Dr. Ellen Bender: „‘frouwen ziehen‘. Der Königinnenstreit aus genderorientierter Perspektive“

Im Mittelpunkt meiner Interpretation steht die enge Verbindung von geschlechtsspezifischer Figurenkonzeption und Textstrategie. Meiner These zufolge sind die Erzählstrukturen des Nibelungenlieds, insbesondere der Frauenstreit, eng mit den unterschiedlichen Entwürfen von Männlichkeit und Weiblichkeit verbunden.

Gender als Analysekategorie im Nibelungenlied

Gleich zu Beginn des Nibelungenlieds wird uns die höfisch erzogene Kriemhild in allen Handschriften mit Ausnahme von C, D und d als erste Rollenfigur vorgestellt: „Ez wuohs in Burgonden ein vil edel magedîn…“ Die Fokussierung auf die weibliche Hauptgestalt ist für ein Werk in heldenepischer Tradition keineswegs selbstverständlich. Kampfhandlungen (wie beim Sachsenkrieg oder am Hunnenhof) dominieren nämlich die Heldenepik. Sie formieren eine um männliche Protagonisten geprägte Sphäre, in der den Frauenfiguren traditionell nur eine marginale Bedeutung zukommt: Frauen sind ja aufgrund ihres Geschlechts nicht wehrfähig und deshalb aus dem Bereich des Kampfes ausgeschlossen. Dennoch nimmt Kriemhild eine zentrale Stellung im Text ein. Deren lange Zeit negative Wertung lässt sich vor allem auf die Weiblichkeitsvorstellungen ihrer Interpreten zurückführen. Schon im Mittelalter des 13. Jahrhunderts wurde die ungehorsame, aufmüpfige Ehefrau eine übeliu Kriemhilt gescholten – wie in Sibotes „Frauenzucht“.i

Streit der Königinnen, Wandbild auf der Drachenburg, Frank Kirchbach, um 1884

Bis in unsere 1970er Jahre ging man von einer nahezu unveränderlichen Bestimmung des Weiblichen aus. Die rächende Kriemhild passte nicht zum universell gültigen „Sein der Frau“. Gegen solche Vorstellungen von einem unveränderlichen Wesen der Geschlechter wendet sich die moderne Unterscheidung zwischen biologisch fundiertem Geschlecht (sex) und den soziokulturell konstruierten Geschlechterzuschreibungen (gender). Gender ist eine gesellschaftliche Konstruktion. Eine genderorientierte Erzähltextanalyse versucht, Erzähltexte aus dem geschlechterspezifischen Blickwinkel zu interpretieren.

Genderorientierte Studien zum Nibelungenlied

Die Frauenfiguren im Nibelungenlied werden aus einer neuen Perspektive betrachtet.ii

Jerold Frakes iii setzte 1994 erstmals anhand der Kategorie gender das Geschlechterverhältnis im Nibelungenlied in Beziehung zu den Macht- und Besitzverhältnissen der im Text konstruierten Gesellschaftsstrukturen. Die Kontrolle von Besitz sei ein zentraler Punkt bei der Artikulation der Geschlechterbeziehung, da den Frauenfiguren im Nibelungenlied zwar partiell Machtmöglichkeiten offen stünden, politische Macht und Autorität jedoch – neben der Beeinflussung des Ehemannes – nur über materiellen Besitz ausgeübt werden könnten. Frakes beschreibt, wie sich die Frauenfiguren des Nibelungenlieds gegen das patriarchale System stellen, indem sie um ihren Besitz kämpfen. Das tun sowohl Brünhild bei ihrem Abschied von Isenstein, – als sie nur unter Widerstand Teile ihres Vermögens und ihres Hofstaats mitnehmen kann-, als auch Kriemhild bei ihrer Erb- und Hortforderung, während die männlichen Figuren sie enteignen und damit entmachten wollen.

Stephanie B. Pafenbergiv rückt in ihrer Analyse 1995 erstmals auch die geschlechtsspezifische Konstruktion der männlichen Hauptfiguren in den Vordergrund. Sie arbeitet mit dem schon lange in der Forschung konstatierten Gegensatz zwischen heroischen und höfischen Normen und verbindet diese mit zwei verschiedenen Modellen von Männlichkeit. Das höfische Modell sei durch seine Anbindung an den Frauendienst auf Gewaltverzicht angelegt, während das heroische auf Gewaltausübung zum Zwecke der Machtgewinnung basiere. Im Nibelungenlied repräsentiere der angeblich friedliebende Gunther das höfische Männerbild, da er während des Sachsenkrieges bei den Frauen am Hof zurückbleibe. Im zweiten Teil des Textes setze sich das Konzept des Kriegers durch, welches Männlichkeit als gewaltgeleitete Herrschaft über Körper und Eigentum bestimme (heroische gender-Definition).

Weiterhin ist das Buch von Maren Jönsson (2001) hervorzuheben: „Ob ich ein ritter waere“.v Sie deutet die Genderentwürfe der Einzelfiguren im Nibelungenlied als soziale Konstruktionen, wodurch eine Gesellschaftskritik ersichtlich werde.

Kerstin Schmittvi fokussiert 2002 das genderspezifisch geprägte Verhältnis der weiblichen Hauptfiguren zu ihren Personenverbänden. Das Nibelungenlied führe anhand der Kriemhildfigur vor, welche Loyalitäts-Konflikte die Position der Ehefrau im patriarchalen Verwandtschaftssystem beinhalte. Kriemhild stehe tendenziell zwischen ihrer Familie und ihrem Ehemann, und zwar sowohl in ihrer Ehe mit Siegfried als auch in ihrer Ehe mit Etzel.

