Konfessionspolemische Hassrede im Zeichen des Tieres

„Von dem großen Lutherischen Narren“
von Prof. Dr. Tobias Bulang, Universität Heidelberg

Beitrag anlässlich der Luther-Festspiele 2021

Von dem großen Lutherischen Narren, Druckgrafik, Straßburg, 1522

Würde man uns heute, mittels einer Zeitmaschine vielleicht, in das Jahr 1521 und die Stadt Straßburg versetzen – so würde das für die meisten von uns keine angenehme Erfahrung sein. Die frühneuzeitliche Stadt war zu jener Zeit alles andere als ein idyllischer, für den internationalen Fremdenverkehr herausgeputzter Ort. Lärm, Schmutz und die Zügellosigkeit städtischen Treibens würden uns wohl in kürzester Zeit maßlos überfordern und zum Antreten des Rückwegs veranlassen. Blieben wir länger und würden wir uns mit den Auseinandersetzungen der Zeitgenossen um die Ereignisse befassen, die wir heute unter dem Begriff der Reformation zusammenfassen, würde uns freilich einiges recht vertraut vorkommen: wüste Beschimpfungen, polemische Invektiven, üble Nachrede, Schmähungen, fake news – nicht nur im nachbarschaftlichen Umgang, auch in öffentlicher Rede und Publizistik, in politischen und religiösen Debatten. Besonders auffällig ist solche Hassrede in den Auseinandersetzungen der Reformatoren und ihrer Gegner zu beobachten – und um solche Hassrede geht es mir.
Zu den sprachlichen Registern konfessionspolemischer Beschimpfungsroutinen gehören insbesondere die Dämonisierung und Vertierung der jeweiligen Gegner. Besonders eindrückliches Exempel dafür ist Luthers Papstesel, der auf die Delegitimierung der Kurie zielte und massenmedial Verbreitung fand. Weitere Beispiele wären das anonyme Spottblatt auf Luthers Gegner (um 1521), welches Thomas Murner als Kater zeigt, Hieronymus Emser als Bock, Papst Leo X. als Löwen, Johannes Eck als Schwein und Jakob Lemp als Hund (Abb. 1). Der Franziskaner Thomas Murner wurde als Kater und als Narr verhöhnt. Murner ist frühneuhochdeutsches Wort für die Katze und den Kater, abgeleitet vom murrenden Ton des Tieres. Aus dem Namen machte man den Murr-Narr, also einen Katzennarren, als den man den Franziskaner in Bildern und Texten verspottete. Dergleichen polemische Invektiven erschöpften sich nicht im ad personam gerichteten Schimpfwortgebrauch allein. Sie haben darüber hinaus die Implikation des Häresievorwurfs insofern, als dass sie sich nicht nur gegen die Personen, sondern insbesondere gegen die von ihnen in Predigten und anderen Veröffentlichungen hervorgebrachten Reden richten. Konfessionspolemische Beschimpfungen der Gegner als Tiere richten sich gegen deren Diskurse. Es sind die theologischen oder pastoralen Diskurse solcher als Tiere deklassierten Akteure, die adressiert werden. Denn diese gründen nicht in der gottgegebenen Vernunft und Weisheit, sondern sind im Zeichen des Tieres in der Natur begründet, in Gewalt und Begehren, im Trieb. Durch Tiervergleiche – und das macht ihre Attraktivität in der Konfessionspolemik aus – können Argumente der Gegner durch Naturalisierung degradiert werden. Denn Diskurse werden so zum Ausdruck tierischen Begehrens, sie betreiben nicht die Wahrheit, sondern stellen vielmehr Fress- und Saufsucht, Hurerei und sinnlose Raserei dar. Sie vertreten keine Wahrheitsansprüche, sondern sind vielmehr Indizien, mehr Geräusch als Text. Tiervergleiche implizieren einen Häresievorwurf insofern, als dass sie den Reden der Gegner einen Ursprung in der Sünde zuweisen.
