Nibelungische Echos

Politische Nibelungendiskurse in der Zeit des Nationalsozialismus

von PD Dr. Robert Schöller

Das Nibelungenepos bildet ein wichtiges Versatzstück im heroischen Diskurs, der von den nationalsozialistischen Machthabern geführt und der Inszenierung ihrer Herrschaft dienstbar gemacht wird. Dies wiederum prägt auch die Sicht des Auslands auf das nationalsozialistische Deutschland.

Man beginnt, mit Deutschland ›nibelungisch‹ zu kommunizieren bzw. die Vorgänge im Dritten Reich vor der Folie der Nibelungen zu analysieren.

Im Vortrag soll diesem Wechselspiel von Selbst- und Fremdzuschreibung anhand ausgewählter Beispiele nachgegangen werden.

George Grosz, Siegfried Hitler („Die Pleite“ Titelseite), November 1923

Nibelungischer Widerhall.

Nibelungendiskurse in der Zeit des Nationalsozialismus1

Die nationalsozialistische Bewegung weist zugleich regressive wie progressive Elemente auf: Regressiv ist die Ideologie, die ›Weltanschauung‹. Die Germanen bieten, gerade weil sie historisch nur schlecht dokumentiert sind, eine ideale Projektionsfläche: Was ›germanisch‹ ist, was ›germanisches Wesen und Erbe‹ ausmachen, bestimmen die Nationalsozialisten. Als progressiv hingegen lässt sich der Zugriff auf die Mittel charakterisieren, mit deren Hilfe der Weltanschauung zum Durchbruch verholfen werden soll. Man bedient sich, insbesondere auf dem Gebiet der Rüstungspolitik, der neuesten Technologie, man versucht, technisch auf dem neuesten Stand zu sein. Es sind, mit einem Begriff von Klaus Theweleit, »Techno-Germanen«2, die 1932 nach der Macht und ab 1933 nach der Weltherrschaft greifen. Das Nibelungenlied nun muss als ein literarischer Repräsentant dieses germanisch-deutschen Wesens herhalten. Von Anfang an umgibt das Dritte Reich eine nibelungische Aura. Es wird, unter Rückgriff auf eine lange unheilvolle Tradition, ein nibelungischer Resonanzraum geschaffen, der in das Umfeld, also das Ausland, ausstrahlt. Das Ausland wiederum reagiert auf diesen nibelungischen Resonanzraum. Man beginnt, die Situation Deutschlands vor dem Hintergrund der Nibelungen zu analysieren, man beginnt aber auch, mit Deutschland nibelungisch zu kommunizieren und zu verhandeln. Der nibelungische Ruf der Nationalsozialisten wird durch ein vielfältiges ›nibelungisches Echo‹ des Auslands beantwortet. Das weite und unterschiedlichste Diskurse abdeckende Spektrum dieses ›nibelungischen Widerhalls‹ soll in der Folge anhand von Fallbeispielen vorgeführt werden.

Der österreichische Schriftsteller Joseph Roth analysierte in kurzen feuilletonistischen Beiträgen für die von Leopold Schwarzschild in Paris herausgegebene Exilzeitschrift ›Das neue Tage-Buch‹ das nibelungische Fundament der neuen Machthaber. In seinem Essay ›Ring der Nibelungen‹3 stellt er fest, dass sich ein nibelungischer Geist erneut in Deutschland festgesetzt habe. Der Essay erscheint im Juli 1934, kurz nach dem sogenannten ›Röhm-Putsch‹, in dessen Verlauf die Führungskräfte der SA und zudem politische Gegner – wie etwa Kurt von Schleicher, der Vorgänger Hitlers als Reichskanzler – ermordet wurden. Entsprechend düster fällt Roths Analyse aus. Das Wesen der vielbeschworenen Nibelungentreue bestehe in einer signifikanten Untreue, nimmt man den mittelhochdeutschen Text wie auch die von den Nationalsozialisten geübte Praxis des Meuchelmords und des Vertragsbruchs als Maßstab. Zudem dekonstruiert Roth konsequent die heroische Aura der Protagonisten: Hagen etwa wird als ein germanischer Kain gesehen, Siegfried als dessen Gegenstück Abel und zugleich als »Casanova mit der Tarnkappe«, Gunther stelle sich ahnungslos und will von nichts gewusst haben, und gegen Kriemhild wiederum, »die Großmutter Gretchens«, sei »Medea ein Unschuldsengel«. Das nibelungische Szenario münde mit fataler Folgerichtigkeit in einer »Nacht der langen Messer«, eine Bezeichnung, unter der bekanntlich auch der Röhm-Putsch gehandelt wurde. Roths Re-Lektüre des Nibelungenlieds zählt in ihrer dunklen Analogisierungstendenz sicherlich zu den polemischsten und schärfsten Analysen dieses Textes, die die deutschsprachige Literatur zu bieten hat.