Auch Jan-Dirk Müller vii sieht die Konzeption der Figuren durch ihre enge Anbindung an einen Personenverband geprägt, dessen Strukturen und Regeln an die adligen, patriarchal organisierten Verwandtschaftsverbände des frühen Mittelalters erinnern. Müller bestimmt (1998) den Personen- bzw. Herrschaftsverband als den eigentlichen Handlungsträger des Nibelungenlieds. Dieser Personenverband basiere auf den personalen triuwe (Treue)-Bindungen zwischen Verwandten und friunden, die jedoch bereits durch lehnsrechtliche Verpflichtungen überlagert würden. viii

Aus genderspezifischer Sicht ist zu ergänzen, dass Männer und Frauen auf unterschiedliche Weise in den Personenverband eingebunden sind.

Die Bindung der Frau an den Herrschaftsverband konstituiert sich zumeist über die patriarchale Ehe, die den Wechsel von einem Familienverband zu einem anderen beinhaltet. Die Positionierung der Frauenfiguren im Nibelungenlied dient derHerrschaftskonsolidierung und Erweiterung der Personenverbände,die beiden Ehen Kriemhilds genauso wie die Ehe Gunthers mit Brünhild. – Man(n) heiratet zum Ruhm der Dynastie! Die feudaladlige Eheschließungspraxis, die der Frau kaum einen Handlungsspielraum lässt, beinhaltet Konflikte. Im Nibelungenlied kommt es zweimal zu folgenschweren Konflikten zwischen den durch Kriemhilds Eheschließungen verbundenen Verwandtschaftsgruppen (Burgonden – Niederländer; Burgonden – Hunnen). Die Eheschließungen im Nibelungenlied setzen die Katastrophe in Gang. – Sie beginnt mit dem

Königinnenstreit (in der 14. Av.). Er ist der Brennpunkt.

Der burgundische Hof hatte das Xantener Ehepaar Siegfried und Kriemhild zu einem großen Fest nach Worms an den Rhein geladen. Brünhild hatte nach Jahren des Grübelns über Siegfrieds Standesidentität und seinen unterbliebenen Dienst die Einladung initiiert. Während der Festlichkeiten wartet Brünhild nun auf eine Gelegenheit, die Wahrheit über Siegfrieds personalen Status in Erfahrung zu bringen. Sie rätselt nach wie vor: „wie treit et alsô hôhe vrou Kriemhilt den lîp?“ (724,2: „Wie kann eigentlich Frau Kriemhild so stolz sein?“) Am elften Tag der hôhgezîte kommt es zur Konfrontation der beiden Königinnen Kriemhild und Brünhild. Die Bedeutung des Frauenstreites hebt der Erzähler bereits einleitend hervor. Beider Frauen nît (Feindschaft) wird als Ursache der Untergangskatastrophe angeführt: si sturben sît jâmerlîche von zweier edelen frouwen nît (6,4) Auch der Erzählerkommentar in 876,4 führt das Untergangsgeschehen auf den Frauenstreit zurück: von zweier vrouwen bâgen wart vil manic helt verlorn. (Durch den Streit zweier Frauen kamen viele Kämpfer ums Leben.)

Die Auseinandersetzung zwischen den beiden adligen Damen beginnt während eines Turniers im Burghof. Beide sitzen zur vesperzîte (814,1) vertraulich beisammen und schauen zu, wie die Männer sich mit ritterschefte (814,3) vergnügen. Kriemhild bewundert die überragenden Qualitäten ihres Mannes Siegfried beim Ritterspiel und verbindet damit einen übergreifenden Herrschaftsanspruch: „ich hân einen man, daz elliu disiu rîche ze sînen handen solden stân (815,2-3: „Ich habe einen Mann, dem alle diese Reiche untertänig sein müssten.“) Ihre Worte werden zum Auslöser des Streits. Kriemhilds Lob, das den Geliebten verherrlicht, könnte als Machtanspruch verstanden werden. Demgegenüber konstatiert Brünhild Gunthers Vorrang: Siegfried könne, solange Gunther am Leben sei, nicht der Ranghöchste sein (816). Kriemhild fährt mit ihrer Gattenschwärmerei fort, Brünhild beharrt auf ihrer Behauptung, Gunther müsse der Ranghöchste sein. Ein zunächst harmlos wirkendes Prahlen um die Tugenden der Männer weitet sich zu einer existenziellen Auseinandersetzung aus. Der Rangstreit um die Männer ist dabei untrennbar mit dem Rangstreit um die eigene Person verbunden, der die öffentliche Auseinandersetzung regelrecht fordert.

Wichtiger als die vieldiskutierte Frage, ob Kriemhild in naiv-stolzer Gattenbewunderung oder als gezielte Provokation den Streit in die Wege leitet, ist der bemerkenswerte Genderentwurf, dass sich hier zwei Frauen in einem Streitgespräch gegenüberstehen und latent gegebene, aber von den Männern verschwiegene Kontroversen und Konflikte bloßlegen wollen.

