Nichts Genaues weiß man nicht – Das altnordische Brynhild-Bild und seine Rezeption

Dr. Katja Schulz (Institut für Skandinavistik, Goethe-Universität Frankfurt)

In diesem Jahr wird auf den Nibelungenfestspielen in Worms das Schauspiel Brynhild von Maria Milisavljević dargeboten. Während die Institution „Nibelungenfestspiele“ und Worms als Spielort eher auf die Erzählung des Nibelungenlieds verweisen, bindet der Titel des Schauspiels von Maria Milisavljević – Brynhild mit y – das Stück eher an die nordische Nibelungentradition an. In diesem Stück, wie schon in Ferdinand Schmalz’ hildensaga. ein königinnendrama von 2022, liegt der Fokus in der Behandlung des mittelalterlichen Stoffs auf den weiblichen Figuren, ein Trend, der mindestens seit der Entwicklung einer feministischen Literaturwissenschaft vielfach zu beobachten ist.[1] Erstmals allerdings steht in der Geschichte der Nibelungenfestspiele mit Milisavljević eine weibliche Autorin hinter dem aufgeführten Text, so dass man sich fragen darf, ob und welche neuen Elemente eine weibliche Perspektive zur Brynhild von 2023 hinzufügen mögen. Immer wieder hört man anlässlich solch neuer Bearbeitungen alter Stoffe die Frage anklingen, ob das denn überhaupt legitim ist – ob man einen historischen Stoff nach Belieben nehmen und verändern, der eigenen Zeit anpassen kann, ob man ihn dadurch nicht entfremdet, missbraucht, verfälscht? Ob es also so etwas wie „richtige“ und „falsche“ Versionen von Sagenstoffen gibt. Genau dieser Frage soll hier anhand einiger Beispiele nachgegangen werden.

Zugrundelegen möchte ich dafür ein Verständnis des Umgangs mit Sagenstoffen, wie es der Philosoph Hans Blumenberg für den Mythos entwickelt hat (in einem Werk von 1979, das den treffenden Titel Arbeit am Mythos trägt). Auf zwei Aspekte reduziert könnte man mit Blumenberg sagen:

  • a. Es gibt keine „ursprüngliche“ Fassung einer Heldensage. Heldensage ist immer nur in Rezeptionen, in Bearbeitungen und Weiterentwicklungen früherer Fassungen zugänglich; und
  • b. Ein (Helden-) Sagenstoff zeichnet sich durch einen festen Kernbestand an Zügen und Motiven aus, ein Grundmuster, das in jeder Neugestaltung wiederzuerkennen ist („ikonische Konstanz“).[2]

Um mit dem zweiten Punkt zu beginnen: Der Kernbestand der sogenannten Brynhildsage, die gemeinsames Gut des nord- und südgermanischen Raums ist, umfasst folgende Elemente:

  • eine unverheiratete Kampfjungfrau / Walküre, die nicht oder nur einen ganz besonde­ren Mann heiraten will und die abgesondert (in einem Flammenwall oder auf einer Insel) lebt;
  • deren Begegnung mit einem ganz besonderen Mann, nämlich Sigurd / Siegfried dem Drachentöter;
  • Sigurds Begegnung mit den Burgundenkönigen und seine Vermählung mit deren Schwester Guðrún / Kriemhild;
  • Die Werbung Gunnarrs / Gunthers um Brynhild, die nur mit Hilfe von Betrug und durch Sigurds Mitwirken erfolgreich ist;
  • Sigurd entwendet Brynhildr in einer intimen Situation Gegenstände (Ring, Gürtel);
  • Die Konkurrenz zwischen Brynhildr und Guðrún;
  • Brynhildr veranlasst, dass Sigurd getötet wird;
  • [nur im Norden gehört zum Sagenkern noch, dass Brynhildr sich selbst tötet und eine gemeinsame Verbrennung mit Sigurd wünscht oder veranlasst]

Wie genau diese Kern-Motive miteinander verbunden sind, darüber sind sich die Quellen durchaus uneinig, und diese Uneinheitlichkeit von Sagenüberlieferungen ist ein Zug, mit dem schon die Edda, eine isländische Lieder-Handschrift aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhun­derts, ihr Publikum konfrontiert. Bezogen darauf, wie der Held Sigurd zu Tode gekommen sei, heißt es etwa dort ganz explizit:

Hier in diesem Lied wird von Sigurds Tod erzählt, und hier nimmt es die Wendung, als hätten sie ihn draußen erschlagen. Aber einige erzählen es so, dass sie ihn drinnen in seinem Bett erschlagen hätten, schlafend. Aber deutsche Männer erzählen es so, dass sie ihn draußen im Wald erschlagen hätten. Und so heißt es im alten Gudrunlied, dass Sigurd und Giúkis Söhne [also Gunnarr und Hǫgni] zum Thing geritten wären, als er erschlagen wurde. Aber das erzählen alle in der gleichen Weise, dass sie ihn im Vertrauen betrogen und ihn liegend und ungerüstet angriffen.[3]

Solche Hinweise in den eddischen Quellen zeigen, dass diese keine autoritativen Versionen der Mythen und Heldensagen vermitteln wollen; sie präsentieren sie vielmehr im Sinne Blumenbergs: als verschiedene Erzählvarianten von Geschichten, die in ihrem Kern stets erkennbar bleiben. Auch das formuliert der mittelalterliche Text ja erstaunlich klar, wenn er darauf verweist, worin sich alle Sagenvarianten einig sind: dass Sigurd im Vertrauen betrogen und liegend angegriffen wurde. Und noch etwas zeigt das Zitat: Von Anfang an sind die Erzählungen von den Göttern und Helden grenz- und kulturüberschreitend. Dabei werden – wie im Fall der Nibelungensage – manchmal die Namen abgewandelt: Guðrún ist Kriemhild, Gunnar ist Gunther und Hǫgni ist Hagen, diese drei werden im Norden als Giúkungen, im Mittelhochdeutschen als Burgunden bezeichnet. Ihre Mutter heißt im Norden Grímhildr, im Süden Ute. Sigurd entspricht dem Siegfried des Nibelungenliedes, Atli dem Etzel. Ungeachtet dieser Unterschiede stiften die Mythen- und Sagenstoffe eine Gemeinschaft des Erzählens, ohne diejenigen, die die Geschichte anders erzählen, deshalb aus dieser Gemeinschaft aus­zuschließen. Gerade mit dieser Offenheit stimuliert die mittelalterliche Überlieferung das weitere Erzählen, statt es dogmatisch auf eine Version festzulegen.

