den strît. Erst „nach gemeinsamen Beratungen beenden sie den Krieg“, also nicht etwa unter Diktat der Sieger, etwa nur die Burgunder „berieten“ da unter sich, nein, nach „gemeinsamen“ Beratungen, mit den Angreifern, erst dann lassen sie das Kämpfen. Dann wird mit Dänen oder Sachsen ausgiebig gefeiert, bei glänzenden Festspielen, spannenden Turnieren, mit den Ex-Feinden. Der zum Kriegstreiber verfälschte Siegfried, im Nibelungenlied schafft er Willkommenskultur. (Z.:) manegen ungesunden sah man vroelichen sît, „viele Verwundete sah man seitdem wieder lebensfroh“. Das sind doch noch Mitteilungen – Wagner dagegen lässt als Nummer eins Siegfrieds Vater Siegmund erschlagen, für das Ehrgefühl seiner Stiefmutter. Und Wagners Held bedauert dann, dass die Welt übervoll sei mit noch Unerschlagenen. Im Nibelungenlied stattdessen festliches Gelage mit denen, die als Feinde kamen. Siegfried verschenkt in Worms seinen Hort-Besitz. Und König Gunther „teilt“ tatsächlich, schenkt jedem bi fünf hunderten marken, und etslîchen baz, jedem „etwa 500 Mark und etlichen mehr“. Kriemhild ist endgültig entzückt. Weniger Machtmensch Hagen.

Hätten doch so etwas auch meine älteren Brüder gewusst. Die

mussten noch im April 1945 – 17- und 19jährig – an die „Ostfront“, sollten und wollten, wie Reserve-Siegfriede, „gegen den Russen“ die „Festung Berlin“ verteidigen, „den Führer vorm Iwan retten“. Kannten nicht nur nicht das große Epos, kannten Siegfried – wie ich – nur als Totschläger. Wie schrieb jener 19jährige als Letztes: „Irgendwas stimmt nicht an unserer Zeit.“

Unbekannt blieb Siegfried auch als ritterlicher Berater, am Hof Burgunds. Dô gie der künec Gunther, dâ er Sifriden vant. „Da ging der König Gunther umher, bis er Siegfried fand.“ „Nû rât et, wie ich tuo!“ „Nun ratet mir, wie ich handeln soll!“ Und da rät ihm Siegfried, heute nur bekannt als Raufbold, Muskelprotz oder Wagnerscher Simpel, im großen Epos dagegen rät Siegfried dem König, sich von den früheren Feinden vor deren Abzug „Sicherheiten“ geben zu lassen (Z., Str.218): Ir sult sie ledeclîchen hinnen lâzen varn / daz die recken edele mêre wol bewarn vîentlîchez rîten her in iuwer lant des lat iu geben sicherheit. „Ihr solltet Freiheit gebennur unter der Bedingung, dass diese wackeren Kämpfer es in Zukunft unterlassen, feindlich in euer Land einzufallen, dazu lasst euch Sicherheiten geben“. Das Wort Sicherheit ist hier wörtliche Rede Siegfrieds, für Feuilletons freilich, da bleibt er offenbar ewig „deutsches Horrormonster“, in Wahrheit wäre er so was wie eine Leitfigur Europas. Bei Wagner wären Friedensschlüsse wie im Nibelungenlied undenkbar. Im tausendjährigen Epos steht das menschen-schonende Wort „Sicherheit“ Buchstabe für Buchstabe so wie noch heute im Duden, in Parteiprogrammen. Dazu dann König Gunther: Des râtes will ich volgen. Und dann lîezen sie den strît, „beendeten den Krieg.“