Kriemhild nimmt dann ihre Gattenschwärmerei etwas zurück und betont Siegfrieds Ebenbürtigkeit Gunther gegenüber (819,4: „Glaub mir, Brünhild, er ist Gunther ebenbürtig“). Sie rührt damit unbewusst an eine für Brünhild existenzielle Frage. Eine Ebenbürtigkeit ist für die Wormser Königin angesichts der Vorfälle auf Isenstein ausgeschlossen. Unter Berufung auf das dortige Werbungsgeschehen formuliert sie Siegfrieds Status eines Dienstmanns: des hân ich in für eigen, sît ich in hôrte jehen (821,3: „Ich halte ihn für einen Eigenmann, weil ich es ihn sagen hörte.“) In ihrer Funktion als Feudalherrin erhebt sie Anspruch auf Siegfried als ihren eigenman. Kriemhild reagiert auf Brünhilds entehrende Worte auffallend ruhig, bezieht aber den Vorwurf sogleich auf sich selbst: Sie könne nicht die Frau eines Eigenmannes sein; ihre Brüder hätten sie niemals mit einem eigenman vermählt (822). Sie bittet Brünhild um die Beendigung des Geredes (822,3f.). Brünhild aber verschärft den Konflikt. Sie fordert die Dienstleistung von Siegfrieds Ritterschar (823). Diese Provokation stellt ganz bewusst die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Worms und Xanten und die triuwe-Bünde auf den Prüfstand; sie will eine Parteinahme herbeirufen, die Klarheit über den Sachverhalt verschaffen soll. Kriemhild reagiert zornig (823,4). Indem sie die ausgebliebenen Zinszahlungen thematisiert, macht sie deutlich, dass Siegfried Gunther nicht zum Dienst verpflichtet ist. Er sei auch ranghöher als Gunther (824f.). In einer ersten Beleidigung bezichtigt sie Brünhild der übermüete (825,4: „Deinen Hochmut bin ich leid.“ Darauf Brünhild: „Du ziuhest dich ze hôhe“ (826,1: „Du überhebst dich!“)Brünhild geht nicht auf das zentrale Argument der Zinszahlung ein. Sie verlagert stattdessen das Wortgefecht auf den Streit um den Rang der Frauen. Sie fordert eine öffentliche Auseinandersetzung um die weibliche Rangfrage: „Jetzt will ich doch sehen, ob man dich genauso ehrenvoll behandelt wie mich.“ (826,2f.) Die Königinnen beschließen, mit ihrem Gefolge getrennt zum Münster zu ziehen, wobei es darum geht, wer als Vornehmste zuerst das Münster betreten dürfe (827).

Beide Königinnen machen ihren Überlegenheitsanspruch vom Status ihrer Ehemänner abhängig. Sie definieren ihre soziale Identität vorrangig über ihre Relation zum Ehemann. Hier wird deutlich, dass die standesrechtliche Identität der adligen Frau an den Rang des Mannes gebunden ist. –

Kriemhild nimmt sofort den Fehdehandschuh auf: „Heute wirst du merken, dass ich aus freiem Geschlecht (adelvrî) bin und dass mein Mann ein höheres Ansehen genießt als der Deine….Noch heute Abend wirst Du sehen, wie Deine Leibeigene (eigene diu dîn) vor allen Rittern am Hof in Burgund auftritt.“ (828,1-829,1) Durch die angebliche Unfreiheit Siegfrieds (als Dienstmann Gunthers) würde Kriemhild gleichermaßen zur unfreien Dienerin, zur Leibeigenen (mhd. eigendiu) degradiert. Jetzt will die empörte Kriemhild demonstrieren, dass sie keine eigendiu, sondern frei und adelig ist. Sie will beim Kirchgang mit ihrem Gefolge den Vortritt vor Brünhild in das Münster erzwingen. Kriemhild hält an ihrer Identität als Freie und Adelige ihres angestammten burgundischen Familienverbandes fest.

Von nun an herrscht Hass zwischen den Frauen (829,4).ix Kriemhild agiert jetzt gezielt angreifend, wodurch im Frauenstreit eine Umkehrung stattfindet. Brünhild wird in die Rolle des Opfers gedrängt. Die Kleidung der Königinnen indiziert beim Auftritt vor dem Münster visuell den Rang der Gegenspielerinnen. Repräsentative Kleidung wird zum Ausdruck des Rangstreites. Brünhild zieht sich nicht um, wohl weil sie es als Wormser Königin nicht für nötig hält. Kriemhild hingegen schmückt sich und ihr weibliches Gefolge mit großer Pracht und schreitet demonstrativ zur Kirche.

Die beiden Kontrahentinnen treffen vor dem großen Münster aufeinander, um ihren Vorrang zu demonstrieren. Die Trennung des Gefolges der Königinnen visualisiert im Nibelungenlied das Ende der höfischen Harmonie. Der Erzähler verbindet die Trennung mit einer negativen Vorausdeutung (831,3-4):

daz si bî ein ander niht giengen alsam ê,
dâ von wart manigem degene sît vil sorclîchen wê.

(Dass sie nicht wie früher nebeneinander gingen, daraus entstand später großes Leid für viele Kämpfer.)

Kriemhild kommt mit ihren Frauen. Sie tragen Prachtgewänder als sichtbares Zeichen für Macht und Reichtum. In ihrerKleiderpracht beabsichtigt Kriemhild bewusst, Brünhild zu verletzen und zu übertrumpfen (837,4). Der Rechtsanspruch wird durch die optische Prunkentfaltung und Zurschaustellung des höfischen Glanzes verstärkt. Indem Kriemhild Brünhild vor dem Münster an Pracht übertrumpft, hat sie ihren Vorrang damit – ohne rechtliche Beweisführung – bereits durchgesetzt (Vorrangdemonstration).

Brünhild wiederholt jetzt öffentlich gegenüber Kriemhild den Vorwurf der eigendiu (838,4) und will ihr den Vortritt verwehren. Da schleudert ihr Kriemhild zornig einen unwahren, aber vernichtenden Trumpf entgegen: „wie möhte mannes kebse werden immer küneges wîp?“ (839,4: „Wie hätte die Beischläferin eines Unfreien je die Frau des Königs werden können?“) Sie beschimpft also Brünhild als kebse, denn Siegfried, der doch unfrei sei, habe sie zuerst geliebt; Siegfried, nicht etwa Gunther, habe ihr „die Unschuld genommen“. Die Kebsenbeschimpfung wird zur unversöhnlichen Beleidigung. Die tief getroffene Brünhild weint. Sie kann den Worten nichts entgegnen. Ihre êre wird in Frage gestellt. Kriemhild hingegen rauscht triumphierend an ihr vorbei ins Münster.

