Prof. Dr. Peter Andersen
Dieser Beitrag fokussiert auf die sagengeschichtliche Entstehung des Helden Dietrich von Bern, insbesondere auf dessen Beinamen, und stützt sich auf die Schriftlichkeitsthese, die in Kürze besagt, die Geschichte von Siegfried, Kriemhild, dem Schatz, dem Mord und der Rache sei erst um 1200 entstanden und beruhe ausschließlich auf Handschriften und der Fantasie eines anonymen Dichters. Mit anderen Worten beginnt die Nibelungensage nach dieser These mit dem Nibelungenlied (NL), und alle anderen Varianten der Erzählung sind von diesem mittelhochdeutschen Epos abhängig.[1] Das gilt zum Beispiel für die isländische Lieder-Edda, deren Gedichte gewöhnlich in die Zeit vor dem Nibelungenlied datiert werden, manchmal sogar ins 8. Jahrhundert.[2] Die Mündlichkeitsthese setzt mehrere Jahrhunderte ohne Schriftlichkeit voraus und postuliert, es sei möglich, eine Erzählung in Zeit und Raum allein von Mund zu Ohr zu vermitteln. Da die Nibelungensage auf historischen Ereignissen aus dem 5. Jahrhundert beruht, gehen die Anhänger der Mündlichkeitsthese davon aus, dass die Sage fast 800 Jahre nur mündlich überliefert wurde, spätestens 300 Jahre nach dem Untergang des Königreichs der historischen Burgunder in Form kürzerer Gesänge vom Rhein nach Island gewandert war, dort noch 500 Jahre allein im Volksmund überlebte, bis ein Kopist, der Schreiber des ‚Codex Regius‘ mit der Lieder-Edda, einige Stücke mit Pergament und Feder für die Ewigkeit rettete.
Die Anhänger der Mündlichkeitsthese vermuten auch, dass verwandte Lieder fast ebenso lange im Süden von Generation zu Generation gesungen wurden, bis ein ziemlich fantasieloser Epiker, der Autor des Nibelungenliedes, sie zu einem höfischen Epos mit über 2000 Strophen verwandelte. Kurz nach der Verschriftlichung dieser uralten Sage soll ein anderer talentloser Autor dem Epos einen handlungsarmen, paargereimten Epilog angehängt haben, die Klage (KL).[3] Das ist die ‚Zwei-Autoren-These‘, die erstmals 1803 von August Wilhelm Schlegel formuliert wurde.[4] Vorher bestand Konsens darüber, dass der am Ende der Klage genannte Meister Konrad beide Teile der Geschichte gedichtet hatte. Das Hauptargument für die ‚Zwei-Autoren-These‘ ist die formale Diskrepanz zwischen den beiden Teilen der Erzählung. Das Nibelungenlied ist wie ein Minnelied in Strophen gegliedert, die Klage besteht wie ein Roman aus ungegliederten Paarreimen. Alle sind sich darin einig, dass beide Teile zeitnah aneinander entstanden. Nur trauen die meisten Forscher dem Autor des Nibelungenliedes nicht die formale Kühnheit zu, nach dem Ende des strophischen Epos einen Epilog in gewöhnlichen Paarreimen gedichtet zu haben. Für eine Doppeldichtung aus einer einzigen Feder und einem einzigen Guss sprechen die Handschriften. Das Nibelungenlied und die Klage sind fast immer zusammen überliefert, insbesondere in den drei ältesten Textzeugen aus dem 13. Jahrhundert, den Handschriften ABC.
Selbst Laien ohne Kenntnis der Nibelungenforschung kennen meist die Mündlichkeitsthese und gehen deshalb davon aus, dass germanische Barden in Spätantike und Frühmittelalter ein hervorragendes Gedächtnisvermögen besaßen, lange Lieder über Drachentöter und Hunnen vortrugen und außerordentlich aufmerksame Zuhörer hatten, denn diese bewahrten angeblich die historischen Ereignisse von Generation zu Generation, ohne ein einziges Wort aufzuzeichnen. Die Mündlichkeitsthese lässt sich weder beweisen noch widerlegen. Sie beruht auf reinem Glauben, denn mittelalterliche Mündlichkeit ist heute für immer verstummt und deshalb nicht mehr empirisch zu analysieren. Ton kann erst seit dem 19. Jahrhundert bewahrt werden.