Immer mal wieder gib’s in der Germanistik das Staunen, wozu Geistliche ein so blutiges Epos verfassen konnten. Da wird gemutmaßt, auch Mönche hätten halt Bedürfnis nach Unterhaltung. Schließlich bietet ja die Siegfried-Hälfte auch eine Hochzeitsnacht, in der Brünhild den Bräutigam an die Wand hängt. Würde endlich das WIE registriert, Siegfrieds arebeit für Frieden, gegen Krieg, dann beantwortete sich von selbst, warum fromme Mönche der alte Stoff so fesselte, dass sie am Beginn deutscher Literatur ein vielfältiges Ungeheuer an Werk schaffen konnten. Aber sieh da, auch sie hatten biblisch eine Vorlage, und welch eine denkwürdig aktuelle. Siegfrieds Methoden des Friedenstiftens findet man Schritt für Schritt im Alten Testament. Der Zweite Brief „Könige“ berichtet von einem Sieg des israelischen Heers über das der Syrer. Prophet Elisa verhindert da, dass nach dem Sieg die Besiegten nicht – wie auch damals üblich – geköpft wurden (Zitat Bibel (6, 8 bis 21ff)): „Und da sprach der König von Israel zu Elisa: Soll ich sie erschlagen? – Da antwortete Prophet Elisa: „Du sollst sie nicht erschlagen. Erschlägst du denn die, die du mit Schwert gefangen hast? Setze ihnen Brot und Wein vor, lass sie essen und trinken, auf lass sie zu ihrem Herrn zurückziehen. – Da wurde ein großes Mahl bereitet. Und als sie gegessen und getrunken hatten, ließ er sie frei. Seitdem kamen Syrer nicht mehr in das Land Israel“. Und so ziehen auch im Epos alle Besiegten ab, befriedet.

Die „mit Schwert“ Bezwungenen „nicht erschlagen“, sondern „mit Schwert gefangen nehmen“, so sagt das Elisa – geht friedliches Freilassen noch paralleler zur Dichtung der Geistlichen? Noch aktueller?

Doch dann bittet König Gunther seinen Berater um eine weitere arebeit. Auch Gunther träumt, seine Traumfrau ist Brunhild auf Island. Die habe aber, weiß man, alle Bewerber, die Brünhilds Prüfungen nicht bestanden, exekutieren lassen. Dennoch sehnt Gunther sich nach einer so sagenhaften Kraft-Frau. Der Xantener verspricht Beistand, als Brautwerber, auch jetzt Kriemhild zuliebe, daz ist nach iuwern hulden erklärt er ihr (304). Ein Schiff mit Burgunds Herren steuert der Niederländer übers Nordmeer, und in Island kommt es zur „nordischen Kombination“, scheinbar besiegt Gunther die Brünhild, weil ihm dieser frühe Trick-Sportler Siegfried mit Täuschungen hilft und auf diese Weise allen das Leben rettet. Brünhild, bei Wagner Brünnhilde, sie wurde im Zuge der Frauen-Bewegung fast zur Ikone, als Betrogene und Leidende, was gleichfalls nur möglich wurde jenseits von Text-Kenntnissen. Im Nibelungenlied erklärt sie den Gästen aus Worms wörtlich: „Wenn Gunther den Kampf zu bestehen wagt, ja, dann werde ich seine Frau“, und dann, mittelhochdeutsch: „…unt ist, daz ich gewinne, ez get iu allen an den lîp“, „falls aber ich gewinne, geht es euch allen ans Leben“. Dann erblicken die Burgunder den Speer, den truogen kûme drie man, „den konnten kaum drei Männer tragen“. Hagen flucht: „Der ir da gêrt ze minnen, die ist des tiuvels wîp!“ Aber der Xantener, er hilft auch jetzt, clever getarnt, so dass Brunhild glauben muss, Gunther habe gesiegt. Siegfried vermeidet auf Island abermals vielfaches Kopf-ab, Kriemhild zuliebe.

Listig nennt er sich Gunthers Eigenman, schon unterwegs riet er, sie sollten wan einer rede jehen, „reden mit einer Zunge“: Gunther sî mîn herre und ich sî sîn man (386) – „als sei Gunther mein Herr und ich sein Untertan“. Und im deutschen UrKrimi spricht dann am Ende alles so sehr für König Gunther, dass Brunhild mitfährt nach Worms, freilich im Schiff der Frauen. Dann in Worms: Doppelhochzeit! Siegfried und Kriemhild mit wunne âne mâzen. Aber Gunther mit Brunhild, da wird die Nacht anders, auch Brunhild fesselt, nämlich ihren Mann in der Hochzeitsnacht, umgürtet, hängt ihn an einen Nagel. Gestehen soll er, dass auf Island betrogen wurde, verspricht ihm mehr solcher Nächte, wenn er weiter lügt.