Eine Warnung vor nibelungischer Untreue begegnet auch im Umfeld einer Rede, die der Kanzler des österreichischen Ständestaats, Kurt Schuschnigg, am 24. Februar 1938 im historischen Reichsratssitzungssaal des Parlaments hält. In dieser Rede reagiert Schuschnigg auf den zunehmenden politischen Druck, der vom deutschen Nachbarland seit der berüchtigten Unterredung zwischen Hitler und Schuschnigg in Berchtesgarden am 12. Februar ausgeübt wird und in der Hitler unverblümt mit dem Einmarsch in Österreich drohte. Unter dem Motto ›Bis hierher und nicht weiter‹ weist Schuschnigg alle über das Berchtesgardener Abkommen hinausgehenden Forderungen zurück. Anzustreben sei ein »deutscher Friede«, eine friedliche Koexistenz der beiden Staaten unter Respektierung der staatlichen Autonomie. Die Rede wird weltweit über den Rundfunk übertragen. Am nächsten Tag druckt die österreichische Tageszeitung ›Reichspost‹ die Rede ab, der eine nibelungische Analogie vorangestellt wird. Nun wird vor ›nibelungischer Untreue‹, vor einem Treuebruch unter Deutschen nach nibelungischem Vorbild gewarnt: »Aus wäre es mit dem Ruf des deutschen Namens in der Welt, wenn das gegebene deutsche Wort in Verruf käme, wenn ein deutscher Handschlag nicht mehr anders bewertet würde als jener weltgeschichtliche Kuss, mit dem einst Treulosigkeit ihre Untat besiegelte, als der Händedruck, den Hagen mit Siegfried wechselte. Das Staatsoberhaupt des Dritten Reiches besitzt das Wort des politischen Führers von Österreich, wie dieser das Wort des Reichskanzlers. Dies muss genügen, dies muss halten wie Stahl.«4 Aus dem Artikel der ›Reichspost‹ geht nicht mit der nötigen Klarheit hervor, ob dieser Passus einen vorangestellten Auszug aus Schuschniggs Rede oder eine nachträgliche Ergänzung darstellt.5 Da es sich bei dieser Zeitung letztlich um ein Sprachorgan des Ständestaats handelt, ist der offizielle Charakter dieser Äußerung gesichert. Damit kann diese Verschaltung von Judaskuss und nibelungischem Verrat in die (überschaubare) Reihe von Nibelungenzitierungen in politischen Reden auf höchster politischer Ebene (wie etwa die ›Hunnenrede‹ Kaiser Wilhelms II. am 27. Juli 1900, die Reichstagsrede des Reichskanzlers Fürst von Bülow mit dem Schlagwort der ›Nibelungentreue‹ am 29. März 1909 und die Stalingradrede Hermann Görings am 30. Januar 1943) aufgenommen werden. Dass dieser Versuch einer ›nibelungischen Kommunikation‹ wirkungslos blieb und der sogenannte ›Anschluss‹ Österreichs an das Deutsche Reich wenig später, am 12. März 1938, vollzogen wurde, tut in diesem Zusammenhang nichts zur Sache.