Die Schriftlichkeitsthese lässt sich auch nicht beweisen. Sie hat bloß den Vorteil, nichts Verlorenes oder Verstummtes und kein übermenschliches, kollektives Gedächtnisvermögen zu postulieren. Sie geht schlicht davon aus, dass Leute früher das vergaßen, was sie nicht notierten, genauso wie heute. Die Schriftlichkeitsthese hat eine unmittelbare Konsequenz für Dietrich von Bern. Wenn dieses Modell bevorzugt wird, wurde diese Gestalt vom Autor der Doppeldichtung erfunden und trat erstmals in Nibelungenlied und Klage in Erscheinung.
Gegen die Schriftlichkeitsthese lässt sich unmittelbar einwenden, dass dieser Sagenheld nicht ganz frei erfunden wurde. Er hat nämlich ein einleuchtendes historisches Vorbild, den ostgotischen König Theoderich den Großen. Dieser starb im Jahr 526 und führte einen Namen, der sich lautgeschichtlich zu Dietrich entwickelte. Außerdem ist er mit der norditalienischen Stadt Verona verbunden, die zur Zeit des Nibelungenliedes auf Deutsch Bern genannt wurde. Mit anderen Worten hatte der Autor des mittelhochdeutschen Epos durch irgendwelche Quelle Kenntnis des damals längst verstorbenen ostgotischen Königs. Es bestehen nur zwei Möglichkeiten: Entweder entstanden im Frühmittelalter Lieder über Theoderich den Großen und wanderten 700 Jahre von Mund zu Ohr, ohne den Namen des Königs zu entstellen, bis der Autor des Nibelungenliedes ein solches Lied hörte und dessen Inhalt für sein strophisches Epos benutzte. Oder dieser Autor konnte lesen, verstand Latein, hatte Zugang zu einer reich ausgestatteten Bibliothek und integrierte den historischen König unter dem Namen ‚Dietrich von Bern‘ in seine tragische Dichtung.
Anhänger der Mündlichkeitsthese mögen hier einwenden, Dietrich von Bern sei ein grober Anachronismus. Sie haben Recht, denn die Grundlage der Nibelungensage ist tatsächlich der Untergang eines historischen burgundischen Königreichs am Rhein im Jahr 436. Damals herrschte Attila († 453) als König über die Hunnen irgendwo an der Donau, wie im Nibelungenlied. Der historische Kern der Sage lässt sich also eindeutig in die erste Hälfte des 5. Jahrhunderts verlegen. Damals war Theoderich der Große noch nicht geboren. Die Historiker kennen zwar sein genaues Geburtsjahr nicht, situieren es aber um 451. Als Säugling kann Theoderich zur Not Attila getroffen haben. Dagegen ist eine Begegnung mit Gundicharius völlig ausgeschlossen, denn dieser König starb mindestens 15 Jahre vor Theoderichs Geburt. Die Anhänger der Mündlichkeitsthese führen den Anachronismus auf eine zufällig entstellende, jahrhundertlange Mündlichkeit zurück. Die Anhänger der Schriftlichkeitsthese trauen dem Dichter des Nibelungenliedes Fantasie zu, schließen Zufall aus, nehmen dichterische Freiheit an und behaupten bewusste ahistorische Vermischung der realen Fakten.
Das Epos enthält noch schlimmere Anachronismen, denn das historische Vorbild für die Isländerin Brünhild ist die Frankenkönigin Brunechild, und sie starb erst 613. In diesem Fall weist die literarische Figur nicht die geringste biographische Gemeinsamkeit mit ihrem mutmaßlichen Vorbild auf und muss trotzdem nach der historischen Frankenkönigin gestaltet worden sein, denn die Namensgleichheit springt ins Auge, und Brunechild hat keine bekannte Namensschwester in der realen Geschichte. Die Frankenkönigin herrschte über ein Gebiet, das Burgund hieß, wie dasjenige, wo die Isländerin durch ihre Heirat mit Gunther Königin wird, aber das literarische Burgund liegt am Rhein, während das Burgund der Frankenkönigin in seiner Mitte von der Rhône durchflossen wurde. Wie die beiden Frauen haben ihre Gebiete nur den Namen gemeinsam. Über den Vornamen und das Gebiet hinaus hat die isländische Königin vor allem den Charakter ihrer historischen Namensschwester übernommen. Die Frankenkönigin Brunechild galt in der Geschichtsschreibung als Inbegriff der Bosheit[5] und teilt dieses Laster mit Brünhild. Diese beauftragt Hagen mit der Ermordung des vorbildlichen Helden Siegfried und wird durch diese Schandtat verantwortlich für das tragische Ende und den Untergang eines ganzen Volks. Mit Ausgangspunkt in der Schriftlichkeitsthese wurde die literarische Gestalt Brünhild vom Autor des Nibelungenliedes in ähnlicher Weise wie Dietrich von Bern erfunden und vor 1200 in keinem verstummten germanischen Lied besungen. Der Dichter des Epos bediente sich in beiden Fällen historischer Vorlagen, die ihm in Pergament vorlagen und die er in einer stillen Kammer las. Die Namen ‚Brunechild‘ und ‚Burgund‘ und die Bosheit der Königin wurden mit anderen Worten in Zeit und Raum durch stumme Handschriften überliefert.