Tags drauf fleht Gunther den Xantener an, ihm noch einmal zu helfen.Tuo ir, swaz du wellest, „mach mit ihr, was du willst“. Und der tut eine letzte groze arebeit, Kriemhild zuliebe, wan daz in twang ir minne. Helfen kann er Kriemhilds Bruder nur, indem er Brunhild den Kraftgürtel raubt, und da handelt er auch jetzt in Treue, treu zu Kriemhild wie zu Gunther, auch hier lohnt es sich sehr, die Handschrift genau zu lesen, denn da schafft er es im Dunkel, als vermeintlicher Gunther, der neuen Königin Burgunds den sagenhaften Gürtel zu entwenden, und zwar so, dass sie abermals glauben muss, Gunther habe das geschafft. Brunhild (Str. 678) stammelt dann: ich gewér mich nimmer mêre der edelen minne din. Sie werde „sich seiner Minne nie mehr erwehren“. Und dann, entscheidend: Sîfrit stuont dannen„Siegfried trat beiseite“. ligen liez er die meit „liegen ließ er die Jungfrau“ ... dar zuo nam er ir gürtel –… und ergriff ihren Gürtel.“ Meit meint nun mal in jenen Zeiten „Jungfrau“. Nein, im Epos schläft Siegfried nicht mit Brunhild, sondern sobald er den Gürtel besitzt, geht er zur Seite, stuont dannenDone was ouch si niht sterker dann ein ander wip, „danach war auch sie nicht stärker als andere Frauen“.

Noch in derselben Nacht schenkt der verspielte Xantener und frühe Tyll Eulenspiegel Brunhilds magischen Gürtel seiner Kriemhild, die erkennt das Stück, ist sich sicher, ihr Liebster habe mit der Isländerin geschlafen. Am nächsten Tag, als in Worms wieder Turnier ist und Siegfried wieder alles gewinnt, kommt es unter den zuschauenden Königinnen zur Frage, welche dieser beiden Frauen dem großartigeren Mann vermählt sei. Brunhild sagt, in Island habe Siegfried sich Gunthers Eigenman genannt, Untertan des Königs. Da protestiert Kriemhild, Siegfried sei keinem untertan. Ist für sie Weltbürger.

Im „Sachsenspiegel“, dem ältesten deutschen Gesetzbuch, entstanden wie das Nibelungenlied um 1200, in diesem frühesten Vorläufer unseres wunderbaren Grundgesetzes formuliert sein Autor Eike von Repkow: „… kann ich es niemals für Wahrheit halten, dass jemand eines anderen Menschen Eigentum sein sollte.“ Da wird Freiheit erstmalig deutsch formuliert, nicht als Recht des Stärksten, nicht als Beuterecht wie im „Ring“, sondern als Grundrecht eines jeden.

In Worms will dann Brunhild, dass Kriemhild beim Betreten des Doms ihr, der Königin, den Vortritt lässt. Da zeigt Kriemhild öffentlich, an ihrem eigenen Leib, Brunhilds Gürtel, den habe ihr letzte Nacht ihr Liebster geschenkt. Offenbar schlafe Brünhild auch mit denen, die sie für Untertanen halte, sei eine kebse, nämlich Nebenfrau ihres geliebten Siegfried.

Dem soll der Xantener öffentlich abschwören, und das tut er, nie habe er Brunhild entehrt. Aber Hagen von Tronje erklärt nun, dass König Gunther lächerlich wird, sagt in geheimer Beratung, dass Siegfried nur noch Schaden stifte, und das müsse ein Ende haben, auch wenn der gouch, „der Narr“, noch so oft hilfreich war. Schädigen ist im römischen Recht Kapitalverbrechen. Hagens Mordplan stimmt König Gunther zu.