Im folgenden soll zunächst ein Überblick vermittelt werden, wo die Brynhildsage im Mittel­alter überliefert ist. In einem zweiten Schritt illustriert ein Beispiel, wie frei und kreativ man schon im Mittelalter mit den überlieferten Stoffen umgegangen ist. Abschließend wird kurz eine Bearbeitung aus unserer Zeit aufgegriffen und ein Blick darauf geworfen, welche Fragen in den verschiedenen Rezeptionen bearbeitet werden.

Die mittelalterliche Überlieferung

In Deutschland kennt man Brünhild vor allem aus der Überlieferung des Nibelungenliedes. Die ältesten überlieferten Handschriften stammen aus dem 13. Jahrhundert; als älteste gilt die Handschrift C, der Cod. Donaueschingen 63. Sie wird auf den Seiten der Badischen Landes­bibliothek auf das 2. Viertel des 13. Jhs. datiert und ist wohl im bairisch-alemannischen Raum entstanden.[4] Dabei handelt es sich um die Datierung der Handschrift; die Entstehung des Textes wird in der Regel etwas früher angesetzt, auf den Zeitraum zwischen 1180 und 1220.[5] Dem Nibelungenlied zufolge heiratet Brünhild nur den, der sie zuvor in Kampfspielen über­windet. Dem Burgundenkönig Gunther gelingt das nur durch Täuschung: Siegfried ‒ verbor­gen unter seiner Tarnkappe an Gunthers Seite ‒ besiegt Brünhild. Die erfährt im Rahmen eines Konkurrenzstreits mit ihrer Schwägerin Kriemhild von dem Betrug und löst dann den Konflikt um Siegfried aus. Nach dem Aufbruch der Burgunden zu Etzel wird Brünhild nicht mehr erwähnt ‒ sie verschwindet einfach aus dem Epos. Wo sie uns noch einmal begegnet, ist in Der Nibelungenklage, gewissermaßen einer „Fortsetzung“ des Nibelungenliedes aus unge­brochen christlicher Perspektive, die schon in Handschriften des 13. Jahrhunderts zusammen mit dem Nibelungenlied überliefert wird. Dort tritt sie noch einmal als übermäßig um ihren Ehemann König Gunther trauernde Gattin auf.[6]Von den Überlieferungsträgern, also den Handschriften her, sind Nibelungenlied und Nibelungenklage die ältesten Texte, die von Brünhild erzählen.

In der nordischen Überlieferung – das heißt, der Überlieferung in den nordgermanischen Sprachen Altnordisch, Färöisch und Dänisch – gibt es mehr und verschiedenartigere Texte, die von der Geschichte der kämpferischen und heiratsunlustigen Brynhildr wissen; die Sage von ihr und von Sigurd ist ein fester Bestandteil des nordischen Erzählinventars und wird in einer Vielzahl von ganz unterschiedlichen Textsorten – und übrigens auch bildlichen Darstellungen – erzählt, zitiert oder es wird darauf angespielt. Die wichtigsten dieser Texte sind folgende:

Zunächst ist hier die Liederedda zu nennen, eine Sammlung von anonym überlieferten, anfangsreimenden, aber oft recht prosanahen Strophengedichten über die nordischen Götter und Helden. Überliefert sind die meisten dieser Lieder in der um 1270 auf Island entstandenen Haupthandschrift Codex regius (GKS 2365 4to). Sie enthält elf Götterlieder und knapp 20 Heldenlieder sowie einige kurze Prosatexte (wie den oben zitierten über Sigurds Tod). Die Heldenlieder hat der Redaktor des Codex regius nach der Chronologie ihrer Handlung ange­ordnet: Am Anfang stehen drei Lieder über Helgi, einen nur im Norden bezeugten Helden, den die Sage zu Sigurds großem Bruder macht.[7] Dann folgen Lieder über Sigurds Jugend und seine Jugendtaten, Themen der Brynhildsage und Erzählungen von Sigurds Tod. Daran schließen sich Erzählungen vom Untergang der Burgunden an – der Giúkungen, wie sie im Norden heißen –, und am Ende folgen noch zwei Lieder aus dem Stoffbereich der Ermana­rich- und Svanhildsage. Hinter den Helgi-Liedern sind alle Lieder gewissermaßen zusammen­gehalten durch die Figur der Guðrún (der deutschen Kriemhild), deren Biographie die Helden­lieder durch drei Ehen hindurch (mit Sigurd, mit Atli und mit Jónakr) folgen.

Erhalten sind von dieser Handschrift 45 Blätter, acht Blätter sind verlorengegangen – im Heldenliederteil der Handschrift haben wir eine Lücke, was man u.a. daran sehen kann, dass dort das Ende eines Liedes fehlt und dann der Anfang des Liedes hinter der Lücke. Wenn man sich anschaut, welche der Edda-Lieder sich mit Brynhildrs Schicksal befassen, ist leicht er­kenntlich, dass mit der Lage Pergament, die verlorengegangen ist, mit allergrößter Wahr­scheinlichkeit auch Erzählungen von Brynhildr verschwunden sind:

