Feridun Zaimoglu – Biografisches von Magdalen Frank

„Siegfrieds Erben“

Für die Wormser Nibelungen-Festspiele 2018 verfassten Feridun Zaimoglu und Günter Senkel die Textvorlage. Mit ihrem Stück „Siegfrieds Erben“ bieten sie eine Fortsetzung des alten Nibelungenliedes und zeigen, wie die zehn Personen weiterleben, die das große Morden an Etzels Hof überstanden haben. Ute, Brunhild und ihr Sohn waren in Worms geblieben und leben dort zusammen mit dem Priester, der den Weg ins Hunnenland nicht geschafft hatte und zurückkehren musste. In Xanten gibt es Siegfrieds Eltern und deren zwei Enkel. Bei den Hunnen überlebten König Etzel mit Dietrich von Bern und dessen Waffenmeister Hildebrand das Inferno auf seiner Burg.

Alle Parteien betrachten sich als berechtigte Erben des Wormser Königshofs, und insbesondere Kriemhilds Witwer Etzel möchte an den im Rhein versenkten Nibelungenschatz. Um ihre Ansprüche anzumelden, ziehen sowohl Etzel mit seinem Gefolge als auch das Xantener Königspaar mit seinen Enkeln nach Worms.

Feridun Zaimoglu @ Arne List / wikimedia

Neben ihrer Machtgier werden alle Akteure von Rachegedanken beherrscht. Jeder von ihnen hat noch mindestens eine Rechnung bei den Anderen offen. Eine Fortsetzung des Mordens ist vorprogrammiert: Für den Heiden Etzel, von seiner unumschränkten Herrschaft überzeugt, fast eine Selbstverständlichkeit, aber auch für die christliche Welt, die Etzel in Worms vorfindet. Darüber staunt der Heide: Das aggressive Verhalten der Burgunden und Niederländer entspricht nicht dem, was er selbst von der Botschaft des Neuen Testaments weiß. „Dies Christenland bleibt mir eine ferne Gegend: Ihr liebt euren Gott, aber nicht eure Kinder“, bemerkt Etzel in der vierten Szene. Die Frage nach der fehlenden Mutterliebe leitet das Stück ein – und beendet es.

Das Grauen, das schon im mittelhochdeutschen Epos gezeigt wird, geht nun weiter. Die Alten infizieren die junge Generation mit ihrem Gift: „Sie spinnen uns ein in ihre alte Welt“, sagt der junge Burkhardt zu seiner Kusine Swanhild. Diese gibt vergiftete Speisen an die hunnischen Feinde weiter – und vergiftet, ohne es zu ahnen, auch ihr eigenes Heer. Eine Feuersbrunst vernichtet wie zu Beginn des Stücks die Leichenberge.

Fünf Menschen überleben diesmal das Fiasko: Etzel, seine zwei Gefolgsmänner Dietrich und Hildebrand (der jedoch irre geworden ist) und Etzels Schamanin. Auf christlicher Seite bleibt nur Burkhardt am Leben, Brunhilds Sohn. Wegen seines Mutes und seiner Klarsicht wird er von Etzel zu seinem Nachfolger erklärt.

Durch alle Szenen zieht sich als Zentrum der Machtfrage die Kontroverse zwischen Heidentum und Christentum. In der Erfahrung eines fehlenden Gottes wird die Kontroverse jedoch wieder neutralisiert. Alle – bis auf den von sich selbst absehen könnende Burkhardt – sind böse. Der Zerstörungsprozess wird anhand emotionaler Kräfte und Verhaltensweisen der einzelnen Figuren wie Missachtung, Trauer, Angst, Wut, Verrat, Rache, Gier, Mord gezeigt. Mit Schillers Don Carlos möchte man ausrufen: „Gibt es keinen Gott? Was? Dürfen in seiner Schöpfung Könige so hausen?“ („Don Carlos“, 5. Akt, 4. Auftritt)

Ein weiterer Schwerpunkt von „Siegfrieds Erben“ liegt auf den Vorstellungen von Sippe, Treue, Mut. Dies wurde ebenfalls schon im Nibelungenlied in ähnlichen Bildern dargestellt.