Zu fürstlichen Festen gehört eine Jagd, in Worms dort, wo das durch Jahrhunderte üblich war, südlich der Stadt, nicht hoch im Odenwald, von Wettklettern erzählt das Epos nichts, sondern vom Gelände der Tiere, vom wildernden Wasser am Rheinstrom, wo nun auch Siegfried einen Bären an bloßer Hand herbeizwingt und eulenspiegelig loslässt, nicht etwa, um einen Zwerg zu schocken und zu quälen, sondern um die Wormser Jagd- und Hofgesellschaft heimzusuchen mit ûngemach, da der Bär auch durch die kuchen rumpelt und alle Fässer umkippt, den Wein verschüttet. Siegfried schlägt Burgunds Herren ein Wettrennen vor, wer erster ist bei einer starken Quelle, Forscher sagen, über dieser Quelle stehe heute die Großkläranlage der BASF – welch ein Mord-Ort. Siegfried schultert als zusätzliche Last den Speer, kommt trotzdem als Erster an, lässt dann aber zuerst die Herrschaften trinken, trinkt höflich, als Letzter. Da greift Hagen Siegfrieds mitgeschleppten Speer, stößt den Kriemhilds unendlich geliebtem Mann in den Rücken. Die Leiche lässt Hagen nachts ablegen vor Kriemhilds Kammer. Als sie das entdeckt, dô begonde Kriemhilt vil harte unmaezlîche klagen.

Die zweite Epos-Hälfte ist ihr großer Versuch Richtung Recht. Und endet, wie es unter Habgier-Drachen enden muss. Im Blutbad. Kriemhild hat den Hunnenkönig geheiratet, Attilasohn Etzel. Beim Hochzeitsmahl tafelt man hochhöfisch, doch liest man hier von Kriemhild: Wie sie ze Rîne saeze, sie gedâht’ ane daz / bî ir edelen manne; ir ougen wurden naz / si hetes vaste haele. „Wie es gewesen wäre, wenn sie auch jetzt am Rhein säße, daran dachte sie, wie es nun immer noch hätte sein können mit ihrem einzigartigen Mann. Ihre Augen wurden nass. Sorgfältig hielt sie ihr Weinen geheim.“ Mit Absicht. Kriemhilds Verletzung ist endlos.

Sie lädt die Wormser ein in den Orient. Schon unterwegs ahnen die, wie das endet, nennen sich nun selber Nibelunge, Furcht verbreitend, dieser Name hat ja nun, dank Hagen, mit Töten zu tun. Über der Donau, auf Etzels Burg Esztergom kommt es zur grausigsten aller Saalschlachten, tagelang, nächtelang. In brennender Halle sind die Wormser aussichtslos isoliert, haben zum Trinken nur das Blut der Gefallenen. Zuletzt leben Gunther und Hagen, gefesselt. Da Gunther den Mord an Siegfried nicht bereut, köpft die neue Hunnenkönigin den Bruder. Als Hagen gleichfalls nicht bereut, auch nicht verrät, wo er im Rhein Siegfrieds Geschenk, wo er den Hort versenkt hat, köpft sie auch ihn. Da gibt Dietrich von Bern Altmeister Hildebrandt einen Wink, der enthauptet Kriemhild. Letzte Zeile: „Hie hat daz maere ein ende: daz ist der Nibelunge not“.

Das mönchische Lehrstück öffnet in der ersten Hälfte in ritterlicher Vernunft humane Wege, zu Versöhnungen mit Feinden, auch mit denen, von denen es hieß, di suochent her, „die suchen zu verheeren“. Und tragent grozen hazz, „belastet von großem Hass“. Die Sankt Galler Handschrift, die beste Verschriftlichung eines uralt historischen, eines europäischen Stoffs, die benötigt weder Götter noch Halbgötter, für die Katastrophe reichen realistische Menschen im Besitzwahn.

Wagner wollte nach 1848 einen „urdeutschen Mythos“ schaffen, einen Helden „vollkommen frei“. Den ruft er noch 70/71 an: „Wann kommst du wieder, herrlicher Siegfried!“ Im Vergleich mit dem Epos spricht fast alles gegen seinen Untergangsmarathon, schon weil der konsequent mit 1848 die Praxis des Mitleidens, des Solidarischen ignorier, stattdessen, als Argumente, Hitler-Kurzschlüsse, Brutalität und Fressen oder Gefressen-Werden. Wenn Tony Morrisson, Literaturnobelpreis-Trägerin, ihren rassistischen, ihren menschenfeindlichen Präsidenten Trump einen „faschistischen Idioten“ nennt, da fällt es schwer, nicht auch Wagners Siegfried so zu sehen, primitiv, hörig den „Gesetzen des Blutes“, nicht etwa irgendeiner Partie des Hirns,