Was genau in dieser Lage gestanden haben mag, darüber ist viel spekuliert worden.[8] Den Spe­kulationen steht reichlich Nahrung zur Verfügung, denn auf Grundlage der noch vollständigen Liedersammlung wurde, ebenfalls im 13. Jahrhundert, eine Saga, also eine umfangreiche Prosaerzählung, verfasst, die häufig auch als „Prosaparaphrase der eddischen Heldenlieder“ bezeichnet wird: die Vǫlsunga saga. In ihrem Zentrum steht, als berühmtester nordischer Held, Sigurd Fáfnisbani („Töter des Drachens Fáfnir“). Die Saga hat ihren Titel nach Sigurds Vorfahr Vǫlsungr, einem Enkel vom höchsten nordischen Gott Odin, der zum mythischen Begründer des Vǫlsungen-Geschlechts wird. Vǫlsungr hat zehn Söhne und eine Tochter, von denen nur die ältesten – Sigmund und seine Zwillingsschwester Signý – zu Ruhm und etwas längerem Leben gelangen (in der Gegenwart sind sie vor allem als Siegmund und Sieglinde aus Richard Wagners Walküre bekannt). Sigmund wird der Vater vom Drachentöter Sigurd, der nach der Erschlagung des Drachen Fáfnir auf das Gebirge Hindarfjall reitet und dort eine in einem Flammenwall schlafende Walküre weckt. In der Liederedda machen mehrere Lieder einen Unterschied zwischen der Walküre, die dort Sigrdrífa heißt, und Brynhildr, die Vǫlsunga saga dagegen identifiziert die beiden miteinander.[9] Die Vǫlsunga saga erzählt dann die gesamte Geschichte von der unseligen Ehe zwischen Brynhildr und Gunnarr, die durch Tricksereien und Betrug an Brynhildr zustande kommt, und wie Brynhildr sich dafür durch die Anstiftung zu Sigurds Tod rächt (Kapitel 28 bis 33). Sie erzählt weiter von Guðrúns Trauer und ihrem weiteren Leben: Der Ehe mit Atli/Etzel, der ihre Brüder ermordet, und von Guðrúns Rache dafür sowie von ihrer dritten Ehe mit König Jónakr und ihren Söhnen Hamðir und Sǫrli. Diese Letzten ihres Geschlechts kommen zu Tode, als Guðrún sie dazu antreibt, Rache an dem Gotenkönig Iǫrmunrekr (= Ermanarich) zu üben, der ihre Halbschwester Svanhildr hat töten lassen.

Die Kapitel 23 bis 30 der Vǫlsunga saga dienten häufig dazu, den Inhalt der fehlenden Texte oder Textpartien im Codex regius zu rekonstruieren. Sie schildern u.a. die zweite Begegnung zwischen Sigurd und Brynhildr sowie Sigurds Werbung um Brynhildr als Braut für Gunnar – also den Teil ihrer Geschichte, in dem Brynhildr getäuscht und betrogen wird –; ferner den Streit zwischen Guðrún und Brynhildr, der zum auslösenden Moment für Sigurds Tod wird. Die Saga zitiert in diesem Zusammenhang (wie auch sonst) Strophen in eddischem Versmaß, von denen man vermutet, dass sie der verlorenen Lage des Codex regius entstammen. Von einer der insgesamt fünf Strophen in diesen Kapiteln der Vǫlsunga saga heißt es, sie sei ein Zitat aus einem als Sigurðarkviða („Sigurdlied“) bezeichneten Lied; sie handelt von Sigurds heftiger Trauer nach einem Gespräch mit Brynhildr.[10]

Noch ein weiterer Prosatext überliefert die Nibelungensage, in einem Werk, das ebenfalls mit dem Namen Edda bezeichnet wird. Zur Unterscheidung von der Liederedda wird es Prosa Edda genannt. Es handelt sich dabei um ein Handbuch für Dichter, das der isländische Politi­ker, Geschichtsschreiber und Dichter Snorri Sturluson um 1220 geschaffen hat, und er erklärt darin unter anderem die sogenannten Kenningar, das sind dichterische, metaphern­ähnliche Ausdrücke, die für die altnordische Dichtung kennzeichnend sind. So kann man zum Beispiel in einem Gedicht das Wort „Gold“ mit „Otterbuße“ umschreiben. Diese Kenningar waren offensichtlich schon zu Snorris Zeit nicht mehr allgemeinverständlich, und so wird in dem Abschnitt Skáldskaparmál („Sprache der Dichtkunst“) der Prosa Edda erklärt: „Dies ist der Grund dafür, dass man das Gold als Otterbuße bezeichnet“ (in Kapitel 39). Darauf erzählt der Text von der Entstehung des Nibelungenschatzes (der nämlich als Buße für einen erschlage­nen Otter zusammengetragen wird) und von Sigurds Eroberung des Schatzes durch den Tot­schlag des Drachen Fáfnir (der ein Bruder dieses Otters war). Auch hier folgt darauf Sigurds Begegnung mit der Walküre „die sich Hildr nannte; sie wird Brynhildr genannt“ (Kapitel 41), seine Hochzeit mit Guðrún und die Werbung um Brynhildr für Gunnarr (ob das wirklich die­selbe Brynhildr ist, die er zuvor als Walküre aus ihrer Rüstung herausgeschnitten hat, halte ich für unsicher – zumindest lässt sich anhand von Snorris Text mutmaßen, dass es diesbezüg­lich unterschiedliche Auffassungen gab). Snorri erzählt weiter vom Streit der Königinnen und von Sigurds Ermordung, von Brynhildrs Selbstmord und ihrer Verbrennung zusammen mit Sigurd. Er berichtet, dass Gunnarr und Hǫgni den Nibelungenschatz über­nehmen und von Atli eingeladen werden, aber zuvor den Schatz im Rhein verstecken. Dass Atli Hǫgni das Herz aus der Brust schneiden und Gunnarr in die Schlangengrube werfen lässt, wo er (weil gefesselt) mit den Füßen die Harfe spielt und alle Schlangen einschlafen lässt bis auf eine, die ihm zum Tode gereicht (Kapitel 42; die beiden Szenen sind Kernmotive der Sage vom Untergang der Burgunden). Den Bericht schließt Snorri mit der Bemerkung ab „deswegen wird das Gold „Schatz oder Erbe der Nibelungen“ genannt“. Die Nibelungensage nimmt in Snorris Erzäh­lung knapp sechs Seiten ein, während die Vǫlsunga saga sie auf etwa hundert Seiten wieder­gibt.

Ein Aspekt, der die nordische Überlieferung von der deutschen unterscheidet und der für die Gesamtgestalt der Nibelungensage von Bedeutung ist, ist Brynhildrs Verwandtschaft: In den nordischen Quellen ist sie die Schwester von Atli, dem Etzel des Nibelungenlieds, und der Untergang der Burgunden an Atlis Hof erhält damit auch die Dimension einer Rache des Bruders für Brynhildrs Tod.