Günter Senkel studierte Germanistik und war Buchhändler. Von seiner Ausbildung her ist es naheliegend, dass er sich mit deutscher Literatur befasst. Nicht aber so bei Feridun Zaimoglu, einem im anatolischen Bolu 1964 geborenen Gastarbeitersohn, der seit 1984 in Kiel wohnt. Was hat ihn dazu geführt, sich deutschen Dichtungen wie dem Nibelungenlied anzunehmen, und das „mit großer Lust“, wie er sagt? Ein Blick auf seine Biografie kann Antworten geben.

Identität und Herkunft

Will man dem Autor Zaimoglu gerecht werden, empfiehlt es sich, sich von gewissen Denkschablonen zu lösen. Spekulationen über eine eventuelle Nationalitäts- oder Religionszugehörigkeit helfen im Fall Zaimoglu nicht weiter: Er selbst denkt und handelt nicht nach festgelegten Kategorien.

Feridun Zaimoglu ist, was er betont, ein Deutscher, auch wenn er in Anatolien geboren und als Kind immer wieder von der Türkei nach Deutschland und zurückverfrachtet wurde. „Ich bin ein etwas später hinzugekommener Deutscher“, sagt er. „Hier bleibe ich, hier will ich begraben werden.“ Und: „Ich kann einfach sagen, Deutschland ist meine geliebte Heimat. Vor allem der Norden. Ich will hier nicht weg. Ich liebe den düsteren Himmel, das fahle Licht und die etwas herben Menschen. Ich liebe auch die Sprache. Meine Dichtung, meine Quellen, ja meine Düsternis ist deutsch.“

Seinen Familiennamen möchte er deutsch ausgesprochen haben, also so, wie man ihn schreibt und nicht „Seimohlu“, wie er auf Türkisch heißen würde. „Meckerer an der deutschen Aussprache meines Namens sind Herkunftsspießer“, meint er.

Die Frage nach einer Identität stellt sich für Zaimoglu nicht: „Identität ist der Tofu der Lemminge.“ Oder: „Auf die Ethnie beziehen sich die Ausgebremsten.“ Er verwahrt sich gegen Festlegungen von außen: „Ich bin nun mal keine starre Kreatur mit einer ewig gleichen Sprechblase überm Haupt.“ – „Ich bin ein altmodischer Geschichtenerzähler, ein Unterhalter. Ich schreibe über Empfindsamkeit, über Romantik, über das brennende Verlangen, die Liebe.“

Über seine Herkunft berichtet er in „Kopf und Kragen“: „Meine Mutter ist Tscherkessin und kommt aus dem Kaukasus. Ihre Sippe entkam nur knapp der Deportation nach Sibirien(…). Mein Vater wiederum gehörte der dritten Generation der Balkanflüchtlinge an, die sich nach der Weltkriegsniederlage und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches in das türkische Kernland aufgemacht hatten. Ich bin im anatolischen Bolu geboren, meine achtzehn Monate jüngere Schwester ist gebürtige Berlinerin.“ Und er fragt: „Kann man vor solch immensen Zeitzäsuren und biografischen Brüchen noch von einer einzigen Identität sprechen, die alle Altersklassen in der Geschlechterfolge in Haft nimmt?“ So bezeichnet er sich hinsichtlich seiner Herkunft als „Schlammblut“.

Ausbildung und Erziehung

Feridun Zaimoglu ist in einem Hin und Her zwischen der türkischen und der deutschen Kultur aufgewachsen. 26 mal ist er mit seinen Eltern umgezogen, was für den Jungen einen turbulenten Bildungsweg mit sich brachte: Einschulung in Ankara, nach vier Schuljahren Umzug nach München-Moosach, wo Zaimoglu intensiv Deutsch lernt. Als er 13 Jahre alt ist, kehrt die Familie nach Ankara zurück, Zaimoglu besucht dort zwei Jahre lang die Schule der Deutschen Botschaft. Mit 15 macht er sich alleine auf nach Nienburg, wohnt dort bei Verwandten des Vaters und absolviert die zehnte Klasse. Als 16-Jähriger geht er zur Familie zurück nach Istanbul und dort in ein privates österreichisches Gymnasium. Er schwänzt die Schule und droht zu scheitern. Beruflich geht es dem Vater nicht gut, die ganze Familie zieht wieder nach Deutschland, jetzt nach Bonn. „Mein Vater eröffnete dort ein Übersetzungsbüro und hat damit auch sein Auskommen gefunden. Ich ging wieder in die Schule – und diesmal habe ich richtig Gas gegeben, das Abitur wie ein Streber mit der Bestnote gemacht.“ Notendurchschnitt: 1,0. Eine Tat, die Zaimoglu heute so bewertet: „Diese Note war meine eigene Blödheit, meiner Mutter zuliebe.“ Denn: „Was nützt das Streberhafte, wenn man sonst keinen blassen Dunst hat?“