Erst kürzlich fand sich ein Wagner-Brief von 1848, entstanden mitten in der Phase seiner ersten Entwürfe zum „Ring“. Sein Schreiben an den König Sachsens definiert Monarchie als göttliches Erbe, als Abwehr gegen Demokratie, vor der er, Wagner, Angst habe, weil sie Volks-Wahn fördere. Weil (Z.:) „…das Wesen eines Freistaats“ keineswegs darin begründet sein dürfe, „dass die höchste Staatsgewalt in periodischem Wechsel an Einzelne aus dem Volk zu erteilen sei, sondern weil im Gegenteil das erbliche Königtum seiner Natur nach Freiheit dann am vollkommensten gewährleiste, wenn der König in sich die Freiheit ALLER vereinigt. Dieser Gedanke riss mich mit künstlerischer Begeisterung hin, als Ideal meines Freiheits-Begriffs, als Beglückung des Menschengeschlechts.“ – In eben diesen Tagen entstehen erste Notizen zu seinem „freien“ „Siegfried“. Zur Premiere lädt er auch Ludwig II. nach Bayreuth ein, zu einem „kühnen Königsbau“. Wagner als Fürsten-Führer.

Weltberühmt wurde nicht der Siegfried, der aus geistlicher Friedensbotschaft entwickelt worden war, stattdessen ein hirnfrei kriegerischer. Der hat den Friedfertigen ganz offenkundig und endgültig verschüttet, noch mehr, als er sowieso verdunkelt wurde als Nationalfigur seit der Entdeckung der Handschriften, in der Epoche der „Aufklärung“. Da half dann auch nichts mehr, dass in älteren Quellen der Drache Namen trug wie NidGir, „NeidGier“. In einer isländischen Handschrift sieht man über NidGir die Esche Yggdrasil, den Weltenbaum – mitten im Sommer ohne Blätter, tot, denn am Baum der Welt nagt Nidgir, der verkörperte Neid. Und am Weltenbaum wuselt aber auch ein Eichhörnchen, emsig beschäftigt (Z.:), „missgünstige Nachrichten zu verbreiten“. Frühe Kunst war nicht nur nicht dümmer, sie war weiser, fand früh Bilder für die „Medien“, für das „Vermitteln“, von dem wir alle abhängen.

Aufschlussreich auch die allererste Rezension des Epos, die „Klage“, schon den alten Handschriften angehängt, energisch beklagt die das Verurteilen Kriemhilds als „Sünderin“. Für sie habe es Richtung Recht keine anderen Wege gegeben. Teuflisch bleibe allein die avaritia – die Habgier als Ursache für den Mord an Siegfried, für das Unrecht an Kriemhild.

Früh hatte es sehnlichste Friedenswünsche gegeben. Wolfram von Eschenbach, der das Nibelungenlied kannte, berichtet im Fragment „Willehalm“ vom Gemetzel der Kreuzzüge, von Schlachten zwischen Abend- und Morgenland. Sein Fazit: Ouwé nu des mordes / der da geschach ze bêder sît. „Weh über das Morden auf beiden Seiten“. Geht es noch aktueller?

Das Nibelungenlied als Friedens-Appell? Schon ältestes Deutschsprachiges appelliert so. Und raunt dabei exakt von den Methoden, die Siegfried im Nibelungenlied Punkt für Punkt realisiert. Ältestes Deutsch erzählt präzise vom „Fesseln“:

Eiris sazun idisi – „einst saßen Zauberfrauen“,
Suma hapt heptidun – „einige legten Fesseln“
Suma klubodun – „andere öffneten Fesseln“
Suma heri lezidun – „einige bremsten das Heer“

Da blockieren Idisi, da „fesseln“ kluge Frauen das Militär. Das betet ein „Merseburger Zauberspruch“, als Eintrag in ein fast antikes Buch mit frommem Latein. Als sei dies älteste Deutsch notiert worden von dem, der ja, so heißt es, historisch existiert haben könnte, notiert vom klugen Sohn der Sieglinde.