Die Þiðreks saga („Saga von Dietrich von Bern / Theoderich“) steht von der Sagenform her zwischen der altnordischen und der deutschen Überlieferung. Sie ist wohl um 1250 im norwe­gischen Bergen entstanden oder aus dem Deutschen übersetzt worden. Ob dabei ein Norweger Erzählungen zusammengestellt hat, die er von niederdeutschen Hansekaufleuten gehört hatte, oder ob die Saga weitgehend in der vorliegenden Form im deutschsprachigen Raum entstan­den und dann in Norwegen nur übersetzt wurde, darüber streiten die Gelehrten bis heute.[11] Die Saga verknüpft Erzählungen und Episoden über nahezu alle bekannten Heldinnen und Helden der germanischen Heldensage mit der Figur des Sagenhelden Dietrich von Bern und greift in diesem Kontext auch Brynhildrs Schicksal auf.[12]

Dann gibt es noch Balladen über Sigurd und Brynhild, vor allem im Dänischen und färöischen Sprachgebiet. Deren Entstehung reicht wohl bis ins Mittelalter zurück, ist aber schwer zu da­tieren, weil sie über einen langen Zeitraum nur mündlich überliefert wurden. Von Bedeutung für die Brynhildr-Überlieferung sind da insbesondere die färöischen Sigurdlieder, die sich auf die gerade erwähnte Þiðreks saga und die wenig ältere isländische Vǫlsunga saga stützen. Die immerhin acht Fassungen der Texte bezeugen ein ungebrochenes Interesse an den Sagen­stoffen. Meist bilden sie einen dreiteiligen Zyklus, der die Lieder Regin smiður („Regin der Schmied“), Brynhildar táttur („Brynhildlied“) und Høgna táttur („Högnilied“) umfasst. Die Entstehung wird ins 14. Jahrhundert datiert.[13] Auch in Dänemark wird der Nibelungenstoff in einer ganzen Reihe von Balladen überliefert,[14] von denen einige eher lose mit dem Sigurd- oder dem Burgundenuntergangsstoff verbunden sind. Welche Traditionen diese Balladen im einzelnen rezipieren, lässt sich vielfach kaum zweifelsfrei rekonstruieren, doch scheinen bei einigen der Lieder außer den westnordischen auch deutsche Vorbilder eine Rolle zu spielen. Schriftlich aufgezeichnet wurden die Balladen erst in der Neuzeit, die dänischen im 16. Jahr­hundert, die färöischen im 19. Jahrhundert.

Das Brynhildbild der Liederedda

Es zeichnet die Überlieferung der Heldensage in den Liedern der Edda aus, dass jedes Lied gewissermaßen einen eigenen Ausschnitt des Sagenstoffs aus einer eigenen Perspektive beleuchtet. Formal soll hier zu den Eddaliedern nur soviel gesagt werden, dass sie strophisch sind und viele zusammen mit längeren oder kürzeren Prosapassagen überliefert werden; die Lieder haben zwischen elf und 105 Strophen – durchschnittlich sind es ungefähr 42 Strophen.

Zehn der Heldenlieder berichten mehr oder weniger ausführlich Aspekte der Geschichte von Brynhildr. Die Erzählperspektiven, die dabei eingenommen werden und von Brynhildr und ihrem Leben erzählen, sind folgende:

Brynhildrs Schicksal wird dargestellt

in dem Lied:von:
Grípisspá („Grípirs Weissagung“)Sigurds Onkel Grípir und Sigurd
Fáfnismál („Fáfnirs Reden“)Meisen prophezeien Auffinden der Walküre (42–44); Verweis auf Odins Willen
Sigrdrífomál („Sigrdrífas Reden“)Unbeteiligter Erzähler, Sigrdríf (≈ Brynhildr?)
Brot af Sigurðarkviðo („Bruchstück eines Sigurdliedes“)Unbeteiligter Erzähler, Brynhildr
Guðrúnarkviða in fyrsta („Erstes Lied von Guðrún“)Guðrún, ihre Schwester Gullrǫnd, Brynhildr, unbeteiligter Erzähler
Sigurðarkviða in skamma („Kurzes Sigurdlied“)Unbeteiligter Erzähler, Brynhildr, Gunnarr, Hǫgni, Sigurd
Helreið Brynhildar („Brynhildrs Helritt“)Unbeteiligter Erzähler, eine Riesin, Brynhildr
Dráp Niflunga („Erschlagung der Nibelungen“ [Prosa])Unbeteiligter Erzähler
Oddrúnargrátr („Oddrúns Klage“)Brynhildrs Schwester Oddrún

Insbesondere das Erste Gudrunlied und das Kurze Sigurdlied zeichnen sich schon in sich selbst durch eine große perspektivische Vielfalt aus. Gerade für das Kurze Sigurdlied kann man postulieren, dass sein Anliegen ist, komplizierte und teils widersprüchliche Seelenlagen darzustellen und dabei den unterschiedlichen Interessen der beteiligten Figuren eine Stimme zu geben. Andere Lieder artikulieren weniger Perspektiven, unterscheiden sich aber unter­einander deutlich. So gibt es in Grípirs Weissagung den Blick von Sigurd und seinem Onkel auf das Geschehen, wobei Sigurd sein eigenes, noch zukünftiges Verhältnis zu der Walküre auf dem Berg, zu Brynhildr und zu Guðrún als durchaus problematisch und tadelwürdig ein­schätzt (Str. 36, 38, 40), während Grípir seinen Neffen entschuldigt und alle Schuld für die kommenden Verwicklungen Guðrúns und Gunnars Mutter Grímhildr zuschreibt (Str. 33, 35). Im Bruchstück eines Sigurdlieds stellt ein unbeteiligter Erzähler Brynhildrs Agieren und die Ränke dar, mit denen sie ihren Mann Gunnarr manipuliert und anstiftet, Sigurd zu töten. Gunnarr wird dabei als „Wachs in ihren Händen“ dargestellt, der die typisch weiblich inszenierte (und dabei mit Verleumdungen ziemlich hinterhältige) Form ihrer Rache nicht durchschaut; die 15. Strophe konstatiert ausdrücklich, dass „kaum einer dieses / Frauen­gebaren verstand, dass sie weinend / sich zu berichten anschickte, / wozu sie vorher lachend die Männer aufgefordert hatte“. In Brynhilds Helritt wiederum wird Brynhildr nach ihrer Selbsttötung auf dem Weg in die Totenwelt Hel von einer Riesin angeklagt, die ihr vorwirft, dem Mann einer anderen (nämlich Guðrúns Mann Sigurd) in die Totenwelt zu folgen. Sie verurteilt Brynhildrs ganzen Lebenswandel als Walküre und ihre verhängnisvolle Rolle für das Geschlecht der Giúkungen (also Gunnarr, Hǫgni und Guðrún), das sie ins Unglück gestürzt habe – Brynhildr sei nur zum schlimmsten Unheil in die Welt geboren worden, lautet ihr harsches Fazit (man kann dabei überlegen, wessen Stimme die Riesin eigentlich vertritt). Auf diese Vorwürfe reagiert Brynhildr mit einer Darstellung ihrer Kindheit und Jugend, in der sie sich selbst als Opfer präsentiert und ihrerseits feststellt, wie eben die Giúkungen an ihrem Schicksal schuld seien, indem sie sie „lieblos und eidbrüchig“ (Str. 5) machten. Wenn sie Sigurd ins Jenseits folgt, begibt sie sich diesem Lied zufolge gerade nicht zum Mann einer anderen, sondern zu dem ihr von Odin bestimmten Ehemann.