Als Kind war er schüchtern, stumm, ja, er stand kurz davor, in eine Sonderschule eingewiesen zu werden. „Ich war ein evakuiertes, zungenbetäubtes Kind in einem Wunderland. Alles um mich herum war Spielfilm“, erinnert sich der Autor an seine ersten Jahre in Deutschland. Er beschreibt, wie er Deutsch lernte: „Nicht Adams Aprikose, nicht Adams Birne – Adams Hals beulte ein kleiner Apfel aus, und also starrte ich auf die vier Apfelschnitze auf dem Nachtischteller, und ich stellte mir vor, wie sich diese Schnitze zum ganzen Apfel fügten und wie Herrn Adam ebendieser Apfel knapp unterhalb der Kinnlade herauswuchs.“ Diese Erinnerung zeigt das Denken und Empfinden des achtjährigen Kindes und seinen ganz eigenwilligen Umgang mit der neuen deutschen Sprache.

Wenn sich Feridun Zaimoglu heute in Integrationsdebatten einmischt, dann stellt er an die Fremden, die in Deutschland bleiben wollen, nur eine einzige Forderung: „Lernt die deutsche Sprache.“

Die Eltern Zaimoglu taten alles, damit ihren beiden Kindern die Integration in Deutschland gelingen möge. Obwohl zuhause Türkisch gesprochen wurde, verboten die Eltern ihren Kindern den Umgang mit anderen türkischstämmigen Altersgenossen. Erzogen wurden Feridun und Belhe allerdings nach streng osmanischer Sitte, was bedeutete, dass die Kinder ihre Eltern mit „Sie“ ansprachen, dass sie in Gegenwart der Eltern die Beine nicht übereinander schlugen und immer aufstanden, sobald die Eltern den Raum betraten. Kam eine Frau ins Zimmer, erhob man sich. Und: „Schlägt ein Mann eine Frau, so geh hin und brich ihm die Hand.“ Feridun Zaimoglu gesteht, dass er diese drakonische Strafe schon selbst angewandt hat.

Scheitern

„Wer in einer Klimazone der Unterschichtskräfte aufwächst, hat sich für sein späteres Leben eins vorgenommen: Er will und wird nicht auf halber Strecke verrecken, um Gottes Willen, nein“, schreibt Zaimoglu 2001 in seinem „Kanak-Kultur-Kompendium“ „Kopf und Kragen“. Doch genau zu einem solchen „Verrecken auf halber Strecke“ ist es bei ihm gekommen. Trotz Einser-Abitur, trotz guter Noten im Medizinstudium, das er zugunsten eines Kunststudiums nach dem Physikum abbrach, er landete, nachdem ihn die Kieler Kunstakademie zweimal hinausgeworfen hatte, im Abseits.

Mit Ende 20 hatte er nichts. Keine Aufenthaltserlaubnis, kein Einkommen, nur ein paar Freunde, die ihn einluden, wenn sie mit ihm einen Kaffee trinken wollten. Mit diversen Jobs hielt er sich notdürftig über Wasser: Als Leichenwäscher in einer Moschee, als Schächter im Schlachthof, als Pfannen- und Tellerwäscher und als Landvermesser. Seine bisherigen Anstrengungen, die Anstrengungen seiner Eltern – alles hatte er in den Sand gesetzt: „Meine Eltern wollten immer, dass es uns eines Tages nicht nur besser, sondern viel besser gehen sollte als ihnen selbst. Deshalb hatten sie alles Geld in unsere Bildung investiert. Nun fühlte ich mich wie ein undankbares Schwein, das alles zunichte gemacht hat. Es war furchtbar. Aber es ging nicht anders“, sagt Zaimoglu.

Dabei hatten es die Eltern vorgemacht, wie es geht, rauszukommen aus dem Pferch: Die Mutter war anfangs Putzfrau und am Ende Angestellte bei Woolworth, der Vater begann als Gerber in einer Lederfabrik und arbeitete später als Übersetzer für die türkische Botschaft.