So wie der lebensfrohe Friedenspraktiker Siegfried des Epos verschüttet wurde, verfälscht zu Wagners egomanem Weltüberwältiger – in solcher Fälschung musste er auf’s Interesse der Nazis stoßen. Und so wird auch die Hauptfigur des Nibelungenlieds noch heute immer neu missverstanden, ahnungslos verwechselt mit der Zentralfigur Wagners, bleibt auch in klugen Gazetten „deutsches Horrormonster“. Auf einer Tagung über das Nibelungenlied hörte ich jetzt Deutschlehrer wieder mal seufzen über das „Nazi-Zeug“.

Je mehr Wagners Musik fasziniert, desto wunderlicher, warum keiner ruft, der Kaiser der romantischen Oper, der trage als Dichter keine Kleider. Statt schlüssiger Sprache eine irritierend simple. Laut Sir Simon Rattle eine „eher störende“. Wagners Sprache, auf Einbahnstraßen in vorfaschistischem Nebel, klammert sich bis ins Finale an „heiligstes Beuterecht“, an „reinster“, „echtester“, „hehrster Held“, „tapferste Tat“, „treueste Liebe“, „mächtigste Minne“.

Und Helden sehe ich da, wo Kriege nicht gewonnen, sondern vermieden werden. Weltmeister aber wurde eine Musik, die Siege feiert, Stärke, Gold, Licht, göttliche Weltherrschaft. Mythen-Baumeister Wagner missbrauchte dazu die Aura der Wörter wie „Siegfried“ und „Nibelungen“, für einen „Freiheits-Rebellen“ mit mörderischen Konsequenzen.

Wie wunderbar dagegen der Wortlaut der mittelalterlichen Poesie, ihre glänzenden Gegen-Szenen. Lebenslustbilder voller übermüeten, voller vreuden überkraft samt alttestamentarischer Lehre, dies unerhörte Gedicht vom radikalen Untergang im Bann des Drachen Besitzgier.

Die ursprüngliche Hauptfigur der frühen großen Dichtung wurde sozusagen ein zweites Mal ermordet. Endgültig? Vorerst verschwand im öffentlichen Bewusstsein ein Einzigartiger, aus hellsichtigen Schreibstuben des Mittelalters. Ein Dokument, das endlich wortgetreu ganz vorn hingehörte in unser Gedächtnis. In Europas Grundgesetz.

1) Wagners früher Freund Devrient kriegt von W. 1848 den ersten Prosa-Entwurf. Devrient moniert die „polit. Überfrachtung“, „Wagner holt immer zu weit aus, knetet seine modernen Ansichten ein“. – Beachtlich der Entstehungsbeginn im Dezember 1848. Wagner selbst nennt in einer Antwort an Devrient Siegfried einen „urdeutschen Mythos“.

2)1854: „…die Liebe zu Brünnhilde ist Garantie dafür, dass der stets liebende Siegfried zum vollkommensten Menschen wird“. (Wagner brieflich).

3) Auch noch in einem (einladenden) Schreiben an König Ludwig II. nennt W. vor der Urauff. (1876 in Bayreuth) die Tetralogie einen „kühnen Königsbau“.

4) 1933 teilt die Bayreuther Festschrift mit: „Siegfried fühlt gegen Mime blutsmäßige Abneigung“.

5) Wagners allerletzter Satz, bei dessen Niederschreiben ihn in Venedig der tödliche Schlag traf: „Gleichwohl geht der Prozess der Emanzipation des Weibes nur unter ekstatischen Zuckungen vor sich – “ (dazu mein „Wagner in der Vorhölle“ in „Im deutschen Urwald“ (1978)).

6) Wagner in „Eine Mitteilung an meine Freunde“: „Meine Studien trugen mich so durch die Dichtungen des Mittelalters hindurch bis auf den Grund des alten urdeutschen Mythos … Was ich hier ersah, war nicht mehr die historisch konventionelle Figur … sondern der wirkliche, nackte Mensch, an dem ich … in uneingeschränktester, freiester Bewegung erkennen durfte: der wahre Mensch überhaupt“.

7) 1967 zitiert Theodor W. Adorno in der Uni Frankfurt Wagner. „Weißt du, was Wotan will? – Das Ende.“