Wie man sieht, ist die Überlieferung der Edda überaus vielstimmig und erlaubt ein gleichbe­rechtigtes Nebeneinander unterschiedlicher und sogar sich widersprechender Haltungen zu den Ereignissen, zu den Erinnerungen daran („wie ist es eigentlich zugegangen?“) und zu deren Bewertung in moralischer, rechtlicher oder historischer Hinsicht.

Das wird genauso für die „Lieder der Lücke“ zugetroffen haben, die von Brynhildr und ihren Verwicklungen mit Sigurd und den Giúkungen handelten. Auch sie waren sicher ebenso heterogen in der Darstellung der Ereignisse und deren Beurteilung durch die Erzählinstanzen, wie wir das in den erhaltenen Eddaliedern beobachten. Wenn wir also die Vielstimmigkeit der Sagenüberlieferung, wie wir sie im Codex regius der Liederedda vorfinden, zugrunde­legen, dann haben wir auch gegenüber der Sagenform der Vǫlsunga saga die Lizenz, von der dort erzählten Geschichte abzuweichen und alternative Auffassungen von Ursachen, Rechtferti­gungen und Handlungsverläufen anzunehmen. Die Versuche früherer Forscher, die eine, ursprüngliche und „richtige“ Sagenform mit der „wahren Biographie“ von Brynhildr zu rekonstruieren, wird von der bewusst inszenierten Perspektivenvielfalt der eddischen Lieder als ein ganz widersinniges Unternehmen konterkariert.

Das Beispiel von Oddrúns Klage

Als ein Beispiel, wie frei und kreativ schon die mittelalterlichen Verfasser mit dem Sagenstoff umgehen, der ihnen überliefert ist, möchte ich hier das im Codex regius der Liederedda über­lieferte Gedicht Oddrúns Klage (Oddrúnargrátr) heranziehen. Es verbindet die Fabeln der Werbung um Brynhildr und des Untergangs der Giúkungen bei Atli mit der Lebens­geschichte einer Schwester Atlis und Brynhildrs namens Oddrún. Das Lied setzt dabei neue Akzente und stellt ursächliche Zusammenhänge zwischen Begebenheiten in Oddrúns Leben und der Geschichte von Atli und den Giúkungen, insbesondere Gunnar, her. Damit schafft es eine Folie, vor der der traditionelle Handlungsverlauf um Brynhildr und Sigurds Tod neu bewertet werden kann.

Das Lied ist aufgebaut mit einer Rahmenhandlung, die in einer einleitenden Prosapassage kurz skizziert wird:

Von Borgný und Oddrún

Heiðrekr hieß ein König; seine Tochter hieß Borgný. Vilmundr hieß der, der ihr Geliebter war. Sie konnte ihre Kinder nicht gebären, bis Oddrún, Atlis Schwester, zu ihr kam; sie war die Geliebte Gunnars gewesen, des Sohnes von Giúki. Von dieser Geschichte wird hier erzählt.

Die Figuren dieser Rahmengeschichte sind nur aus diesem Lied bekannt, wobei Oddrún in wieteren Texten (dem Kurzen Sigurdlied, der Prosapassage von der Erschlagung der Nibelun­gen und der Vǫlsunga saga) erwähnt wird, die darin aber sicherlich von diesem Lied abhängig sind. Oddrún ist, das geht aus dem Lied hervor, in der Lage, mit ihrem Können und mit Zau­berversen bei schweren Geburten zu helfen. Als sie von Borgnýs Notlage hört, sattelt sie so­fort ihr Pferd und reitet zu der Königstochter, erfragt in aller Kürze von einer ungenannten Figur die Situation und entbindet mit Hilfe von mächtig und kräftig gesungenen Zauber­for­meln Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen. Als Borgný ihr dafür mit einem Segens­wunsch dankt, reagiert Oddrún abweisend; nicht um Borgnýs willen habe sie ihr geholfen, sondern allein, weil sie zu früherer Zeit das Gelübde abgelegt habe, jedem Wesen jederzeit und unabhängig vom Ansehen der Person Hilfe zu leisten. Sie hebt an zu einem Rückblick auf ihre eigene Lebensgeschichte ‒ das ist die Binnenerzählung. Sie erzählt, wie ihr Vater bei seinem Tod, als sie erst fünf Jahre alt war, bestimmte, dass sie mit Gunnar vermählt und das vornehmste Mädchen der Welt werden solle, während er ihrer Schwester Brynhildr ein Leben als Walküre beschied.[15] Über Brynhildr erfahren wir, dass sie ruhig und zufrieden als Herr­scherin in ihrer Burg sitzt, als Sigurd dorthin gelangt, dann wird ein Kampf und die Eroberung ihrer Burg erwähnt, und unmittelbar danach die Ränke, von denen Brynhildr schnell erfahren habe. So knapp andeutend die Situation in nur drei Strophen (Str. 17‒19) skizziert ist, scheint sie offenbar Sigurds Ankunft als Werber für Gunnar bei Brynhildr zu schildern, sowie einen damit in Zusammenhang stehenden kriegerischen Angriff auf ihre Burg und einen Betrug, für den sie sich bitter gerächt habe, so dass die Umwelt (und hier schließt Oddrún sich mit ein) es reichlich zu spüren bekamen. Daraufhin habe sie sich selbst getötet, was als Skandalon in jedem Land der Menschen bekannt werden würde (Str. 19). Sowenig wir die einzelnen Ele­mente in diesen drei Strophen konkreten Ereignissen, die wir aus anderen Texten kennen, zuordnen können, bietet das Lied damit doch ein Beispiel für das von Blumenberg vorhin angeführte „Grundmuster“ der Brynhild-Sage, die allein mit der Erwähnung von Sigurds Ankunft, Betrug gegenüber Brynhildr und ihrer Reaktion mit Rache und Selbstmord in ihrem Kernbestand klar zu identifizieren ist.