Während des Gottesdienstes findet die erregte burgundische Königin keine Ruhe zur Andacht. Der Erzähler verweist auf Brünhilds Gedanken und Gefühle (844,3): ir was vil trüebe der lîp und ouch der muot

und 845,2-4:
si gedâhte: „mich muoz Kriemhilt mêre hoeren lân,
des mich sô lûte zîhet daz wortraeze wîp
hât er sichs gerüemet, ez gêt an Sîfrides lîp.“

(Sie dachte: „Kriemhild muss mir genauer sagen,
was sie mir mit scharfer Zunge so laut vorwirft,
und wenn Siegfried damit geprahlt hat, soll es ihm ans Leben gehen.“)

Der Gedankeneinblick kann zugleich als Voraussage gewertet werden, dass Siegfried mit seinem Leben für das Unrecht zu büßen habe, sollten sich die Beschuldigungen bewahrheiten.

Es handelt sich hier um eine der wenigen zentralen Stellen, an denen der Erzähler die Innensicht der weiblichen Figur vermittelt. Ihr Entschluss, ez gêt an Sîfrides lîp, markiert ihren Vorsatz, Siegfried gegebenenfalls töten zu lassen.

Nach dem Gottesdienst verlangt Brünhild, die mit ihren Damen vor dem Münster wartet, Beweise. Kriemhild zeigt triumphierend die vermeintlichen Beweisstücke, Ring und Gürtel der Königin, die Siegfried aus dem Brautgemach mitgenommen und später seiner Frau geschenkt hatte. – Bewiesen ist trotz dieser Memorialzeichen nichts. Brünhild kann lediglich anmerken, Ring und Gürtel seien ihr einst gestohlen worden (848). – Die symbolische Aussagekraft der Gegenstände reicht jedoch aus, die öffentliche Entehrung der burgundischen Königin herbeizuführen. Die Provokation durch die ‚Beweisstücke‘ ist eine Szene der Demütigung!

Durch Kriemhilds Behauptung: „jâ wart mîn Sîfrit dîn man“ (846,4: „Also war doch mein Siegfried dein Mann“) ist Brünhild die öffentlich Entehrte; sie ist gesellschaftlich vernichtet; mit ihr sind Hof und Reich geschändet.

Weinend (850,3) ruft Brünhild Gunther zu Hilfe. Die Entehrung der Königin fordert den öffentlichen Rechtsprozess. Hierdurch verschiebt sich der Konflikt auf die Ebene der männlichen Protagonisten mit ihren Listen und Geheimnissen.

Exkurs: Die Tränen der Königin.

Das Weinen Brünhilds, diese emotionale Körpergeste, ist weder als unmittelbarer Gefühlsausdruck noch als spezifisch weibliches Verhaltensmuster zu verstehen. Im SinneGerd Althoffs xhandelt es sich bei dem Weinen der Königin vielmehr um die Inszenierung politischen Handelns: Die ritualisierte Körpergeste drücktdie Dringlichkeit ihrer Bitte für alle sichtbar aus,um so die Zustimmung des burgundischen Herrschers, den sie ruft, zu erwirken.Ihre Tränen sind nicht nur eine Bestätigung ihres Anliegens, nämlich ihre Ehre wiederherzustellen -, sie drücken auch die Bedrohung ihrer herrschaftlichen Autorität aus.

In historischen Zeugnissen greift selbst der König zu diesem „adäquaten und üblichen Ausdrucksmittel“ und „dokumentiert durch die vergossenen Tränen, wie ernst und wichtig ihm die Angelegenheit ist.“ xi

Der Bruch zwischen beiden Frauen ist vollzogen. Nicht jedoch zwischen Gunther und Siegfried. Als Gunther die Ursache von Brünhilds Tränen erfahren möchte (852), formuliert sie nicht den Rangstreit, sondern Kriemhilds Behauptung, Siegfried habe sie gekebset (853,4).Gunther zeigt sich erstaunt über Kriemhilds ‚Enthüllung‘. Zugleich impliziert diese ‚Enthüllung‘ eine Beleidigung seiner Ehre und eine Gefährdung seiner politischen Vorherrschaft.

In Bezug auf die Geschlechterzuschreibung (gender) ist bemerkenswert, dass Brünhild ihren Ehemann nicht nach den wirklichen Vorgängen der Brautnacht fragt, sondern die Wiederherstellung ihres öffentlichen Ansehens verlangt. Vielleicht will Brünhild auch gar nicht mehr so genau wissen, ob an Kriemhilds Behauptungen etwas Wahres ist und glaubt der Rivalin im Grunde ihres Herzens. Umso offensichtlicher will sie verhindern, dass auch die Öffentlichkeit Kriemhild glaubt. Der Frauenstreit reißt nämlich eine Wunde auf, die nicht heilen konnte: die auf Betrug beruhende Eheschließung des Wormser Herrscherhauses, welche letztendlich die Schwäche des Königs bloßlegen würde. Keiner der männlichen Protagonisten möchte die Wahrheit enthüllen. Brünhild verlangt von Gunther, dass er sie öffentlich gegen den Vorwurf seiner Schwester verteidige: „daz ich ie wart geborn, daz riuwet mich vil sêre, dune beredest, künic, mich, der vil grôzen schande;“ (854,2ff.: „Dass ich überhaupt geboren wurde, ist mir verhasst, wenn Du, König, mich nicht von dieser großen Schande befreist.“) Gerade die rechtliche Stellung der Frau, ihre êre, steht hier als zentraler Genderentwurf zur Diskussion.

Der König ist gezwungen, vor aller Augen zu handeln. Als Brünhilds Ehemann muss er für sie agieren und die Anklage gegen Siegfried erheben.

Die Folgehandlung demonstriert das Ungenügen eines Rechtssystems, in dem die weiblichen Protagonisten bestenfalls über männliche Fürsprecher Genugtuung erfahren können. Als Brünhilds Vormund (munt) ist Gunther dazu verpflichtet, seiner Frau Schutz zu gewähren. Er gerät dadurch in eine prekäre Situation, denn er weiß als einziger außer Siegfried um die Wahrheit der Brautnacht und somit auch um Siegfrieds Mittäterschaft und ‚Unschuld‘. Die Verschleierung der Wahrheit liegt folglich in seinem Interesse.