Laut der Schriftlichkeitsthese wurde die historische Grundlage der späteren Sage nicht von Mund zu Ohr überliefert, wie von den Anhängern der Mündlichkeitsthese vermutet, sondern von Pergament zu Auge. Im Unterschied zu gesungenen Liedern haben Handschriften den riesigen Vorteil, ohne menschliche Unterstützung Jahrhunderte überleben zu können. Ein gutes Beispiel für die Dauerhaftigkeit von Handschriften ist das Nibelungenlied. Die jüngste bewahrte Handschrift mit dem Epos ist das ‚Ambraser Heldenbuch‘. Dieser Codex entstand im Auftrag Maximilians I. zwischen 1504 und 1516. Zwischen dieser Aufzeichnung und der Wiederentdeckung des Epos in Hohenems 1755 verliefen rund 250 Jahre. In diesem Zeitraum, der rund zehn Generationen entspricht, war das Epos völligem Vergessen anheimgefallen und wurde von niemandem gelesen, geschweige denn gesungen. Wäre das Nibelungenlied nicht in Handschriften bewahrt gewesen, hätte Deutschland heute ein anderes Nationalepos, und Worms wäre nicht Mittelpunkt einer weltberühmten Sage. Wenn der Dichter des Epos eine in Spanien geborene Frankenkönigin, die im heutigen Frankreich herrschte und erst im 7. Jahrhundert starb, in eine athletische Isländerin verwandelte, die vor dem Untergang des rheinischen Burgunderreichs einen König von Worms heiratete, ging er mit den historischen Fakten äußerst frei um.
Ein extremer Fall von Anachronismus ist Kriemhilds Onkel Pilgrim, die im Nibelungenlied als Bischof von Passau auftritt. Nur ein einziger historischer Bischof dieser Stadt hat so geheißen, und er starb erst 991, 555 Jahre nach Gundicharius, Gunthers Vorbild, 538 Jahre nach Attila, Etzels Vorbild, 465 Jahre nach Theoderich, Dietrichs Vorbild, und 378 Jahre nach Brunechild, Brünhilds Vorbild. Fünf historische Gestalten aus vier verschiedenen Jahrhunderten treten also im Epos als Zeitgenossen auf. Die Anhänger der Mündlichkeitsthese erklären die augenfälligen Anachronismen durch Zufall und gehen davon aus, dass Sänger und Zuhörer im Laufe der Zeit die Fakten durch unverlässliches Gedächtnis entstellten. Die Anhänger der Schriftlichkeitsthese dagegen erklären die Anachronismen durch Absicht und dichterische Freiheit und gehen davon aus, dass der anonyme Autor des Epos Gestalten aus ferner Vergangenheit bewusst zusammenführte, um seinen Zeitgenossen eine symbolische Botschaft zu vermitteln, und zwar eine Botschaft über seine eigene Gegenwart und die Lage des Heiligen Römischen Reichs um 1200. Für Pilgrim liegt es auf der Hand, dass er den mutmaßlichen Auftraggeber Bischof Wolfger von Erla verkörpert. Wolfger war um 1200 gerade von einer Pilgerfahrt ins Heilige Land zurückgekehrt und amtierte im selben Bistum wie sein historischer Namensvetter. 1204 verließ Wolfger das Bistum Passau, um südlich der Alpen Patriarch von Aquileia zu werden. Diese Abreise findet vielleicht ihren Niederschlag in der Klage.