Weiter berichtet Oddrún, dass sie Gunnarr geliebt habe, „wie es Brynhildr sollte“ ‒ der einzige Hinweis in diesem Lied darauf, dass Brynhildr und Gunnarr verheiratet waren ‒, und erzählt von den Versuchen der Giúkungen, den Konflikt mit Atli beizulegen, indem sie ihm reiche Buße für den Tod seiner Schwester Brynhildr und noch reicheren Brautschatz für eine Ehe seiner anderen Schwester Oddrún mit Gunnarr boten (Str. 21). Atli indes habe eine Ehe zwischen ihr und Gunnarr kategorisch abgelehnt, was sie in eine heimliche Liebesbeziehung nötigte ‒ hier beruft sich Oddrún auf die alles besiegende Macht der Liebe. An die Ent­deckung des illegitimen Verhältnisses schließt sich unmittelbar der Bericht von Atlis verräterischer Einladung und Tötung von Gunnarr und Hǫgni an und legt so eine ursächliche Verbindung zwischen diesen Ereignissen nahe: der Mord an den Giúkungen als Rache für die von Atli abgelehnte Liebesbeziehung und nicht als Gier, den Nibelungenhort von seinen Schwägern zu erobern, wie es beispielsweise im Atlilied dargestellt wird. Während Hǫgni noch im selben Satz, in dem er bei Atlis Hof ankommt, das Herz aus der Brust geschnitten wird (Str. 28), verweilt Oddrúns Erzählung fünf Strophen lang bei Gunnars Schicksal in der Schlangengrube und ihren eigenen Versuchen, den Geliebten zu retten (Str. 28–32). Sie schließt ihren Bericht mit dem Hinweis auf ihre eigene Verwunderung, dass sie trotz ihres Liebesleids nach Gunnars Tod weiterzuleben vermöge; im Rückblick erschließt sich hieraus wohl auch die Motivation für ihr Gelübde, allen Menschen zu helfen, das sie veranlasst, auch Borgný bei deren schwerer Geburt beizustehen.

Oddrúns Klage ist ein Beispiel dafür, wie schon mittelalterliche Dichter überlieferte Helden­sagen zum Anlass nehmen, daran Verhaltensweisen, Heldenideale oder moralische Vorstel­lungen zur Diskussion zu stellen, indem sie sie in einen neuen Kontext setzen und Fragen ihrer eigenen Zeit daran aushandeln. Das Lied hat sich offenbar vorgenommen, einen Alter­nativentwurf der Nibelungenfabel als Gedankenexperiment zu präsentieren: Wäre Oddrún – wie ihr Vater Buðli das auf dem Sterbelager wollte – mit dem Giúkungen Gunnar verheiratet worden, hätte es die tragische Verkettung unheilvoller Ereignisse, die zum Tod von Sigurd, Brynhildr, Hǫgni und Gunnar führt, nicht gegeben.[16] Dabei ist Oddrún als ein Gegenbild zu ihrer Schwester Brynhildr entworfen, zu deren Verhalten sie Alternativen aufzeigt: Oddrún liebt Gunnar, „wie es Brynhildr hätte tun sollen“ (Str. 20). Sie versucht, ihn vor dem Tod zu retten (Str. 29–32), während Brynhildr den Tod des Mannes herbeiführt, den sie liebt: Sigurd. Nach Gunnars Tod legt Oddrún ein Gelübde ab, jedem Hilfe zu leisten, und lebt ihrem großen Kummer zum Trotz weiter, Brynhildr dagegen begeht nach Sigurds Tod Selbstmord und löst damit die Feindschaft zwischen Atli und den Giúkungen aus. Beide Schwestern sind ‘Opfer’ unglücklicher Schicksalsumstände, doch während die eine –Brynhildr – in zerstörerischer Weise darauf reagiert, vesucht die andere – Oddrún –, trotzdem ein Leben zu führen, das Gutes bewirkt. Offensichtlich waren die Handlungsmuster und Reaktionen, die die ältere Heldendichtung für Brynhildr überlieferte, im 13. Jahrhundert Gegenstand kritischer Über­legungen und regten dazu an, nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen, die mehr in Überein­stimmung mit dem zeitgenössischen Menschen- und Gesellschaftsbild waren.[17]

Nachmittelalterliche Brynhildr-Rezeptionen

So haben zu allen Zeiten Dichter und andere Kulturschaffende das in der Heldensagenüber­lieferung angelegte Sinnpotential aufgegriffen und gemäß dem Erwartungshorizont der eige­nen Zeit und ihrer Anliegen neu erzählt, umgeformt, aktualisiert. Im Mittelalter, das haben wir gerade gesehen, wird vielstimmig und mit einer Pluralität der Perspektiven von den Gescheh­nissen um Brynhildr, ihre unglückliche Ehe mit Gunnarr und ihr Verhältnis zu Sigurd erzählt. Im 19. Jahrhundert dagegen weicht diese Vielstimmigkeit einer Vorstellung von der einen, ursprünglichen, richtigen Sagenform, nach der zumal die germanistische Philologie mit zähem Bemühen sucht. In der Forschung bildet sich der Fetisch einer Ur-Sagenform heraus, die die Forscher aus dem Vergleich der überlieferten Texte und Spekulationen über verlorene Texte ‑ etwa jene auf den verlorenen Blättern der Liederedda-Handschrift – rekonstruieren wollen. Da sind wir dann wieder beim Philosophen Hans Blumenberg, der feststellt, dass es den Mythos ‒ und gleiches gilt fürdie Heldensage ‒ in einer „ursprünglichen Form“ und damit eine „wahre Form der Sage“ gar nicht gibt, sondern immer nur die Wiedererzählun­gen, die den Stoff ihren eigenen zeitgenössischen Vorstellungen anpassen.

An die Figur der Brynhildr knüpften sich dabei besonders häufig Problematisierungen der Geschlechterrollen und der „richtigen“ und „falschen“ Verhältnisse zwischen Mann und Frau. Angesichts der ihr zugeschriebenen Walkürennatur und dem motivlichen „Evergreen“ einer Liebestragödie kann das nicht verwundern. Ein Beispiel dafür ist Emanuel Geibels Brunhild-Tragödie von 1857, in der Siegfried Brunhild gegenüber komplementäre Geschlechterrollen als naturgegeben darstellt:

[…]

Der Schwache wähle sich ein starkes Weib;

Kraft greift nach Sanftmut; wahrlich, und je stolzer

Der Mann emporwuchs, desto mächt’ger rührt ihn

Der Zauber holdbedürft’ger Weiblichkeit.