Feridun Zaimoglu teilt seiner Umwelt indirekt schon recht früh mit, was ihn wirklich interessiert: Es ist das Lesen, es sind die Bücher: „Ohne Bücher würde ich mir die Kugel geben. Die Bücher waren meine Rettung. Bei uns herrschten Arme-Leute-Verhältnisse. Die Realität war fürn Arsch. Man verätzte, wenn man sich der Realität aussetzte. Meine Eltern waren verwundert über meine Leserei. Doch sie ließen mich machen“, sagt er.

Heute liest er meistens Gedichte, weniger Prosatexte, da aber deutsche Märchen, Sagen und Legenden besonders gern. Als Lieblingsdichter nennt er: Alfred Döblin, Franz Kafka, Josef Roth, Gottfried Benn, Patrick Roth, Friedrich Dürrenmatt, Johannes Bobrowski, Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Rainer Maria Rilke, Stefan George, Anne Sexton, Sylvia Plath – und: Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen. Seinen „Simplicissimus“ habe er „intravenös“ in sich aufgenommen. In dieser Geschichte aus der Zeit des 30-jährigen Krieges hat er sich selbst verorten können, sich selbst und die „verätzte Realität“ ringsum.

Wut und Mut

Um 1994 herum beginnt der „doppelte Studienabbrecher“, „der zweifach ausgewiesene Versager“, wie sich Feridun Zaimoglu als Gastprofessor an der FU Berlin 2007 seinen Studenten vorstellt, mit dem Schreiben. In den Jahren davor hätte er ab und zu mal ein paar Liebesgedichte geschrieben, die seien aber schlecht gewesen und weggeworfen worden. Nun schreibt er Prosa, doch auch hier folgt er, wie in den Liebesgedichten,

seinem Gefühl: Jetzt ist es die Wut, die sein Schreiben bestimmt. Schon die Titel seiner ersten Veröffentlichungen lassen dies erahnen:

„Kanak Sprak. Mißtöne vom Rande der Gesellschaft“
„Abschaum. Die Geschichte von Ertan O.“
„Koppstoff“
„Liebesmale, scharlachrot“
„Kopf und Kragen“
„German Amok“

All das sind „Großgedichte der Wut und der Selbstvergewisserung“, wie Volker Weidermann in seiner „Geschichte der deutschen Literatur seit 1945“ schreibt.

Die Wut Zaimoglus geht so weit, dass auch die geliebte deutsche Sprache verhackstückt und verstümmelt wird und sowas wie eine Rap-Kunstsprache entsteht: „Was soll überhaupt dies pomadenschiß von deutsch-is-nummer-eins-was-gibt!“ („Kanak Sprak“)

Seelische Verstümmelungen bei jungen Deutschtürken sind das Thema des Briefromans „Liebesmale, scharlachrot“. Bei einem der Briefschreiber haben die seelischen Verletzungen eine sexuelle Impotenz zur Folge.

Heute, wo die Schmerzen von damals nachgelassen haben, kann der Autor diese frühe Phase seines Schreibens von einer lässig-heiteren Seite betrachten: „Ich zog los, einen wunderbar misch-maschigen Halbstarkenradau anzuzetteln, getrieben von der Unrast der Bastarde, gepeitscht vom Schalkdämon im Busen, fein- und feschgemacht im prunkigen Halunkenlook.“

Zaimoglu beginnt seine Laufbahn als Schriftsteller mit einer Übertretung eines Verbots: Er tut genau das, was schon früh von den Eltern verhindert worden war, er geht zu den jungen Türken, zu den Gastarbeiterkindern, er spricht mit ihnen. Er findet bei ihnen die Wut, die auch er in sich trägt. Er veröffentlicht in künstlerisch abgewandelter Form, was ihm seine türkischstämmigen Altersgenossen berichten. Indem er dieses alte Verbot übertritt, zeigt er Mut – auch wenn dieser aus der Verzweiflung geboren ist. Und er hat, zu seinem eigenen Erstaunen, Erfolg mit seinen Büchern, obwohl sich die deutsche Öffentlichkeit zunächst entsetzt zeigt. Die Eltern Zaimoglu sind es wirklich. „Mutter, ich habe dich enttäuscht“, betitelt der zeichnende Autor später ein Portrait seiner Mutter.