Der Eid.

Gunther lädt Siegfried vor das Königsgericht (855) und bringt die Klage vor (857). Da Brünhild die Frage nach der Wahrheit nicht gestellt hat, kann Gunther von Siegfried fordern, lediglich zu beeiden, dass er sich nicht der Defloration der Königin gerühmt habe. Die Memorialzeichen, Ring und Gürtel der Königin, spielen in diesem Rechtsprozess keine Rolle mehr, bleiben unbeachtet, auch wenn sie den Worten widersprechen. Für Gunther ist es wichtig, dass im öffentlichen Prozess die Behauptung und nicht die Sache an sich zu einer rechtlichen Frage erhoben wird (857). Er verschiebt den Akzent der Fragestellung derart, dass Kriemhilds Glaubwürdigkeit anfechtbar erscheint. Siegfried weist die Behauptung seiner Frau, er habe mit Brünhild geschlafen, zurück und erklärt sich sofort zum ‚unverfänglichen‘ Eid bereit (858 f.). Schnell herrscht wieder Einverständnis zwischen den beiden Rittern: dô sâhen zuo z’ein ander die guoten ritter gemeit. (861,4: Da blickten einander die edlen, stattlichen Ritter ‚in stillem Einvernehmen‘ an.xii) Die beiden Männer agieren manipulativ. Ihnen ist bewusst, wie wichtig ein Verschweigen der Vorgänge für die beiden Herrscherhäuser ist. Es liegt ganz im Interesse männlicher Machterhaltung, wenn Gunthers Niederlage in der Brautnacht und Siegfrieds Betrug an Brünhild geheim gehalten werden. Mit einer umfassenden Offenbarung würde das ganze manipulative Lügengebäude zusammenstürzen (und sie müssten womöglich die gemeinsame Rache Brünhilds und Kriemhilds fürchten!?) Parallel zu anderen Eideshandlungen im Nibelungenlied auf Isenstein und bei der Hortversenkung sind ‚die Männer‘ sogleich bereit, einen Eid zu leisten, wenn es um die Wahrung eines Betrugsgeheimnisses einer Frau gegenüber geht. – Das ist Teil der Textstrategie.

Der Ring der Männer tritt zusammen, um den Eid rechtsgültig werden zu lassen (859,4). Siegfried hebt die Hand zum Schwur (860,1). Ehe er aber etwas beeidet, bricht Gunther das Verfahren ab und spricht ihn frei (860):

Sîfrit der vil küene zem eide bôt die hant.
dô sprach der künic rîche: „mir ist sô wol bekant
iuwer grôz unschulde; ich will iuch ledic lân
des iuch mîn swester zîhet, daz ir des niene habt getân.“

(Siegfried, der Kühne, hob die Hand zum Schwur.
Da sagte der mächtige König: „Ich weiß jetzt sicher,
dass Ihr unschuldig seid. Ich spreche Euch von allem frei.
Was meine Schwester über Euch sagt, das habt Ihr nicht getan.“)

In der Forschung finden sich kontroverse Debatten um diesen Eklat und seine Folgen. Man könnte der Auffassung sein, Siegfried deute den Eid nur an, leiste ihn aber nicht, weil er von Gunther unterbrochen wird. Das könnte auf Siegfrieds schlechtes Gewissen verweisen.xiii Otfrid Ehrismann deutet den Text dahingehend, dass nicht nur Siegfrieds Prahlen, sondern auch der Inhalt des Prahlens zur Beeidigung anstehe. Eine derartige Leseweise könnte den Abbruch erklären: Gunther spricht Siegfried von der Tat, aber nicht von der Behauptung des Prahlens frei, obwohl es im Eid gerade um die Behauptung, um das ‚rüemen‘, geht (860,3-4) – und Gunther gar nicht wissen kann, ob Siegfried sich der Defloration Brünhilds vielleicht doch gerühmt hat.

Es handelt sich um ein unzulängliches Gerichtsverfahren. Brünhild ist öffentlich von Kriemhild beleidigt worden. Sie verlangt die Wiederherstellung ihrer Ehre. Der König hätte entschlossen für ein geregeltes Gerichtsverfahren eintreten müssen. Dass Gunther das Verfahren abbricht, bei dem er selbst als einer der Hauptschuldigen hätte entlarvt werden können, demonstriert erneut seine Position als rex iniquus, der unfähig ist, Recht zu sprechen. Die Szene verdeutlicht zugleich die rechtsunmündige Position seiner Frau, deren Rechtsschutz in der Hand ihres Mannes liegt, wobei dieser selbst schuldhaft am Vergehen beteiligt ist. xiv

Gunther bewirkt durch sein Zurückweichen einen unklaren und unbefriedigenden Ausgang des Prozesses, was sich an der Betroffenheit der Umstehenden und an Brünhilds Weinen ablesen lässt: „dô trûret alsô sêre der Prünhilde lîp, daz ez erbarmen muose die Guntheres man.“ (863,2 f.)Das emotionale Signal des Weinens der Königin forderte unmissverständlich ein Eingehen auf den Konflikt. Der König hätte alles daran setzen müssen, den Konflikt gütlich zu regeln. Der burgundischen Königin musste an einer klaren und von Siegfried beeideten Beseitigung des Verdachts gelegen sein. So aber bedeutet das Zurückweichen des Herrschers vor dem Reinigungseid (Siegfrieds), dass er auf ausreichende Genugtuung für Brünhild verzichtet.

Bedeutsam bezüglich der Geschlechterzuschreibung (gender) ist, dass die männlichen Protagonisten Gunther und Siegfried erneut kooperativ der Enthüllung der Wahrheit und damit den Frauenfiguren entgegenwirken. Der Männerbund wird bestärkt.