Nach diesen allgemeinen theoretischen Bemerkungen zur Entstehung der Nibelungensage wird Dietrich von Bern im Folgenden im Fokus stehen. Auf die historischen Texte, die für die Gestaltung dieser Figur dem Dichter von Nibelungenlied und Klage in Handschriften vorlagen, ist zurückzukommen. Zunächst ist auf diese Doppeldichtung einzugehen. Dabei wird die vielfältige, hochkomplexe, nach der Schriftlichkeitsthese erst im 13. Jahrhundert entstandene Dietrich-Epik nicht berücksichtigt. Dafür verfügen wir über ein überaus praktisches Handbuch, Elisabeth Lienerts Dietrich-Testimonien.[6] In diesem Buch werden 352 Textzeugnisse aus der Zeit zwischen 395 und 1600 in chronologischer Reihenfolge verzeichnet und sorgfältig beschrieben.[7] Die aus Nibelungenlied und Klage bestehende Doppeldichtung erscheint nach der ‚Zwei-Autoren-These‘ getrennt als Nr. 109 und Nr. 110. Beide Teile werden von Lienert genau derselben Entstehungszeit, genau demselben Entstehungsraum und genau demselben Auftraggeber zugeordnet. Ihr zufolge entstanden sowohl das Epos als auch der Epilog zwischen 1191 und 1204, „wohl im Umfeld des bischöflichen Hofes in Passau“.[8]
Beide Eckdaten entsprechen Wolfgers Amtszeit in Passau. Im November 1203, wenige Monate vor seiner Abreise nach Italien, nahm Wolfger in Wien an der Hochzeit des Herzogs Leopold VI. von Österreich teil. Dieses historische Ereignis kann im Epos seinen Niederschlag gefunden haben, denn auch Kriemhild und Etzel heiraten in Wien, und beide Hochzeitsfeste haben genau dieselbe Dauer, 17 Tage (NLB 1364). Wenn der anonyme Epiker mit Kriemhilds Hochzeit auf Leopolds Hochzeit anspielt, haben wir ein weiteres Beispiel für sein literarisches Verfahren. Er verlegte zwar implizit die Handlung in ein heroisches Zeitalter, das wir aufgrund historischer Zeugnisse mit der Spätantike identifizieren können, aber gewisse Motive beziehen sich bei näherer Betrachtung auf seine eigene unmittelbare Gegenwart.
Solche Anspielungen machen keineswegs das Epos zu einer kohärenten Schlüsselerzählung, wie etwa Das Treffen in Telgte.[9] In dieser Erzählung beschreibt Günther Grass ein fiktives Treffen von Barockschriftstellern, das 1647 theoretisch hätte stattfinden können. Grass hält sich dabei enger an den vorgegebenen historischen Rahmen als der Autor des Nibelungenliedes, aber ähnlich wie sein anonymer Vorgänger stellt er seine eigene Gegenwart verschlüsselt dar, und zwar das Treffen der ‚Gruppe 47‘ nach dem Zweiten Weltkrieg. Seither bemüht sich die Forschung um die Entschlüsselung der Barockschriftsteller und erkennt beispielsweise Grass in der literarischen Figur Grimmelshausen. So gekünstelt ist das Nibelungenlied nicht gestaltet.
Das Epos erfuhr einen blitzschnellen Erfolg, der bis ins frühe 16. Jahrhundert andauerte. Erstes Rezeptionszeugnis ist wohl die Nibelungenpassage im 8. Buch von Wolframs Parzival aus den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts (420,22–421,10).[10] Die zeitgenössischen Dichter reagierten also auf das Epos unmittelbar nach dessen Entstehung. Während Wolfram nur dadurch auf das Nibelungenlied reagierte, dass er auf den Rat des Küchenmeisters Rumold Bezug nahm, keine gefährliche Reise in den Osten zu unternehmen, übernahmen andere Autoren die Dietrich-Gestalt in ihre jeweiligen Texte. Dietrich tritt in mehr als zehn epischen Texten als Haupt- oder Nebenfigur auf. Zum Beispiel kommt ihm im Rosengarten von Worms die Ehre zu, den letzten der zwölf Zweikämpfe gegen den hornbedeckten, fast unverwundbaren Siegfried anzutreten. Er gewinnt sogar das Duell. In der norwegischen, vielleicht auf einer verlorenen deutschen Dietrich-Kompilation beruhenden Thidrekssaga ist er unter der nordischen Namensform Thidrek der Protagonist, ebenso in der jüngeren schwedischen Didrikskrönikan, die als Übertragung der norrönen Saga entstand. In fünf noch jüngeren dänischen Balladen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts heißt er immer noch Didrik und kommt immer noch aus Bern.[11] Fest steht, dass seine sagenhafte Herkunft erstmals im Nibelungenlied belegt ist. Diese Herkunft ist im Folgenden zu erörtern.