Gedruckte Bezichtigungen unterbinden argumentative Auseinandersetzungen und stellen mit Vertierung und Dämonisierung radikale Verkürzungen diskursiver Wahrheitsfindung dar. Statt argumentativer Erörterung werden Appelle an Ängste, Ekel und Entrüstungsbereitschaft verbreitet, welche Adressaten zur Einstimmung ermuntern, ehe ihre Zustimmung überhaupt erfragt wurde.
Thomas Murner, Franziskaner, Jurist und ab 1520 radikaler Gegner Luthers, druckte 1522 beim letzten altgläubigen Straßburger Drucker Johannes Grüninger die Satire Von dem grossen Lutherischen Narren. Murner steigert die Hassrede enorm, sein literarischer Diskurs ist gemessen an einfachen Bezichtigungsformeln komplex und avanciert, es handelt sich um eine groß angelegte Satire gegen die Reformation in toto.
Murners Satire „Von dem großen Lutherischen Narren“ erschien als Buch mit vielen Holzschnitten als Illustrationen. Der Text beginnt mit einer Vorrede, die aus der vorhergehenden publizistischen Kontroverse heraus begründet, warum Murner 1522 zu den äußersten literarischen Mitteln der Auseinandersetzung mit Luther und seinen Anhängern greift. Er etabliert die Figur der Murrnarr-Katze als Akteur, der sich des Mittels des Exorzismus, der Beschwörung, bedienen wird. Sodann wird der Lutherische Narr im Schlitten herumgeführt und Murrnarr beginnt mit seiner Beschwörung. Der Lutherische Narr, der auf die Beschwörungen hin widerwillig über sich selbst Auskunft gibt, ist fett, denn er hat in sich alle anderen Narren. Von Kapitel zu Kapitel beschwört nun Murrnarr die kleinen Narren im Leib des großen. So bringt er die Narren im Kopf zum Sprechen, dann die Narren in der Tasche, schließlich die Narren im Bauch. Aus dem Bauch kommen die 15 Bundesgenossen (als „Bauchgenossen“ verhöhnt) hervor. Bei ihnen handelt es sich um die Redner, die auf Flugschriften der Zeit das neue Gedankengut der Protestanten verbreiteten. Bei Murner geben dieselben Bundesgenossen dagegen auf Murrnarrs Beschwörungen hin die niederen Beweggründe hinter ihrer konfessionellen Programmatik preis. Hier nun etabliert sich neben dem Reihenspiel der Beschwörungen einzelner Narren ein Handlungsspiel: Denn die heraufbeschworenen Narren stellen sich zum großen Heeresverband auf. Diese erzählerische Entfaltung der Konskription eines Heeres, seiner Aufstellung, der Einsetzung von Führern und der Zuordnung von Heeresfähnlein folgt bewährten heldenepischen bzw. chronikalen Erzählmustern. Der Hauptmann des Verbandes ist Luther selbst, die Fähnlein haben die Inschriften: Wahrheit, Freiheit und Evangelium. Innerhalb des Spiels der Perspektiven bietet Murner Intermezzi vereindeutigender Rede, beispielsweise wenn Luther den Bundschuh schmiert und ankündigt, dass es ihm um Zerstörung, Unordnung und Chaos geht oder in der Klage der einfachen Christen darüber, dass die Fähnlein gestohlen seien, dass also die Wahrheit, das Evangelium und die Freiheit vollumfänglich nur durch die alte Kirche umgesetzt waren. Im weiteren Verlauf des Textes wird das Reihenprinzip zunehmend von einem Handlungsprinzip abgelöst. Das aufgestellte Heer schwört dem Hauptmann zu, lässt die Trommeln rühren und richtet drei Sturmangriffe aus.
Der erste Sturm richtet sich auf die Zerstörung der Kirchen und Klöster, der zweite gegen die Schlösser. Geschleift werden sollen die kirchlichen und staatlichen Obrigkeiten, beide Stürme misslingen. Der dritte Sturm richtet sich gegen die mit den frommen Christen in einem Festungsbollwerk verschanzte Klosterkatze Murrnarr selbst. Hier entscheidet sich der Hauptmann zuletzt für Friedensverhandlungen: Murrnarr soll lutherisch werden und dafür Luthers Tochter zur Frau bekommen. Murrnarr stimmt begeistert zu. Es folgt nun die Geschichte der Brautwerbung, Hochzeit und