Der Konflikt verlagert sich auf die konkret körperliche Handlungsebene: Siegfried will seine Frau züchtigen, er kündigt ihre Bestrafung an. Kriemhild muss zum Schweigen gebracht werden. Er meint, seine Frau mit Prügeln ‚erziehen‘ zu können und nimmt sich das Recht heraus, ihr mit Gewalt ‚angemessenes‘ Verhalten beizubringen (862):

Man sol sô vrouwen ziehen“, sprach Sîfrit der degen,
daz si üppeclîche sprüche lâzen under wegen.
verbiut ez dînem wîbe, der mînen tuon ich sam.
ir grôzen ungefüege ich mich waerlîche scham.“

(„Man soll Frauen so erziehen“, fuhr Siegfried, der Held, fort,
„dass sie übermütiges Gerede bleiben lassen.
Verbiet‘ es Deiner Frau! Ich verbiete es der meinen.
Wahrlich, ich schäme mich für ihre Ungezogenheit.“)

Selbstherrliche Männlichkeit trägt Siegfried zur Schau. Die „üppeclîchen sprüche“ seiner Frau macht er verächtlich; sie habe ungefüege, ‚ungezogen‘ gehandelt. Siegfrieds Schelte an Kriemhild deckt den Zusammenhang zwischen Sprache und Gewalt auf: Durch physische Gewalt bringt er sie zum Schweigen. Sie wird nach dem Streit von Siegfried „zerblouwen“, ‚verbläut‘ (894,2). – Die Ehefrau ist dem Züchtigungsrecht des Mannes unterworfen. Die Szene unterstreicht die Problematik der rechtlichen Stellung der Frau, die durch die physische Gewaltanwendung demonstriert wird.

Siegfrieds Züchtigung.

In Siegfrieds Genderentwurf zeigen sich Züge, die auf die zeitgenössische Wirklichkeit hinweisen. Die körperliche Züchtigung der Frau wird als selbstverständliches Recht des Mannes angesehen. Otfrid Ehrismannspricht in Bezug auf die Züchtigung von Siegfrieds „Pflicht und Recht“.xv Die zeitgenössische soziale und ökonomische untergeordnete Position der Ehefrau, die dem Mann patriarchalische Dominanz zugesteht, tritt in der mittelalterlichen Literatur häufig durch Beispiele sexueller Nötigung und Züchtigung zu Tage. So rät beispielsweise Reinmar von Zweter dazu, eigenwillige Ehefrauen mit „einem grôzen knütel“ (Knüppel) zur Raison zu bringen (105, 7-12). xviHinter der höfischen Fassade begegnet uns hausherrliche Gewalt. Der Ehemann verfügt über den Körper der Frau. Kriemhild wird mit Schlägen für ihr ‚Gerede‘ bestraft. Die nordischen Stoffbearbeitungen kennen keine Züchtigung Kriemhilds durch Siegfried. Das Prügelmotiv passt nicht zum Idealbild des Minnepaares, zur amour courtois (zur höfischen Liebe), die insbesondere bei der ersten Begegnung des Paares aufgerufen wird. Bert Nagel xvii sieht in der Züchtigung allerdings keine Minderung der Liebesbeziehung. Es stellt sich aber die Frage, ob die Züchtigung nicht doch ein anderes Licht auf die idealisierte Liebesbeziehung wirft. Die Prügelung Kriemhilds deckt sich zweifellos mit Siegfrieds Gewaltanwendung Brünhild gegenüber und seinen frauenverachtenden Reden auf Isenstein. Für Siegfried ist die Züchtigung von Frauen ein konsequenter Ausdruck seiner patriarchalen Denk- und Verhaltensweise. So konstituiertsich Siegfrieds Genderentwurf im Nibelungenlied als Überlegenheitsanspruch durch physische Stärke und Kraft. Frauen werden machtlos gehalten. Machtteilhabe wird ihnen verweigert. Der Erzähler schildert mehrfach Siegfrieds eheliche Dominanz bzw. die Missachtung der Wünsche seiner Frau. Man denke an Siegfrieds Widerstreben gegen Kriemhilds Erbforderung, als er versucht, ihren Anteil am burgundischen Erbe auszuschlagen oder an das Ignorieren ihres Heimwehs nach 10 Jahren in Xanten sowie an die Missachtung ihrer Warnträume beim letzten Abschied: Siegfried schenkt Kriemhilds verzweifelten Worten kein Gehör. Auch sieht er nach dem Königinnenstreit – kontrastierend zu Kriemhild – von seiner eigenen Schuld ab. Aber trotz aller Hinweise auf ein übermütiges und ignorantes Verhalten Siegfrieds scheint das Verhältnis zu Kriemhild dennoch ungetrübt. Siegfried selbst bezeichnet Kriemhild als seine triutinne, seine Geliebte (919,1; 923,1). – Umgekehrt ist für Kriemhild ihr Lebensglück ganz und gar auf Siegfried ausgerichtet und abhängig von der Zuwendung des einzigartigen Helden, der über seinen Tod hinaus ihr gesamtes Handeln bestimmt.

Sowohl Brünhild als auch Kriemhild werden im Nibelungenlied durch körperliche Züchtigungen ihren Männern unterworfen und widersetzen sich diesen physischen Machtdemonstrationen nicht. Die physische und ökonomische Unterwerfung der Protagonistinnen macht deutlich, dass diese immer wieder in die Grenzen der bestehenden mittelalterlichen Gesellschaftsstruktur, in die Subordination, zurückgedrängt werden. Dazu tragen die männlichen Akteure entscheidend bei. Das gilt wesentlich für die Züchtigung Kriemhilds, indem Siegfried seine Frau für etwas bestraft, wofür er im Grunde genommen selbst verantwortlich ist.- Durch Siegfrieds Züchtigung sowie durch die Entmachtung der Frauenfiguren (die systematisch bestohlen werden) wird im Nibelungenlied der Aspekt der Subordination der Frau in der zeitgenössischen Wirklichkeit thematisiert und aktualisiert.