Nach Kriegsbeginn bemühten sich mitunter auch amerikanische Medien um eine Einschätzung der nationalsozialistischen Politik vor dem Hintergrund des Nibelungenlieds. In der Sprengung des durch feindlichen Beschuss schwer beschädigten, mit modernster Technologie ausgestatteten Kriegsschiffs ›Admiral Graf Spee‹ am 17. Dezember 1939 und dem wenig später vollzogenen Selbstmord des deutschen Kommandanten Hans Langsdorff sieht die ›New York Times‹ einen Ausdruck nibelungischer Mentalität, die sich aus germanischen Vorzeiten erhalten habe. Der Artikel vom 24. Dezember 1939 erscheint unter dem Titel ›Die rather than yield, Nazis teach Germany. Langsdorff’s Acts Glorified by a Nation That Has Exalted Hagen of Nibelungen Ring Above Siegfried as a Hero.‹ In diesem Artikel wird zunächst die mentale Kluft hervorgehoben, die Nazi-Deutschland von der westlichen Welt trenne. Es gäbe da ›etwas Tiefes‹ (»something deep«) in der deutschen Natur: nämlich den deutschen Heroismus, dem der Stellenwert einer Ersatzreligion zukomme. Dieser Heroismus habe seine Wurzeln in der Mentalität der germanischen Stämme, und er finde seinen trefflichsten Ausdruck im Nibelungenlied, das durch die Jahrhunderte einen maßgeblichen Einfluss auf deutsches Denken ausgeübt habe. Durch Richard Wagners Bearbeitung sei das Epos erneut in das Bewusstsein der Deutschen eingespeist worden. Dabei habe eine bemerkenswerte Verschiebung stattgefunden: Nicht der strahlende Siegfried, sondern vielmehr der grimmige Hagen repräsentiere das neue Heldenideal Nazi-Deutschlands und insbesondere der SS, was in die fatalistische Haltung eines ›do or die, master or slave, world power or downfall‹ münde. Dass sich diese Einschätzung des amerikanischen Berlin-Korrespondenten Otto D. Tolischus durchaus mit nationalsozialistischen Indoktrinierungen deckt, zeigt ein Vergleich mit den ›SS Germanischen Leitheften‹, einem zentralen Publikationsorgan für die Schulung der SS, in dem Hagen tatsächlich immer wieder als Vorbild, ja sogar wörtlich als ein »Staffelmann« dargestellt wird.6

Zuletzt soll ein Stellvertreterkrieg der Nationen in Gestalt eines Boxkampfes Erwähnung finden. Die Nationalsozialisten ideologisierten den Faustkampf als eine zentrale Form der heroischen Auseinandersetzung. Diese propagandistische Auswertung einer Sportart wurde auf den deutschen Boxer Max Schmeling ausgerichtet, der zu jener Zeit eine dominante Rolle im internationalen Boxsport spielte. Am 8. Juni 1933 trat Schmeling in einem Herausforderungskampf – der amtierende Weltmeister war der Italiener Primo Carnera – im New Yorker Yankee-Stadium gegen den Amerikaner Max Baer an. Gegen die Erwartungen der Buchmacher, die Schmeling klar favorisierten, gelang Baer ein Sieg durch technisches K.O. in der zehnten Runde. Dieser Triumph war politisch äußerst brisant, denn Baer trug in diesem Kampf aus Solidarität mit der unterdrückten jüdischen Bevölkerung in Deutschland einen Davidstern. Während sich in der Folge die nationalsozialistischen Publikationsorgane bemühten, den Kampf zu bagatellisieren oder ihn schlicht verschwiegen, war das Echo in den internationalen Zeitungen beträchtlich. Zudem gibt es Belege dafür, dass die jüdische Öffentlichkeit den Triumph Baers mit Genugtuung registrierte. Der Shoah-Überlebende Shlomo Birnbaum berichtet in seiner Biographie, dass er als Kind Max Baer nacheiferte;7 und selbst der sonst an Sport wenig interessierte Romanist Victor Klemperer bezeichnet in seinen Tagebüchern den Kampf als ›bellum iudaicum‹.8 Der französische Schriftsteller André Suarès wiederum legte in seiner 1939 erschienenen, polemischen Schrift ›Vues sur l’Europe‹ Max Baer unter dem Titel ›Wotan Giflé‹ (›Der geohrfeigte Wotan‹)eine Schmäh- und Reizrede in den Mund, der den Kampf zu einer Konfrontation mit dem nibelungischen Deutschland stilisierte: »Max Baër dit: ›J’ai mis knock out le champion d’Allemagne, leur héros, promis au Walhalla et après l’avoir jeté dans les cordes, j’ai collé au sol le géant mou d’Italie, qui montait déjà au Capitole […]. En qualité de misérable Juif, je défie aujourd’hui, dans un match très sévère, sur le ring nu du mépris, Odin Hitler, Hagen Gœring, l’aboyeur Gœbbels (Gœbbel veut dire aboi), et Alfred Rosenberg, le gorille philosophe de la forêt teutonique. Comme je ne suis qu’un juif, j’irai seul conte les quatre, avec mes poings. […] Un seul David, en 1934, peut bien venir à bout de quatre Goliaths boches.‹« (»Max Baër sagt: ›Ich habe den deutschen Meister ausgeknockt, ihren Helden, der der Walhalla versprochen war, und nachdem ich ihn in die Seile geschleudert hatte, streckte ich den weichlichen Riesen Italiens zu Boden [Primo Carnera, den Baer 1934 besiegte], der bereits auf dem Weg zum Kapitol war […]. Als elender Jude fordere ich heute heraus zu einem harten Kampf in den Ring der Verachtung: Odin Hitler, Hagen Goering, den Kläffer Goebbels (Goebbel bedeutet Bellen) und Alfred Rosenberg, den Gorilla-Philosophen aus dem teutonischen Wald. Da ich nur ein Jude bin, werde ich allein gegen die vier mit meinen Fäusten vorgehen. […] Ein einziger David kann 1934 vier deutsche Goliaths besiegen.‹«)9