Brautnacht der großen Katze mit Luthers Tochter. Hier spielen epische Erzählprinzipien und Konventionen von Schwankmäre und Tierepos in das hybride Arrangement von Diskursen und literarischen Gattungen hinein. Murrnarr lässt sich von Luther unterweisen, hofiert die schöne Tochter und die Hochzeit wird ausgerichtet. Das happy end findet nicht statt: Während des Hochzeitsmahls würgen die Gäste an einer in Pfefferbrühe gesottenen Hose (Murners Gegner hatten die Geschichte eines amourösen Abenteuers Murners verbreitet und ihn mit der Hose in der Hand dargestellt: Auch hier erfolgt wieder eine Aneignung der Schmähungen, die an die Gegner im Bild des Fressens der Hose repliziert werden, das Sieden der Hose in der ‚Pfefferbrühe‘ der eigenen, scharfen Rede kann poetologisch gelesen werden). In der Brautkammer schließlich entschleiert sich Luthers Tochter. Aufgrund ihres stinkenden Grindes prügelt Murrnarr sie aus dem Brautgemach. Dies zielt nicht nur auf Ehrverletzung Luthers, sondern auf die größtmögliche persönliche Verletzung. In der Vermählung von Luthers Tochter mit dem Katzenmonster und der Entehrung der Braut wegen körperlicher Gebrechen sucht Murner seinem Gegner gegenüber, das maximal Zumutbare weit hinter sich zu lassen. Brautwerbung und Hochzeit enden in Chaos und Tumult, mit der Vertreibung der Braut ist dieser Handlungsstrang abgeschlossen und ein neuer wird eröffnet.
Es folgen die beiden Geschichten vom Tod Luthers und vom Tod des Lutherischen Narren. Luther sieht sein Ende nahen und bittet die Klosterkatze um Verzeihung, um Trost und Beistand. Eindringlich weist Murrnarr Luther auf die Notwendigkeit von Beichte und Buße sowie jene des Empfangs der Sterbesakramente hin. Weil Luther sich verweigert – in ausgiebigen Dialogpassagen, die ihn als Apostaten und verstockten Sünder demaskieren –, wird er zuletzt im Beisein Murrnarrs unter dem Geschrei von Katzen in der Latrine versenkt (Abb. 4). Brutaler und grotesker hat niemand antilutherische Polemik ins Bild gesetzt. Bleibt zuletzt noch die Entsorgung des Lutherischen Narren, des Luthertums in toto also. Der Narr ist durch Murrnarrs Beschwörungen schwer erkrankt. Auch den Narren weist Murrnarr auf die Notwendigkeit von Buße und Beichte hin, dieser jedoch führt obszöne Reden und fährt schließlich dahin. Es folgt daraufhin mit großem Pomp das feierliche Begräbnis. Alle Anhänger des großen Narren werden aufgefordert, diesen zu Grabe zu tragen. Zuletzt folgt der Erbstreit um die Narrenkappe. Murrnarr selbst erhebt aufgrund des nun abgeschlossenen Werkes den Anspruch, der größte aller Narren zu sein. Hier nun ist die größte Narrheit Adelsprädikat des virtuosesten Satirikers. Mit der Übernahme der Narrenkappe betreibt Murner somit gewissermaßen eine Selbstkrönung des Literaten im satirischen Feld.
Auf dem Titelbild von Murners Satire ist die Figur des Klosterkaters zu sehen, der Murr-Narr (Abb. 2). Ihn macht der Autor Thomas Murner zum Akteur in seinem komplexen literarischen Spiel. Auf dem Bild zieht die Katze in Franziskanerhabit mittels eines Bandes einem großen Narren kleinere Narren aus dem Mund. Anhand der dämonisch anmutenden davonfliegenden kleinen Narren verbildlicht sich der Vorgang der ‚Beschwörung‘, der hier im Sinne eines Exorzismus zu verstehen ist. Ich möchte durch die Beantwortung dreier Fragen den Thematisierungsrahmen der Reformation in dieser Schrift abstecken: Erstens: Wer ist denn dieser Murrnarr und was leistet diese Figur? Zweitens: Was bedeutet im gegebenen Zusammenhang der Vorgang der Beschwörung? Und drittens: Wofür steht der große Lutherische Narr?