Es stellt sich die Frage, ob es den männlichen Protagonisten in erster Linie darauf ankommt, bedrohlich wirkende Frauen in die Subordination zurückzudrängen, oder ob es sich im Grunde genommen um eine Auseinandersetzung der Männer untereinander handelt. Denn der Zusammenhalt des Herrschaftsverbandes beruht auf den triuwe-Bindungen der königlichen Schwäger.

Um Brünhild zu erwerben, hatte Gunther mit Siegfried paktiert und gegenseitige triuwe vereinbart. Hat Siegfried das Geheimnis der Bezwingung Brünhilds verraten? Nicht Siegfrieds eventuelle Taten, sondern dass er nicht stillgeschwiegen hat, sich möglicherweise in der intimen Sphäre mit Kriemhildder Defloration Brünhilds gerühmt hat und somit ein ‚Staatsgeheimnis‘ preisgab, macht ihn für Gunther und den burgundischen Hof zu einer potentiellen Bedrohung. Hat Siegfried durch sein ‚Geplapper‘ das Vertrauen Gunther gegenüber gebrochen? Gunther dürfte spätestens zu diesem Zeitpunkt bewusst geworden sein, wie gefährlich Siegfrieds Wissen um das Spiel aus Lügen und Täuschungen werden könnte. Es kommt zu einem Konflikt zwischen den beiden Männern. Öffentlich und formalrechtlich scheint der Konflikt mit dem Rechtsakt des angedeuteten Eides zunächst beigelegt. Gunther hat sich mit Siegfrieds Wort zufrieden gegeben.

Die Entehrung der burgundischen Königin kann aber nicht rückgängig gemacht werden und behält ihre politische Brisanz. Nach einer so schweren Kränkung fordert Brünhild die Bestrafung des Beleidigers ihrer êre. Aus Sicht des burgundischen Hofes ist die Ehre der Königin durch Siegfrieds Weiterleben in Frage gestellt. Fortan betreibt Hagen als Repräsentant der Wormser Ordnung die Wiederherstellung des Ansehens des burgundischen Königshauses. Er räumt den Rivalen um die Macht aus dem Weg.

Fazit des Königinnenstreites

Ist der rote Faden der Handlung der Macht-Konflikt zwischen den Männern? Handeln die Frauen stellvertretend für die Männer, die ihren Konflikt nicht austragen können? Das würde zum Krieg führen, der erst später durch Kriemhild ausgelöst wird. Der Rangstreit offenbart den doppelten Konflikt – den der Frauen und den der Männer!

Erstens. Der mittelalterliche Personenverbandsstaat ist auf die persönlichen Beziehungen zwischen Männern angewiesen. Die im Schlussteil des Nibelungenlieds pathetisch beschworene triuwe unter Kriegernzielt auf den unbedingten Zusammenhalt einer männlichen Kampfgemeinschaft. Hier wird ein Männlichkeitsideal in den Raum gestellt, das sich auf männlich heroische Normen wie Tapferkeit, kriegerische Kampfkraft und Solidarität stützt. Jan-Dirk Müller: „Auch wenn sich die Frauenfiguren nicht gegen die heldenepische männliche Solidarität durchsetzen können, bleibt doch zu untersuchen, ob die männliche Kriegerethik am Ende ungebrochen als episches Ideal etabliert wird.“ xviii Das Nibelungenlied zeichnet ein ausgesprochen ambivalentes Bild von der männlichen Solidarität, die den Zusammenhalt und das Funktionieren des Herrschaftsverbandes garantieren soll.

Zweitens. Männliche Solidarität soll sich als episches Ideal in dem Mythos Männerbündnis beweisen. xix Das Männerbündnis zwischen Gunther und Siegfried bei der Erwerbung Brünhilds ist jedoch durch Geheimnisse geschmiedet. Nur durch List gelingt es, Brünhild zu bezwingen. Gunther ist auf Siegfrieds Hilfe im Verborgenen angewiesen. Männlichkeit bzw. männliche Überlegenheit wird über eine stillschweigende Kooperation im Verborgenen generiert. Siegfried gewährleistet diese und erhebt sich so über Gunther. Er ist der Einzige, der um den Betrug und damit auch um Gunthers Insuffizienz weiß. Die Männer haben Erfolg mit ihren Listen, Täuschungen, Geheimnissen.

Drittens. Es wird eine gesellschaftliche Struktur aufrechterhalten, die auf Bündnissen zwischen Männern beruht, durch Geheimnisse geknüpft – und auf der Verweigerung der Machtteilhabe von Frauen.

Offenbar spiegelt sich in dieser Struktur die Abneigung des Erzählers und der männlichen Rollenfiguren gegen selbständige Frauen, die ihre ‚Macht‘ gegen männliche Normvorstellungen gebrauchen –wie Brünhild, die Amazone, die eigenständig handelte. Weibliches Handeln sollte ja aus Sicht der Gesellschaft der Konsolidierung des Herrschaftsverbandes dienen. Da aber den Protagonistinnen aufgrund des Gesellschaftsgefüges die direkte Handlungsbefugnis verwehrt ist, beschränkt sich

Viertens der Handlungsspielraum der Frauen auf die indirekte und damit auf die verbale Ebene. Es ist bezeichnend, dass ein Konflikt zwischen Frauen in erster Linie verbal als Redehandlung ausgetragen wird. Ein ‚Kampf mit Worten‘ wurde in der altnordischen Literatur ‚Senna‘ genannt.

Fünftens. Das sprachliche Handeln der Frauen, die ja Verborgenes enthüllen, läuft den Interessen der Männer zuwider.