Sehnsucht, Aushalten der Wahrheit, Liebe

Feridun Zaimoglu kann nun mit seinem Schreiben seinen Lebensunterhalt verdienen. Er öffnet sich der Poesie, er verfasst Erzählungen über die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, nach dem Einfachen inmitten einer kapitalisierten Bedürfnisbefriedigung. Mit der Erzählung „Häute“ reist er 2003 nach Klagenfurt und gewinnt den Preis der Jury des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. Kritiker sind begeistert: „Schon bald wird es erste Dissertationen über sein Werk geben“, meint Nils Minkmar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die preisgekrönte Erzählung ist eine von zwölf Geschichten des Bandes „Zwölf Gramm Glück“. Sieben davon spielen in Deutschland, fünf in der Türkei: Feridun Zaimoglu nähert sich dem Land seiner Ahnen.

Nach seinem Erfolg in Klagenfurt fragt die Mutter ihren Sohn, ob er denn glücklich sei als Schriftsteller. Zaimoglu: „Was konnte ich ihr antworten? Ich war Gott dankbar, dass ich Bücher schreiben konnte.“ Nach einer Pause sagt die Mutter dann nur diesen einen Satz: „Ich möchte, dass du mein Leben aufschreibst.“ Der Mut des Sohnes, der sich ihr in seinem Schreiben gezeigt hat, überträgt sich auf sie. Die Mutter entwickelt die Kraft, hinzusehen auf die Wahrheit, auf ihre Kindheit und Jugend in der Türkei, die aus einer Kette von Verrat, Betrug und Gewalt bestanden. Aber auch aus einer großen Liebesfähigkeit und Liebessehnsucht. Sie bespricht unzählige Tonbänder mit ihren Erinnerungen für ihren Sohn.

Daraus entsteht 2006 der Roman „Leyla“, ein Buch, in dem der Sippengedanke und eine unheilvolle Treue ebenfalls eine Rolle spielen. „Ich habe zwei Monate gebraucht, um mich von der Arbeit an `Leyla´ wieder zu erholen, ich war bis an die Grenze der Belastbarkeit gegangen“, erinnert sich der Autor. „Ich bin mit all diesen Schauermärchen aufgewachsen, auch ich bin infiziert, auch ich bin versengt und verbrannt“, betont er. Diese „Schauermärchen“ bestehen in unvorstellbaren Gräueltaten in der Familie der Mutter: Zaimoglus Großmutter wurde vor ihrer Flucht aus dem Kaukasus als junge Frau von russischen Soldaten mehrfach vergewaltigt. Sie bekommt ein Kind, eine Tochter. Später wird diese von ihrem gewalttätigen „Ziehvater“, Zaimoglus Großvater, selbst missbraucht. Auch sie bringt ein Kind zur Welt, das aber kurz nach der Geburt von seinem Erzeuger getötet wird. „Von diesen Lügen war die Mutter fortgekommen, sie hatte sich dem Zugriff der blutsüchtigen Blutsäufer entzogen, sie hatte die Familie verlassen“, sagt Feridun Zaimoglu und spricht hier über seine eigenen Vorfahren.

Es wird klar, dass sich die Familie Zaimoglu nicht nur des Geldverdienens wegen nach Deutschland aufgemacht hat. Sie wollte einer Atmosphäre der Demütigungen und Vernichtungsversuche entfliehen. Von Beginn an sind die Eltern von einer Liebe zu Deutschland durchdrungen: „Meine Mutter und mein Vater hatten mir diese Liebe als Kind eingeimpft, sie waren in den 1960ern aus den alten Verhältnissen herausgebrochen und nannten die ersten schwierigen deutschen Jahre als den Beginn eines schönen Lebens.“

Angst, Trauer, Einsamkeit

Die altbekannte Wut sei immer noch da, sagt Feridun Zaimoglu, „aber es ist Vieles hinzu gekommen: Die Lust zu erzählen, Sinn für Schönheit, die Fähigkeit, Abstand zu halten.“

2006 überleben Feridun Zaimoglu und seine Mutter nur knapp ein schweres Busunglück in der Türkei, bei dem die meisten Passagiere starben. Die Begegnung mit der Todesangst verarbeitet Zaimoglu in seinem Roman „Liebesbrand“. Seinem „besten Freund“ Günter Senkel setzt er in diesem Buch mit der Figur des Gabriel ein literarisches Denkmal.