Frage: Wer ist der Murrnarr? Über die aggressive Aneignung des Diskurses der Gegner

Anlass der Schrift waren Straßburger Querelen um Murner, die weit über die Region hinaus ausstrahlten. Im Jahr 1520 hatte Murner erstmals mit fünf Streitschriften explizit kritisch zu Lehrinhalten Luthers Stellung genommen. Obgleich anonym erschienen, war die Verfasserschaft Murners in Straßburg und darüber hinaus bekannt; ebenso Murners Versicherung, er habe 32 Traktate gegen Luther verfasst. In Straßburg wurde Murner so zum exponiertesten publizistischen Gegner der Reformation und er wurde sehr genau beobachtet. Als Luther am 10.12.1520 zusammen mit der Bannandrohungsbulle die Dekretalien des kanonischen Rechts verbrannte und damit endgültig den Bruch mit Rom vollzog, positionierte sich der Jurist Murner noch deutlicher gegen den Reformator. Anhänger Luthers reagierten innerhalb nur eines Jahres mit einer beispiellosen Publikationsoffensive gegen Murner. Antimurnersche Flugschriften, wie der Karsthans oder der Murnerus Leviathan kursierten ebenso wie das bereits erwähnte Spottblatt über Luthers Gegner mit Murners Karikatur. Zum Teil wurde Murner dabei als Klosterkatze, als ‚Murrnarr‘, ins Bild gesetzt oder als Monstrum mit Katzenkopf und Drachenschwanz. In der Weise beliebter Schwankerzählungen wurden amouröse Abenteuer ‚Murrnarrs‘ kolportiert; Karikaturen der Klosterkatze waren beliebt, wurden vielfach nachgebildet, ja an Straßburger Häusern öffentlich aufgehängt. Im sogenannten Liederkrieg zwischen Murner und Michael Stiefel wurde auf das von Murner gedichtete Lied Vom untergang des christlichen Glaubens mit Spottliedern geantwortet, in welchen Murner wiederum als Kater verhöhnt wurde. Schließlich greift Martin Luther selbst in diese Situation ein. In seiner Schrift Auf das überchristlich, übergeistlich und überkünstlich Buch Bock Emsers zu Leipzig Antwort 1521 findet sich ein 10-seitiger Zusatz An den Murnarr. Luther gibt hier ein den Murrnarr verspottendes Gedicht bei, dass ihm vom Rhein zugekommen sei. Man muss sich vergegenwärtigen, dass all diese Aktivitäten gegen Murner – und nur diejenigen sind uns überliefert, die in Text und Bild erhalten geblieben sind – innerhalb von weniger als anderthalb Jahren erfolgten.
Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass es sich bei besagtem Zeitraum um eine Krisenzeit handelt, in welcher sich die Ereignisse zuspitzten. Nach dem Ausgeben der Bannandrohungsbulle gegen Luther (Juli 1520) veröffentlichte dieser in rascher Folge die Adelsschrift, die Schrift von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche und die Schrift von der Freiheit des Christenmenschen. (An dieser Stelle sei erwähnt, dass Murner die Schrift von der Babylonischen Gefangenschaft ins Deutsche übersetzte und publizierte, um vor Luther zu warnen und ihn bloßzustellen.) Ende September beginnt die Kampagne gegen Luther durch den päpstlichen Sonder-Nuntius Girolamo Aleandro in den Niederlanden, bald darauf brennen Luthers Bücher. Am 28. November fordert Kaiser Karl V. vom sächsischen Kurfürsten, Luther solle zum Reichstag nach Worms gebracht werden. Am 10. Dezember verbrennt Luther die Bannandrohungsbulle und die Schriften des kanonischen Rechts; am 2. Januar 1521 wird der Bann endgültig verhängt. Es folgen die Ereignisse des Wormser Reichstags, die zum Vernichtungsedikt Kaiser Karls gegen Luther führen. Die mit äußerster Heftigkeit um und