Das ist es, was mich an Kriemhilden bannt,

Das schafft die Wonne, die aus ihrem Wesen

Wie Mondlicht über meine Seele strömt

Und all mein Ungestüm in Frieden taucht.

Was gilt am Weib mir Heldentum? Beim Thor!

Das hab’ ich selbst, und neubegierig wohl

Bestaunen kann ich’s; aber lieben? – Nie![18]

Im ausgehenden 20. Jahrhundert dann verschiebt sich vielfach das Interesse, mit dem Kultur­schaffende an den Nibelungenstoff herantreten. An Stelle der Liebes- und Geschlechterver­wicklungen und der Zwangsläufigkeit von Rache und Totschlag tritt die Frage ins Zentrum, wer oder was eigentlich den Gang der Geschichte bestimmt – und Geschichte ist dabei durch­aus im doppelten Sinn von sich ereignender Handlung und von der Erzählung über diese Handlung gemeint. Ein frühes Beispiel für ein Stück, das die Konstruktion von Geschichte im Erzählen, und die Unterschiedlichkeit der erinnerten Vergangenheit (und damit der vergange­nen Geschichten) jeder einzelnen Figur aufs Korn nimmt, ist das postmoderne Nibelungen­drama der französischen Schriftstellerin, Essayistin und Feministin Hélène Cixous: L’histoire (qu’on ne connaîtra jamais) („Die Geschichte [die man niemals kennen wird]“) von 1994.

Auch Cixous kommt von der Seite der Geschlechter-Diskurse, aber sie befasst sich in ihrem Stück nicht so sehr damit, welche Rollen Frauen oder Männer einnehmen oder einnehmen sollten, sondern vielmehr damit, wie und warum bestimmte Geschichten in einer bestimmten Weise erzählt werden. Die verschiedenen und zumal im Nibelungenlied ja ganz unbeteiligten Erzählinstanzen der Nibelungensage versetzt Cixous als Figuren in das Stück selbst hinein. Da gibt es zum einen eine alte Frau namens „Edda“, die die Ereignisse schon vor undenkli­cher Zeit in Bilder gewebt haben will und zunächst wenig Lust hat, daran etwas zu verändern. Zum anderen tritt dort Snorri Sturluson als Figur auf, jener Snorri, der die Prosa Edda verfasst hat. Er steht unter der Fuchtel der nordischen Götter und seines Vaters Sturla, die ihn aus dem Jenseits unablässig antreiben, endlich die Nibelungengeschichte weiterzuerzählen, und die dabei lauthals nach mehr Krieg, mehr Blut, einem Verräter, einer Vierteilung und 1000 toten Rittern verlangen. Snorri aber will das nicht; zum einen muss er seine Geschichte der norwe­gischen Könige ‒ Heimskringla ‒ fertigmachen, zum anderen will er lieber von Liebe, Versöhnung und einem langen Leben erzählen. Die Erzählerfiguren, aber auch die blutrünstigen alten Herren im Jenseits versuchen mal mehr, mal weniger erfolgreich, auf die Figuren der Ge­schichte einzuwirken – also auf Sigfrid, Gunther, Hagen, Kriemhild, Brunhild und all die an­deren an dieser Sage Beteiligten.[19] Gelingt es noch, Hagen zum Mord an Sigfrid anzustacheln, erweist sich dieser nach seinem Tod aber schon wenig geneigt, die Rache für sich selbst in die Wege zu leiten. „Man rächt nicht mehr wie früher“, stellt Snorris Vater missbilligend fest (S. 175). Gemeinsam versuchen Snorri, Edda und Sigfrid aus dem Jenseits, in das sie mittlerweile alle befördert wurden, Kriemhild von ihrer Reise zu Etzel abzuhalten, die, wie wir wissen, ein großes Gemetzel und (diesem Stück zufolge) das Ende der Welt nach sich ziehen würde S.181f.). Sie erreichen Kriemhild nicht, doch Brunhild rettet die Welt vor dem Untergang, indem sie sich in ein großes Schneetreiben verwandelt, das Kriemhilds brennende Rachelust löscht und die Wege ins Hunnenland verdeckt.

In diesem zugegebenerweise recht phantastischen Schauspiel hebt Cixous den Umstand her­vor, dass jede und jeder sich anders an Vergangenes erinnert. Immer wieder streiten sich Figuren über Details der Vergangenheit, etwa Sigfrid und Kriemhild, ob der Baum, unter dem sie sich damals trafen, nun eine Eiche oder eine Pinie war (S. 46). Auch die Versuche, durch das Erzählen von Geschichten Figuren zu manipulieren und Einfluss auf den Gang der Ge­schichte zu nehmen, ist ein wiederkehrendes Motiv. In echt postmoderner Manier weist Cixous damit a. auf die Macht des Erzählens hin, lässt dafür b. Erzähler auf verschiedenen Ebenen (und deren Auftraggeber) interagieren und in die Geschichte einbrechen (Snorri, Edda), und sie wahrt dabei c. eine gewisse Autonomie oder Freiheit oder Unberechenbarkeit der Figuren (Brunhild).

Das Nachleben, das Wiedererzählen der Nibelungensage ist also erkennbar in unserer Zeit der Medien und Nachrichten, der Fake News und der Geschichtsfälschungen angekommen. Auch, wenn Brynhild, Sigurd und Co schon seit Jahrhunderten ihre Beziehungen und ihre Konflikte miteinander teilen, sind es doch immer die Beziehungen und Konflikte einer spezifischen Zeit, die heute ganz anders gelagert sind als im 13. Jahrhundert, als die Lieder der Edda nieder­geschrieben wurden. Und in diesem Sinne sollten wir mit Neugier und Interesse darauf schauen, mit welchen Fragen Maria Milisavljevićs Brynhild uns 2023 konfrontiert, und welche Lösungen sie dafür anbietet.

Literatur:

Quellen:

Edda. Die Lieder des Codex regius nebst verwandten Denkmälern. I. Text. Hg. von Gustav Neckel. 5. verbesserte Aufl. von Hans Kuhn. Heidelberg 1983.

Geibel, Emanuel: Brunhild: Eine Tragödie aus der Nibelungensage. Stuttgart, Augsburg 1857.