Im Epos betritt Dietrich die Bühne ziemlich spät und findet erstmals Erwähnung in der 22. Aventiure als Gefolgsmann von König Etzel bei dessen Begegnung mit Kriemhild in Tulln kurz vor der Hochzeit. Im Gegensatz zu den Burgunden, die alle am Ende des Epos sterben, überlebt Dietrich, bleibt im Vordergrund bis zum Ende der Klage und gewinnt immer mehr an Bedeutung im Laufe der Doppeldichtung. Seine Bedeutung lässt sich mit der ‚Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank‘ quantitativ genau bestimmen. Diese Datenbank verzeichnet alle Belege eines Worts in den drei Hauptfassungen des Epos und in der A-Fassung der Klage. Das gilt auch für Propria. An der Zahl der Belege ist Kriemhild die Hauptperson vor Hagen, Siegfried, Gunther, Etzel und Rüdiger. Dietrich kommt mit 144 A-Belegen auf Platz 7 vor Brünhild, die zwischen Siegfrieds Tod und der Ankündigung des Burgundenuntergangs in Worms durch den Sänger Swemmel von der Bühne verschwindet.[12] Fast die Hälfte der Dietrich-Belege sind in der Klage zu finden. Hier wird sein Name häufiger genannt als derjenige von Etzel. Nur Kriemhild ist quantitativ bedeutsamer und behauptet durch diese posthumen Nennungen ihren Status als Hauptperson der Klage. Von diesen acht Hauptpersonen führen nur drei einen festen Beinamen, und zwar Hagen von Tronege, Rüdiger von Bechelarn und Dietrich von Bern. An der Zahl der Belege für den Beinamen kommt Dietrich auf Platz 2 vor Rüdiger.[13]
Über die Lokalisierung von Hagens Heimat hat die Forschung viel spekuliert, weniger über den unmittelbaren phonetischen Sinn des mittelhochdeutschen Wortes Tronege, das vermutlich eine Neuschöpfung des Nibelungenlied-Dichters ist. Es kann unproblematisch als Zusammensetzung von mhd. tron und mhd. ege gedeutet werden, ähnlich wie Sifrit als Zusammensetzung von mhd. sic und mhd. frit verstanden werden kann. Dafür muss nur Ausfall des Auslauts [k] in sic vor zwei Konsonanten angenommen werden. Wie Siegfrieds Name ‚Sieg‘ und ‚Frieden‘ andeutet, könnte Hagens Heimat ‚Thron‘ und ‚Schrecken‘ suggerieren, denn das heute veraltete Femininum ege bedeutete damals ‚Furcht‘ oder ‚Schrecken‘. Hagen ist tatsächlich eine treue Stütze des Throns und flößt seinen Gegnern Schrecken ein. In ähnlicher Weise bestätigt Siegfried seinen Namen, indem er gegen den Drachen, die Sachsen und die Dänen siegt und dadurch den Frieden wiederherstellt. Rüdigers Heimat Bechelarn erinnert stark an Pöchlarn, lässt sich aber bei näherer Betrachtung auf der Enns-Ebene weiter westlich lokalisieren und beginnt in den Handschriften immer mit <B> wie Bern und Burgund, niemals mit <P> wie Passau und Polen. Die Haupthandschriften ABC unterscheiden scharf zwischen den beiden anlautenden Buchstaben <B> und <P>, obwohl sie vielleicht in der Mundart des Dichters undifferenziert ausgesprochen wurden, wie heute noch im oberdeutschen Raum. Rüdigers Vorname kann phonetisch wie Sifrit als Zusammensetzung von mhd. rüde und mhd. ger verstanden werden. Er suggeriert also einen wilden Hund und einen Speer. Da Rüdiger die letzte Silbe seines Vornamens mit Wolfger teilt und Wölfe zur Familie der Hunde gehören, ist der Markgraf von Bechelarn ein semantischer Doppelgänger des mutmaßlichen Auftraggebers des Nibelungenliedes. Rüdigers Heimat Bechelarn kann außerdem mit dem mhd. Diminutiv bechel (Bächlein) in Verbindung gebracht werden. Wolfger nannte sich von Erla nach der Erla, einem Nebenfluss der Donau, der nur ein kleiner Bach ist.[14]
Für Dietrich kommen vergleichbare Interpretationen in Frage. Sein Vorname ist ein Kompositum von mhd. diet und mhd. rîch und bedeutet wörtlich ‚reich an Volk‘. Die Figur lebt im Exil am Hunnenhof zusammen mit 600 Gefolgsleuten und ist deshalb ‚reich an Volk‘. Die genaue Zahl seiner Leute wird dreimal genannt (NLB 1870, 1992, KLB 325). Seine Heimat erinnert lautlich an das schwache mhd. Maskulinum ber (Bär) und könnte ‚Bärenstärke‘ andeuten. An das schwache mhd. Verb bern (schlagen) ist auch zu denken, denn Dietrich tritt als schlagkräftiger Kämpfer auf und nimmt in der Schlussszene des Epos die letzten Burgunden, Hagen und Gunther, gefangen. Das mittelalterliche Publikum wird beim Ortsnamen Bern jedoch in erster Linie an die norditalienische Stadt Verona gedacht haben, denn sie hieß auf Deutsch Bern. Ähnlich wie Bechelarn lautlich zugleich an die Donaustadt Pöchlarn und das mhd. Diminutiv bechel erinnert, könnte Dietrichs Heimat polysemantische Assoziationen erweckt haben. Seriöse Historiker bemühen sich darum, die Vergangenheit möglichst treu festzuhalten, fantasievolle Dichter darum, die Realität unter dem Schleier einer imaginären Scheinwelt zu interpretieren. Sie suchen nach Sinngebung. Deshalb sind viele Propria in Nibelungenlied und Klage als sprechende Namen zu verstehen, nicht nur Sifrit aus der Märtyrerstadt Xanten. Sie heißt im Epos Santen (NLB 18, 705) und fängt immer im Epos mit <S> an. Schon durch diese orthographische Wahl wird der Drachentöter als Heiliger stilisiert. Er ist dazu noch ein semantischer Namensvetter des heiligen Viktor, Xantens Schutzpatron. Siegfried ist deshalb als Verdeutschung von Viktor zu versehen.