von Murner geführte Auseinandersetzung ereignet sich also in einer Zeit, da der Ausgang der Reformation alles andere als entschieden war; vielmehr schien das baldige Ende Luthers und der Sieg von alter Kirche und Kaiser absehbar. Frühneuzeitliche Briefwechsel von Akteuren und Beobachtern der Straßburger Situation bezeugen die enorme Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung, die ihr galt. Gemessen an den traditionellen Adressierungen der Sünder in Bußpredigt, des Höflings in höfischfazeter Herabwürdigung durch Konkurrenten um die Gunst des Fürsten, des Sängers in den Sängerfehden und des Mitmenschen in städtischen Lästereien gegen deviante Bürger ist eine solche kollektiv vorangetriebene, multimedial (in Text, Bild und Musik) ausgetragene, im überregionalen Druckmedium erfolgende, personal adressierte Herabwürdigung eine bis dato unerhörte Ehrverletzung. Wie sich die affektive Betroffenheit in die sprachliche Wucht des Gegenangriffs, die Flucht nach vorn entlädt, ist im Grossen Lutherischen Narren auf jeder Seite spürbar. Murner holt zum Gegenschlag aus, bedient sich dazu der Mittel von Text- und Bildpublizistik und überbietet alles, was seine Gegner gegen ihn vorbringen konnten in einer einzigartigen Amalgamierung von Sprechweisen und Textsorten.
Murner hat die Verhöhnung seines Namens als Katze Murrnarr in Text und Bild aufgenommen und sie sich offensiv angeeignet. Murner tritt als Katzennarr in Szene und bedient sich dieser Figur zur Entlarvung der Reformation in toto. Mit dieser radikalen Identifikation interveniert Murner in die polemische Praxis der Findung herabwürdigender Tiervergleiche für konfessionelle Gegner im Rahmen zeitgenössischer Publizistik und überbietet seine Gegner dabei in einem literarisch-bildnerischen Wettstreit.
Als monströser Kater bedrängt Murner exorzistisch das Luthertum, wird am Ende Luthers Tochter heiraten, sie aber wegen ihres stinkenden Grindes (d.i. scabies, Krätze) aus dem Brautbett jagen, die Bestattung Luthers in der Kloake unter Katzengeschrei veranlassen und übertrifft damit alles, was irgendeinem Feind noch zum Thema Murner und Katzen einfallen könnte. Die Übernahme der Verhöhnung als närrische Katze zielt auf die Annexion der polemischen Deutungs- und Sprachmacht, auf die Dominierung eines Diskurses von dem Murner zwischenzeitlich dominiert wurde und verändert somit grundsätzlich sein Verhältnis zum Diskurs der Anderen. Die Hassrede, die auf die Tilgung von Murners Diskurs zielte, wird angeeignet. Als Antwort auf die vertierende Polemik etabliert sich Murner selbst als Übertier, als Monster und als Bestie, die der Reformation entgegentritt und – auch angeregt durch die zeitgenössische Tierepik – in wilden Streichen die Gegner vorführt. Dabei adressiert Murner seine Gegner nicht seinerseits als Tiere; anstatt ihre Diskurse zu tilgen, macht er nun genau diese zum Gegenstand satirischer Entlarvung. Die kreative Anverwandlung der Fremdzuschreibungen wird besonders sinnfällig in den epischen Passagen der Satire ins Bild gesetzt. Im dritten großen Sturm versucht das große lutherische Bundschuh-Heer, niemand Geringeren als den Murrnarr selbst zu erstürmen, der sich mit den treuen Christen verschanzt hat und den der Holzschnitt als gigantische Franziskanerkatze im Verteidigungsgemäuer einer Festung zeigt (Abb. 3). Und dabei geht es um alles, denn Murner legt seinen Feinden folgende Verse in den Mund:

Künnen wir in nit bezwingen
So würt vnß nimer me gelingen
Er hindert vnß in allen dingen

Murner eignet sich also die von seinen Gegnern ins Spiel gebrachte Murrnarr-Rolle an und nutzt sie zur Abwehr und Aggression gegen seine Gegner.

Frage: Was heißt Narrenbeschwörung? Ermittlung der Sünden am Grunde der reformatorischen Reden

1512 erschien Murners berühmte Narrenbeschwörung. Eng an Sebastian Brants berühmtes Narrenschiff angelehnt, hatte auch er die verschiedenen Narren vorgeführt und ihnen mittels eines Exorzismus die Narrheiten ausgetrieben. Mit diesem Element hat Murner, wie insbesondere Barbara Könneker entfaltete, dem Brantschen Narren eine dämonisch-diabolische Dimension hinzugefügt. Dabei ist für den „Großen Lutherischen Narren“ wichtig, dass der Exorzismus nicht nur auf die Befreiung des Besessenen zielt, sondern vorab auf den Beweis seiner Besessenheit. Beschworen wird dabei ein Mensch, dessen Äußerungen und dessen Verhalten deviant aber auch ambivalent und schwer zu deuten sind. Im Zuge des Exorzismus wird der Dämon oder Teufel, der hinter den ambivalenten Eindrücken agiert, zur Kundgabe gezwungen: Er muss seine Identität und mithin die wahre Ursache hinter den mehrdeutigen Erscheinungen zeigen und nennen. In diesem Sinne ist der Exorzismus – ehe er als Befreiungsverfahren wirkt – zunächst ein Instrument der Wahrheitsfindung. Und in diesem Sinne fungiert er im „Großen Lutherischen Narren“. Murners Beschwörungen zielen auf die wahre Identität und die wahren Beweggründe des Lutherischen Narren. Murrnarr beschwört ihn mit dem Kauderwelsch narragonischer Barbarolexis:

Jch sprach in nomine domine
Coram nobis iudex curie
Henßlin/ grettus / constitutus
Emit/ vendit beck fututus
Jpse est bonorum specificatio
Jn narribus narratio

So geht es munter weiter, bis der große Lutherische Narr sich windet, worauf der Murrnarr ihn packt und die Beschwörung mit folgenden Worten fortsetzt:

Stant stil vnd reck kein ader nit
Du muͦst mich hie bescheiden mit
Vnd nit hie weichen von der stat
Mir sagen wer dich gemachet hat
Wer dein vatter / dein muͦter ist
Vnd warumb du gemacht bist
Auch warumb du bist also groß
Das selb du mich bald wissen loß.

In Murners Beschwörungen geht es also in einem ganz philosophischen Sinne um die Erkenntnis des wahren Wesens des Lutherischen Narrens, mithin um die Demaskierung von Täuschungen und Illusionen. So betrachtet sind Murners Beschwörungen als frühe Form sowohl einer Ideologiekritik als auch einer satirischen Entlarvung zu verstehen. Weiterhin aber geht es auch um Beschwörung im Sinne von Bannung: Der große Narr soll vertrieben werden. Hinzu kommt Beschwörung im Sinne von eindringlicher Bitte, etwas zu tun oder zu unterlassen, so werden beispielsweise die Eidgenossen beschworen, im alten Glauben zu verharren (was sie dann bereits kurze Zeit nach der Publikation des großen Narren doch nicht taten). Um nun aber präzisieren zu können, wie genau Murner mittels seiner neuen Kunst der Beschwörung operiert, ist jene Personifikation genauer zu umreißen, die von Murrnarr beschworen wird: der Lutherische Narr. Wofür steht er eigentlich?