Mit dem Untergang des ›Dritten Reichs‹ verhallt der Ruf der Nibelungen. Die Nibelungentreue des Nationalsozialismus weicht, um es mit Karl Kraus zu sagen, der »Nibelungenreue«10, auf die Zerstörung im nibelungischen Geiste folgen Wiederaufbau und Wiedergutmachung. Die postheroisch disponierte Gesellschaft, die der heroischen folgte,11 hatte keine Verwendung mehr für einen mit dem Pathos des Nationalen versehenen Text. Das Nibelungenlied, dieses durch Missbrauch nachhaltig beschädigte literarische Meisterwerk, konnte wieder in jene Diskursbereiche zurückkehren, in die es gehört: in den künstlerischen und in den akademischen Bereich.

1 Der Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung des Vortrags, der im Juli 2019 unter dem Titel ›Nibelungische Echos Politische Nibelungendiskurse in der Zeit des Nationalsozialismus‹ im Rahmen der Nibelungenlied-Gesellschaft Worms gehalten wurde. Eine umfassende schriftliche Version des Vortrags wird an anderer Stelle publiziert. Interessenten können das vollständige Typoskript des Vortrags bei der Nibelungenlied-Gesellschaft anfordern. Für die Einladung und die freundliche Betreuung vor Ort möchte ich mich herzlichst bei Volker Gallé und Dr. Ellen Bender bedanken.

2 Vgl. http://www.klaus-theweleit.de/?page_id=2 (letzter Zugriff : 1.6.2020).

3 Joseph Roth: Ring der Nibelungen. In: J.R.: Werke. Hrsg. und eingeleitet von Hermann Kesten. Vierter Band. Köln 1976, S. 619-621.

4 Vgl. Reichspost. Unabhängiges Tagblatt für das christliche Volk, 25.2.1938.

5 Hans-Werner Scheidl schlägt in seinem Artikel für die österreichische Tageszeitung ›Die Presse‹ (22.2.2013) den Passus der Rede Schuschniggs zu; vgl. https://www.diepresse.com/1348149/kurt-schuschnigg-warnt-die-osterreichischen-nationalsozialisten (letzter Zugriff: 1.6.2020).

6 Zitiert nach Frank Helzel: Vorbilder, Himmlers Ende und Wewelsburger Selbstdarstellung, 2009, S. 7 (https://www.himmlers-heinrich.de/himmlers-ende.pdf; letzter Zugriff: 1.6.2020).

7 Vgl. Shlomo Birnbaum und Rafael Seligmann: Ein Stein auf meinem Herzen. Vom Überleben des Holocaust und dem Weiterleben in Deutschland. Freiburg i.Br. 2016, S. 33.

8

9 André Suarès: Vues sur l’Europe. Paris 1939, S. 78.

10 Vgl. Karl Kraus: Die Fackel Nr. 499-500 (20.11.1918), S. 1.

11 Zur Terminologie vgl. Herfried Münkler: Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2015.