Die ‚Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank‘ beruht auf normalisierten Editionen ohne Rücksicht auf die Handschriften. So heißt Siegfrieds Schwert heute ‚Balmung‘, obwohl die Handschriften den Namen mehrheitlich mit <P> schreiben, ähnlich wie mhd. palme. Wenn das Original auch ein anlautendes <P> hatte, suggerierte Siegfrieds Waffe durch die phonetische Assoziation mit der symbolischen Palme ‚Sieg‘ und ‚Frieden‘, ähnlich wie ihr Träger.[15] Deshalb lohnt es sich, die drei Haupthandschriften unter die Lupe zu nehmen. Sie enthalten je rund 50 Belege für Dietrichs Heimat, davon knapp ein Drittel in der Ableitung, die mit einer Endung den Einwohner bezeichnet, heute ‚der Berner‘. Insgesamt haben die Handschriften ABC 159 Belege.[16] Nur zweimal beginnt die Heimat mit <P> und nur in B. Der Kopist dieser Handschrift hat also offensichtlich zwei orthographische Fehler begangen. Es ist davon auszugehen, dass der Dichter im Original die Heimat akribisch mit <B> buchstabierte. Die Heimat erscheint immer im Dativ nach von und endet konsequent mit <e>. Das war höchstwahrscheinlich auch der Fall in der Ableitung. Das <e> fehlt nur einmal.
Was erfahren wir in Nibelungenlied und Klage konkret über Dietrich? Er lebt als Exilfürst am Hof des Hunnenkönigs Etzel und ist mit Herrat, der Nichte von Etzels erster Frau Helche, verlobt. Er hat 600 Gefolgsleute, die Amelungen genannt werden. Er wird als ihr Vogt (NLB 1727, 1978, 2244) und König (NLB 1978) bezeichnet. Über seine Vergangenheit vor dem Exil werden wir nie unterrichtet. Er lebt zusammen mit seinem alten Waffenmeister Hildebrand, der ihm ins Exil gefolgt sein muss. Wie bemerkt, hören wir erst von Dietrichs Existenz, als Etzel seiner zweiten Ehefrau Kriemhild in Tulln begegnet.