Frage Wer ist der große Lutherische Narr? Die Reformation als Diskurs

Der Lutherische Narr ist nicht Martin Luther. Martin Luther selbst tritt in den epischen Passagen der Murnerschen Satire erst ab Vers 2113 des fast 5000 Verse umfassenden satirischen Versepos als der Hauptmann des großen Lutherischen Heeres auf. Außerdem wird Luthers Tod und seine Bestattung in der Latrine vor und separat von Tod und Bestattung des Lutherischen Narren erzählt. Der Text endet mit dem Streit um das Erbe des Lutherischen Narren.
Der große Lutherische Narr, der zu Beginn des Textes vorgeführt wird, ist ein Kollektivsubjekt reformatorischer Publizistik und ihrer Akteure. Mitunter nutzt Murner konkrete Intertexte, die er invertierend aufruft. Dabei generiert sich die närrische Rede aus rezenter Publizistik. Einschlägiges Beispiel sind die 15 Bundesgenossen, die der Murrnarr beschwört. Aus Luthers Leib kommen sie heraus und stellen sich vor. Sie entstammen einer Folge von 15 Druckschriften, die Eberlin von Günzburg 1521 veröffentlichte. Eberlin, ursprünglich Franziskaner wie Murner, schloss sich Luther an und positionierte sich mit diesen Schriften in den Kontroversthemen. Ich vergegenwärtige das nur kurz am dritten Bundgenossen. Bei Eberlin von Günzburg gilt dessen Rede den jungen Ordensschwestern in Klöstern. Er fordert Barmherzigkeit für die gefangengesetzten Frauen, adressiert insbesondere die Mütter, die ihre Töchter ins Kloster senden, und weist auf die vielfältigen Gefahren des Klosterlebens für das Seelenheil hin. Murners Bundgenosse hingegen äußert sich zum Thema wie folgt:

Jch bin selber hie doͤrfft euch nit segen
Von aller klosterfrawen wegen
Dan das herumb bucken th.uot
Me dan ein iunckfreuwlicher m.uot
Was sollen si gefangen ligen
Als die saw in einer stigen
Jn eignem schmaltz also verderben
Vil besser wer es man ließ sie gerben.

So wie hier in obszöner Rede wird in allen Bundesgenossen die Programmatik Luthers und seiner Anhänger invertiert, indem hinter den Berufungen auf die Freiheit ‚eigentliche‘ Beweggründe dargeboten werden. So wie im Falle der Klosterfrauen die Wollust den Sprecher reitet, so sind es in anderen Streitfragen die Völlerei, die Trunksucht, die Besitzgier. Murners Narrenbeschwörung ‚entlarvt‘ so hinter der Programmatik der Gegner die eigentlichen Motive, welche mit den Todsünden in Eins gesetzt werden. Dass die Bundesgenossen Eberlins von Günzburg dabei als „Bauchgenossen“ verballhornt werden, liegt in der Fluchtlinie dieser polemischen Strategie: Es sind Affekte und sündhafte Gier, welche ihre Reden begründen – nicht die Vernunft diktiert sie ihnen sondern vielmehr der gierige Bauch. Die vielen Narren, die aus Ohren, Taschen, Stiefeln und Wanst des großen Narren heraustreten, entfalten so eine Redevielfalt reformatorischer Positionen in satirisch-polemischer Gegenrede. Hier hat sich seit Brants Narrenschiff und Murners Narrenbeschwörung grundsätzlich etwas geändert. Adressiert werden im „Großen Lutherischen Narren“ weder Laster noch Vergehen der Menschen in bußpredigthafter Manier. Durch Murners Exorzismen wird vielmehr die Reformation als diskursive Formation besprochen, als Gesamtheit der Propositionen, der Medien, welche diese verbreiten, und der Machtstrukturen, die den Diskurs organisieren. Dieses Konstrukt wird im „Großen Lutherischen Narren“ allegorisch verkörpert, beschworen und am Ende (in der Bestattung des Narren) aus der Welt geschafft.