Milisavljević, Maria: brynhild. Auftragsarbeit für die Nibelungenfestpiele Worms. Frankfurt 2023.

Die Nibelungenklage. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Einfüh­rung, neuhochdeutsche Übersetzung und Kommentar von Elisabeth Lienert. Paderborn u.a. 2000.

Snorri Sturluson: Edda. Skáldskaparmál. 1. Introduction, Text and Notes. Hg. Anthony Faulkes. London 1998.

[Snorri Sturluson:] Die Edda des Snorri Sturluson. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Arnulf Krause. Stuttgart 1997.

Vǫlsunga saga ok Ragnars saga loðbrókar. Hg. Magnus Olsen. Kopenhagen 1906–1908.

Volsunga- und Ragnars-Saga nebst der Geschichte von Nornagest. Übersetzt von Friedrich Heinrich von der Hagen. Völlig umgearbeitet von Anton Edzardi. Stuttgart 21880.

Forschung:

Bender, Ellen: „Frauenbilder im Nibelungenlied und in den Wormser Festspielinszenierun­gen“. 2022. (https://www.nibelungenlied-gesellschaft.de/nlg/beitraege/frauenbilder-im-nibelungenlied-und-in-den-wormser-festspielinszenierungen/ [10.11.2023])

Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt 1979.

Böldl, Klaus und Katharina Preißler: „Ballade“. In: Germanische Altertumskunde Online. Hg. Sebastian Brather, Wilhelm Heizmann und Steffen Patzold. Berlin, New York: De Gruyter, 2015. https://www.degruyter.com/database/GAO/entry/GAO_44/html. [3.11. 2023].

Brinker-von der Heyde, Claudia: „Nibelungenlied“. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. vollst. neubearb. und stark erw. Aufl., Bd. 21, Berlin u.a. 2002, S. 131‒135.

Holzapfel, Otto: Die dänischen Nibelungenballaden. Texte und Kommentare. Göppingen 1974.

Kommentar zu den Liedern der Edda. Von Klaus von See et al. 6 Bände, Heidelberg 1997–2019.

Kramarz-Bein, Susanne: „Þiðreks saga af Bern“. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich, Heiko Steuer (Hg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. vollst. neubearb. und stark erw. Aufl., Bd. 30, Berlin u.a. 2005, S. 466–471.

Nedoma, Robert: „Zu den Frauenfiguren der ‚Þiðreks saga af Bern‘“. In: Hermann Reichert, Günter Zimmermann (Hg.): Helden und Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag. Wien 1990, S. 211–232.

Quinn, Judy: „The Endless Triangle of Eddic Tragedy: Reading Oddrúnargrátr (The Lament of Oddrún)“. In: Maria Elena Ruggerini (Hg.): Studi anglo-norreni in onore di John S. McKinnell, Cagliari 2009, S. 304–326.

Schier, Kurt und Wilhelm Heizmann: „Sjúrðar kvæði“. 2020. In: Arnold, H.L. (Hg.) Kindlers Literatur Lexikon (KLL). J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi-org.proxy.ub.uni-frankfurt.de/ 10.1007/978-3-476-05728-0_21653-1 .

Anmerkungen


[1] S. dazu auch Ellen Benders Artikel „Frauenbilder im Nibelungenlied und in den Wormser Festspiel­inszenierungen“ (2022)

[2] Vgl. Blumenberg 1979, S. 299f. bzw. für die ikonische Konstanz S. 165f.

[3] Frá dauða Sigurðar („Von Sigurds Tod“), Edda (1983), S. 201. Die Übersetzungen stützen sich auf jene des Kommentars zu den Liedern der Edda.

[4] https://www.blb-karlsruhe.de/sammlungen/unesco-weltdokumentenerbe-nibelungenlied/die-handschrift-c [Zugriff 27.10.2023]

[5] Vgl. Brinker-von der Heyde 2002, S. 132.

[6] Vers 3975ff. in Lienerts auf der *B-Fassung basierten Edition (Die Nibelungenklage 2000).

[7] Genauer gesagt sind es zwei Helgis: Helgi Hiǫrvarðsson und Helgi Hundingsbani. Von letzterem legen die den Liedern beigefügten Prosapassagen nahe, dass er der wiedergeborene Helgi Hiǫrvarðsson sei, s. Kommentar zu den Liedern der Edda Bd. 4, S. 377

[8] Eine Übersicht bietet, mit weiterer Literatur, der Kommentar zu den Liedern der Edda Bd. 5, S. 497f. und Bd. 6, S. 130ff.

[9] Vǫlsunga saga ok Ragnars saga loðbrókar k. 21; Edzardis deutsche Übersetzung hat eine etwas andere Zählung; hier ist das das 20. Kapitel.

[10] In Kapitel 31 bzw. 29. Auch die anderen Strophen werden mit Formulierungen wie „wie der Dichter sagt“ als Zitate gekennzeichnet, ohne jedoch konkret benannten Liedern zugeschrieben zu werden.

[11] Vgl. Kramarz-Bein 2005, S. 467 mit Literaturverweisen.

[12] Eine Analyse auch von Brynhildrs Rolle in der Þiðreks saga bietet Robert Nedoma: Zu den Frauenfiguren der ‚Þiðreks saga af Bern’, in: Hermann Reichert, Günter Zimmermann (Hg.): Helden und Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag. Wien 1990, S. 211–232; zu Brynhildr v.a. S. 226–229.

[13] S. dazu Böldl und Preißler 2015 und Schier und Heizmann 2020.

[14] Otto Holzapfel ediert und übersetzt in seinem Die dänischen Nibelungenballaden – Texte und Kommentare (1974) dreizehn Balladen

[15] Zu der an dieser Stelle offensichtlich fehlerhaften Anordnung der Strophen in der Handschrift und den Implikationen für die Interpretation s. Quinn 2009, S. 318 und Kommentar zu den Liedern der Edda Bd. 6, S. 898ff.

[16] Vgl. Kommentar zu den Liedern der Edda Bd. 6, S. 841

[17] Vgl. auch Quinn 2009, S. 326.

[18] Geibel 1857, S. 91

[19] Scène 1; Scène 7 S. 80‒82 und öfter.  Obwohl Cixous mit dem Aufgreifen von „Edda“ und Snorri Sturluson explizit an die nordische Überlieferung anknüpft, wählt sie für die Protagonisten der Nibelungen­geschichte die Namensformen, die der mittelhochdeutschen Tradition entstammen.