So fasst Lienert seine Taten im zweiten Teil des Epos zusammen: „Dietrich warnt die auf Einladung Kriemhilds hin eintreffenden Burgunden vor der Rache der Hunnenkönigin; dieser tritt er feindselig entgegen und lehnt es ab, sich für ihre Rachepläne einspannen zu lassen. Als nach dem Massaker an den burgundischen Knappen der Kampf in der Halle ausbricht, rettet er das Königspaar. In den Vernichtungskämpfen wahrt er Neutralität und untersagt seinen kampflustigen Gefolgsleuten noch nach Rüdigers Tod den Griff zu den Waffen. Durch wechselseitige Provokationen zwischen dem Hitzkopf Wolfhart und Volker kommt es jedoch zum Kampf zwischen Burgunden und Amelungen, bei dem Dietrich außer Hildebrand all seine Leute verliert. Dietrich beklagt seine Lage als gottverlassener ‚armer‘ Dietrich, strebt gegenüber den überlebenden Burgunden, Gunther und Hagen, aber dennoch rechtlichen Ausgleich an – vergeblich: Hagen besteht auf Kampf. Dietrich siegt, nimmt Hagen und Gunther gefangen und liefert sie, mit der Bitte um Schonung, weinend an Kriemhild aus. Nachdem diese Gunther hat töten lassen und Hagen eigenhändig enthauptet hat und dafür von Hildebrand in Stücke gehauen wurde, steht Dietrich zusammen mit Etzel klagend vor den Trümmern seiner Welt.“[17]
In der Klage steigt Dietrich zur Hauptperson auf. So fährt Lienert fort: „Nach einer moralisierenden Rekapitulation des Unheilsgeschehens im Nibelungenlied wird von der – hauptsächlich von Dietrich veranlassten – Bergung und Bestattung der Toten und den ausgiebigen Totenklagen berichtet. Dietrich tadelt Etzel für maßloses Klagen und Tatenlosigkeit und wird seinerseits von Hildebrand zu pragmatischem Umgang mit dem Leid gemahnt. Die Unglücksnachricht wird an die Hinterbliebenen überbracht. Auf Hildebrands Rat hin bricht Dietrich mit diesem und mit seiner Verlobten Herrat zur Rückkehr nach Italien auf. Unterwegs tröstet Dietrich Rüdigers Tochter Dietlinde.“[18]
In Bechelarn hört die eigentliche Handlung auf. Zum Schluss wird noch erklärt, dass Bischof Pilgrim die Ereignisse aufzeichnen ließ. Dietrich hat insgesamt 48 Reden.[19] Einmal werden seine Gedanken als innerer Monolog wiedergegeben. Im Epos sind die Reden kurz, im Epilog ufern sie zu rhetorischen Klagen aus. Dietrich hält insbesondere vier lange Reden, nachdem die Leichen von Kriemhild, Wolfhart, Giselher und Rüdiger gefunden worden sind. Er spricht die Toten mit ‚du‘ an, und seine Reden werden immer länger. Kriemhild lobt er in 20 (KLB 772–791), Wolfhart in 45 (KLB 1693–1703, 1717–1750), Giselher in 41 (KLB 1791–1831) und Rüdiger sogar in 64 Versen (KLB 1974–2037). Er hat in der Klage das letzte Wort. In seiner kurzen Schlussrede tröstet er Dietlinde. Er redet in der Klage so viel, dass fast ein Zehntel der Verse aus seinen Reden besteht.
Obwohl seine Heimat nie ausdrücklich in Italien lokalisiert wird, ist davon auszugehen, dass Dietrich nach der Einkehr in Bechelarn über die Alpen reist. Eine ähnliche Reise unternahm Wolfger 1204, als er das Bistum Passau Richtung Aquileia verließ. Unterwegs muss er seine Stammburg an der Erla besucht haben. Dietrichs Endstation in der Klage fällt also mit Wolfgers mutmaßlicher Endstation nördlich der Alpen zusammen. Es ist deshalb denkbar, dass Dietrich ähnlich wie Rüdiger und Pilgrim den Auftraggeber des Epos verkörpert. Mit dieser Deutung würden die drei Gestalten verschiedene Facetten der historischen Persönlichkeit widerspiegeln: Wolfger war zuerst deutscher Bischof und Lehnsmann, dagegen am Ende seines Lebens Italiener. Es ist vorstellbar, dass ihn der anonyme Dichter des Epos, vielleicht der geheimnisvolle Meister Konrad, nach Italien begleitete und dort das große Werk vollendete. Eine Spätdatierung um 1204 ist mit der Rezeption, insbesondere Wolframs Nibelungenpassus, vereinbar und erlaubt die Interpretation von Kriemhilds Hochzeit als Anspielung auf diejenige des Herzogs von Österreich im November 1203. Während der Rückreise von Wien nach Passau schenkte Wolfger dem Sänger Walther von der Vogelweide einen teuren Wintermantel, wohl für Unterhaltung beim Hochzeitsfest. Es wird dagegen unbekannt bleiben, womit der Bischof den Dichter des Nibelungenliedes belohnte. Ein Epos muss unendlich mehr wert gewesen sein als ein kurzes Hochzeitslied.