Ich komme zum Schluss. Wir konnten sehen, wie Murner mit dem „Großen Lutherischen Narren“ an Brants Narrenschiff und die eigene Narrenbeschwörung von 1512 anknüpft. Er hatte seinerzeit Brants Narrenparade um eine exorzistische Figur ergänzt, die nun mit Blick auf den Diskurs der Reformation als solchen neu funktionalisiert wird. Murner entfaltet seine satirische Rede diskursiv aus Programmatik und konfessionspolemischer Publizistik Luthers und seiner Anhänger. Dabei rekurriert er medienübergreifend auch auf alle in jüngster Zeit erschienenen Veröffentlichungen, die sich gegen ihn positionierten: Karsthans, Murnerus Leviathan, Flugblätter und Karikaturen, Schwänke über Murner und Bruder Stiefels Lied. Auch Eberlins von Günzburg Bundesgenossen enthielten Anspielungen auf Murner. Aus all diesen Elementen formt er einen Diskurs, den er in exorzistischer Verkehrung, in mutwilliger Inversion vorführt. Die reformatorische Rhetorik von Freiheit, Evangelium und Wahrheit denunziert er als allein auf Umsturz und Chaos gerichtete sündhafte Verblendung. Er entfaltet mithin gezielt einen Gegendiskurs zur Reformation. Er funktionalisiert dafür nicht nur die verschiedenen Rederegister, sondern bedient sich aus den Ressourcen literarischer Formen, indem er heldenepische und chronikale Erzählmuster, Schwankmären und Fastnachtspiele, groteske, grobianische und burleske Elemente integriert. Konfessionspolemische Replik und literarischer Wettstreit mit seinen Gegnern kommen dabei überein. Dem literarischen Sieg über die Gegner entsprach kein Triumph über Luther und die Reformation in der Wirklichkeit. 1521 konnte Murner noch nicht ahnen, dass sich seine Erwartung von Luthers Endes nicht erfüllen würde. Machtvoll setzte sich die Reformation des Glaubens in vielen Regionen durch und prägte weiterhin nicht nur die deutschsprachigen Länder.
Noch ein letztes Wort zum aggressiven Ton des Textes. Der äthiopische Prinz Asfa-Wossen Asserate, der der breiten Öffentlichkeit durch sein erfolgreiches Buch über Manieren bekannt ist, berichtete in einem Interview über einen bleibenden Eindruck, den ihm Deutschland vermittelte. Er erlebte, wie Gegner sich öffentlich in politischen Auseinandersetzungen bekämpften und hinterher friedlich ein Bier zusammen tranken. Diese Vorstellung des politischen Gegners überraschte ihn. In Afrika, berichtete er, habe man keine Gegner, sondern Feinde und das Ziel sei ihre totale Vernichtung. Zweifellos waren Luther und Murner so betrachtet keine Gegner, sie waren ultimative Feinde. In unseren Tagen nun scheint es so, als ob der zivilisatorische Gewinn, der mit politischer Gegnerschaft erreicht ist, leichtfertig aufgegeben wird, um durch Hassrede und Invektiven eine Kultur der Feindschaft zu befestigen. Heute fasziniert an konfessions-polemischer Hassrede des 16. Jahrhunderts vielleicht ihre Originalität und ihre rhetorische Wucht. Der furor der Vernichtung jedoch, der sich auch in ihr äußert, sollte uns befremden und uns veranlassen, hin und wieder ein gelassenes Gespräch mit unseren Gegnern zu führen.

Tobias Bulang: Tomas Murnrs konfessionspolemische Medienstrategien und ihre literarischen Traditionen. Von dem großen Lutherischen Narren, in: Massimiliano De Villa, Barbara Sasse (Hg.), Reformation des Glaubens, Reformation der Künste. Riforma della fede, riforma delle arti, Rom 2021, 63–79.