Sechstens. Weibliches Handeln entgegen dem Interesse des Mannes widerspricht dem ordo, der gesellschaftlichen Ordnung. Brünhild und Kriemhild sind zwei Frauen, die sich nicht der den Frauen vorgezeichneten Daseinsform innerhalb der feudalen Gesellschaftsordnung anpassen wollen, die über ihre Rolle hinaus handeln, ja sogar männliche Attribute annehmen, wenn es nötig wird, ihr bedrohtes Recht zu verteidigen. Das tat Brünhild, die um ihre Jungfräulichkeit, verbunden mit ihrer politischen Macht, kämpfte. Das tut Kriemhild, als sie nach Siegfrieds Ermordung und dem Raub des Hortes ihr Recht verlangt. –

In der Senna wird emotionsgeladen auf weiblicher Ebene der Streit um Standesidentitäten, zunächst im privaten, dann im öffentlichen Raum ausgetragen. Als sich die Auseinandersetzung auf die männlichen Akteure verschiebt, werden die Argumente der Frauen von Gunther und Siegfried bagatellisiert. Die beiden Männer decken einander im Eid und agieren der Wahrheitsenthüllung entgegen. Der Königinnenstreit lässt sich folglich nicht als ein auf Eifersucht beruhendes Frauengeschwätz, als „Zickenstreit“, abtun. Vielmehr wird die unvermeidliche Konfrontation planmäßig in die Wege geleitet: Das ist die Textstrategie (!)

Siebtens. Weshalb wird dem Streit so viel Raum in der Dichtung gewährt? Der hier gezeichnete Genderentwurf der Hauptfiguren kann als Kritik xx verstanden werden: Im Zuge der Handlungsentwicklung entsprechen Figuren nicht länger ihren sozialen Rollen. Sie spielen stattdessen mit ihnen, rebellieren dagegen oder überheben sich. So eignet sich Kriemhild die männlich determinierte Rolle der Rache an.

Achtens.Derartige Verstöße der gesellschaftlichen Ordnung reißen alle in den Untergang. Darin zeigt sich eine Fragilität der Ordnung und Instabilität der Gesellschaft. In der Darstellung dieser Vorgänge wird die Gesellschaftskritik des Nibelungenliedes offenbar.

i Die „Frauenzucht“ ist eine Reimpaarerzählung (Schwank) des Meisters Sibote von Erfurt (gest. 1266).

ii Vgl. die älteren Arbeiten von Ingrid Bennewitz: Das Nibelungenlied – ein ’Puech von Crimhilt‘? Ein geschlechtergeschichtlicher Versuch zum „Nibelungenlied“ und seiner Rezeption.

In: 3. Pöchlarner Heldenliedgespräch: Die Rezeption des „Nibelungenliedes“, hg. von Klaus Zatloukal, Wien 1995 (=Philologica Germanica 16), S. 32-52; Katharina Freche: Von zweier vrouwen bâgen wart vil manic helt verlorn.

Untersuchungen zur Geschlechterkonstruktion in der mittelalterlichen Nibelungendichtung, Trier 1999 (= Literatur, Imagination, Realität; Bd. 21).

iii Jerold Frakes, Brides and Doom. Gender, Property, and Power in Medieval German Women’s Epic, Philadelphia 1994

iv Stephanie B. Pafenberg, The Spindle and the Sword: Gender, Sex, and Heroism in the “Nibelungenlied” and „Kudrun“. In: GR 70, 1995, S. 106-115

v Maren Jönsson, „Ob ich ein ritter waere“. Genderentwürfe und genderrelatierte Erzählstrategien im Nibelungenlied, Uppsala 2001.

vi Kerstin Schmitt, Poetik der Montage. Figurenkonzeption und Intertextualität in der „Kudrun“, Berlin, Erich Schmidt Verlag, 2002, in: Philologische Studien und Quellen 174

vii Jan-Dirk Müller, Motivationsstrukturen und Identität im „Nibelungenlied“. Zur Gattungsdiskussion um ‚Epos‘ und ‚Roman‘. In: Nibelungenlied und Klage, S. 221-256

viiiJan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998

ix Brünhild (830,1-3): „wiltu niht eigen sîn,/sô muostu dich scheiden mit den vrouwen dîn/von mînem ingesinde, dâ wir zem münster gân.“

x Gerd Althoff, Der König weint: rituelle Tränen in öffentlicher Kommunikation, 1996. In: „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und früher Neuzeit, S. 239-252, hier S. 247-250

xi Gerd Althoff, a.a.O., S. 249; S. 251

xii Übersetzung gemäß Ursula Schulze (Das Nibelungenlied nach der Hs. C, 2005) und Joachim Heinzle (Das Nibelungenlied und die Klage nach der Hs. B, 2013)

xiii Forschungsübersicht bei Otfrid Ehrismann, Nibelungenlied: Epoche, Werk, Wirkung, München 1987, S. 146

xiv Vgl. Roswitha Wisniewski, Das Versagen des Königs. Zur Interpretation des Nibelungenliedes. In: Dietrich Schmidtke (Hrsg.), Festschrift für Ingeborg Schröbler zum 65. Geburtstag, Tübingen 1973, S. 170–186, hier S. 180; 182

xv Otfrid Ehrismann, a.a.O., 1987, S. 147

xvi Du solt dir dîne güete lân entslîfen/
und solt nâch einem grôzen knütel grîfen:/
den soltu ir zem rugge mezzen/
ie baz und baz nâch dîner craft,/
daz si dir jehe der meisterschaft;/
heiz si dir swern, si welle ir übele vergezzen!/
Ed. Gustav Roethe, Leipzig 1887, Nr. 105,7-12.

xvii Bert Nagel, Das Nibelungenlied. Stoff-Form-Ethos, Frankfurt 1965, S. 200

xviii Zitiert nach Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang, a.a.O., S. 389-434 zur unterschiedlichen Relevanz des Höfischen und Heroischen im Nibelungenlied

xix Simon Gaunt, Gender and Genre in Medieval French Literature, Cambridge 1995

xx Maren Jönsson, a.a.O., S. 327; 339.