Die Romane „Liebesbrand“, „Hinterland“ und „Ruß“ erscheinen zwischen 2008 und 2011 und gehören zusammen. In „Liebesbrand“ führt eine große Angst in eine noch größere Liebe. Diese wird aber abgewiesen. Der Autor flüchtet sich in dem darauffolgenden Buch „Hinterland“ in eine Traumwelt, „in Stimmungsbilder von Gedichten“, wie er einmal sagt. Dieses Träumen zieht ein Einsamkeitsgefühl und eine Trauer nach sich, die die Geschichte von „Ruß“ dominieren: „Jeder lebt da in seiner eigenen Welt und ist nur empfänglich für die eigenen Laute“, sagt der Autor über diesen Roman.

Glaube, Gnade, das Gute

Wie „Siegfrieds Erben“ zeigen Zaimoglus vielfach ausgezeichnete Prosawerke eine gottlose Welt. „Ja, hört denn niemand das Hohe Lied heraus? Die Klage über den abwesenden Gott? Mein Schreiben ist keine Anklage gegen die Gesellschaft – welch großes Mißverständnis“, sagt Zaimoglu. Und doch untergraben lebensfeindliche Gefühle und Taten einiger seiner Protagonisten die Würde des Menschen und lassen Beängstigendes und Dämonisches zu. „Gegen die Dämonen hilft nur der Allmächtige“, sagt Feridun Zaimoglu. Er glaubt an einen Gott. Es ist ihm, als einem „nicht mehr praktizierenden Moslem“ jedoch gleich, in welcher Religiosität dieser „Allmächtige“ gedacht wird.

Gottesglaube und die daraus resultierende Fähigkeit zur Bewältigung von Unmenschlichem durch das Schreiben: Dieses Bemühen gibt es in der Biografie des Schriftstellers Zaimoglu. Und auch in der Biografie Martin Luthers, besonders in dessen frühen Jahren. Zaimoglu hat sich mit dieser Lebensphase des Reformators intensiv beschäftigt: „Martin Luther war ein großer Geist, ein mutiger Mann, ein Streiter für das Wort Gottes“, sagt er. Und: „Luther glaubte an die Freiheit des Christenmenschen, an das Evangelio. Nur durch das Evangelium, die frohe Botschaft, gelangen wir zur Gnade.“ Zaimoglus Luther-Studien münden 2017 in den Roman „Evangelio“.

„Das Gute, das Schöne vertreibt das Böse. Es kann Leid leichter machen. Es gibt Licht und Dunkel. Jeder hat es in sich. Jeder macht es selber, das Gute oder das Niederträchtige“, lautet Zaimoglus Credo.

Für den Autor persönlich liegt das Gute im Schreiben: „Ich gehe hinaus, ich werde zur Rauchgestalt, ich setze mich an die Schreibmaschine, ich verfestige mich, ich erstelle etwas täuschend Echtes. Besser werden, gut werden. Das ist mein Wunsch. Wann wird es mir gelingen? Wenn ich schreibe, als würde ich ein altes Volkslied singen.“

Feridun Zaimoglu und das Nibelungenlied

Das Leben und Wirken des Dichters Zaimoglu ist durchdrungen von Kräften, die sich im Nibelungenlied wiederfinden und die die große Affinität des modernen Autors zu dem alten Stoff einleuchten lassen. Verletzung, Verrat, Scheitern, Wut, Zorn, Grenzüberschreitung, Angst, Schmerz, Sehnsucht, Mut im Blick auf die grausame Wahrheit, Trauer, Einsamkeit: Diese Gefühle erscheinen weder im Nibelungenlied noch in Zaimoglus Werken als belanglose Begleiter der Handlung, sondern sie erweisen sich in beiden Fällen als tragende Elemente. Dem entsprechend empfindet Zaimoglu die alte Dichtung: „Das Nibelungenlied zeigt die manifestierte Angst in einer schutzlosen Welt. Es zeigt das Böse, das bedeutet, anderen Menschen zu schaden, sie zu quälen. Psychologisch gesehen beinhaltet die Nibelungen-Geschichte eine Emanation der Wünsche, Tagträume, Triebe. Sie bietet eine Verfestigung all dieser inneren Bilder, der verborgenen Triebe, die einen, unabhängig von sich, anfallen und bewohnen.“

Quellen:
Wikipedia: Feridun Zaimoglu
Munzinger-Archiv online: Feridun Zaimoglu
Karin E. Yesilada: Feridun Zaimoglu, in: KLG 6/10, 95 NLg
Pressemappe: Feridun Zaimoglu vom Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Interview mit Feridun Zaimoglu am 19. April 2018 in Worms