Abschließend ist die Frage nach den Quellen für die Dietrich-Gestalt zu erörtern. Dafür stellt Lienerts Handbuch ein nützliches Werkzeug dar. In der Einführung ist Folgendes zu lesen: „Die Identifikation des Sagenhelden mit dem Ostgotenkönig, Dietrichs von Bern mit Theoderich dem Großen, steht in den Zeugnissen nie in Frage, auch wenn bisweilen Fehler vorkommen, Verwechslungen oder auch absichtliche Gleichsetzungen mit anderen Trägern des Namens, insbesondere mit dem Westgotenkönig Theuderich I., Attilas Gegner in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern. Die Namensform Dietrich bzw. Detricus, Tetricus, Ditricus ist in volkssprachlichen Zeugnissen seit dem althochdeutschen Hildebrandslied (→ Nr. 505; Đeodric in den altenglischen Zeugnissen, ab etwa 8./9. Jahrhundert, → Nr. 38, 41, 52, 57, 58), im Lateinischen seit Metellus von Tegernsee (→ Nr. 99) greifbar; den Beinamen von Bern, de Berne bzw. Veronensis führt der Held seit dem Anfang des 11. Jahrhunderts (Annales Quedlinburgenses, → Nr. 69).“[20]
Lienerts Dietrich-Testimonien stammen sowohl aus Geschichtsquellen als auch aus Fiktion, und beide Gattungen werden grundsätzlich nicht unterschieden. Das Handbuch listet die Belege soweit wie möglich in chronologischer Reihenfolge auf, versucht aber nur in begrenztem Maße intertextuelle Bezüge aufzudecken und geht von mündlicher Sagenbildung vor dem Nibelungenlied aus. Obwohl das althochdeutsche Hildebrandslied erheblich älter ist als das Epos und die Heimkehr einer Figur inszeniert, die denselben Namen führt wie Dietrichs Waffenmeister, wird gewöhnlich nicht vermutet, dass das kurze, stabreimende Lied oder eine jüngere Umdichtung dem Autor des Nibelungenliedes vorlag. Der Schriftlichkeitsthese zufolge war das der Fall. Nach diesem Modell besaß der Epiker eine Handschrift mit irgendeiner Variante des Hildebrandsliedes, übernahm den Namen des heimkehrenden Kriegers und denjenigen seines Fürsten und beschrieb, wo sie vor der Heimkehr waren und was sie dort machten. Zwischen dem stabreimenden, in einem Fragment aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts überlieferten Älteren Hildebrandslied und dem strophischen, paargereimten, ab 1459 bezeugten Jüngeren Hildebrandslied (Nr. 240) muss eine verlorene mittelhochdeutsche Variante existiert haben. Sie ist indirekt durch die norwegische Prosa der Thidrekssaga (Kap. 403–411) und das Nibelungenlied belegt.
Im Älteren Hildebrandslied findet Dietrich dreimal Erwähnung, jedes Mal ohne Beinamen. Dagegen ist Bern im Jüngeren Hildebrandslied ausdrücklich das Ziel der Heimkehr, nach der Schriftlichkeitsthese wegen der Abhängigkeit dieser Dichtung vom Nibelungenlied. Die von Lienert genannten fünf altenglischen Zeugnisse können dagegen aus geographischen, sprachlichen und kulturellen Gründen keinen Einfluss auf das mittelhochdeutsche Epos ausgeübt haben, denn der Autor des Nibelungenliedes scheint keine andere Sprache beherrscht zu haben als Deutsch und Latein. Ohnehin ist im süddeutschen Sprachraum dieser Zeit unmittelbare Kenntnis englischer Literatur unwahrscheinlich. Endlich lokalisiert keines der englischen Dietrich-Testimonien die Heimat der Gestalt in Bern oder Verona.
Die meisten der 108 Dietrich-Testimonien vor dem Nibelungenlied stammen aus historischen Texten. In einigen von ihnen wird Dietrich nicht einmal mit Vornamen erwähnt. Sie beziehen sich fast ausnahmslos auf den historischen König Theoderich den Großen. Er war um das Jahr 451 in Pannonien, dem heutigen Ungarn, als Sohn des Theodemer, eines Angehörigen der gotischen Herrscherfamilie der Amaler, geboren. Als Achtjähriger wurde er vom Bruder seines Vaters dem oströmischen Kaiser Leo I. als Geisel für die Einhaltung eines Föderatenvertrags überstellt. In Konstantinopel verbrachte er zehn Jahre und erhielt dort seine Ausbildung. In die Heimat entlassen, zeichnete Theoderich sich in gewalttätigen Aktionen auf dem Balkan aus. Nach Theodemers Tod 474 folgte er diesem nach und etablierte sich in den Folgejahren gegen innergotische Rivalen als alleiniger Herrscher der pannonischen und thrakischen Goten, nunmehr Ostgoten. Im Einvernehmen mit dem oströmischen Kaiser Zeno zog er 488 mit seinen Ostgoten nach Westen gegen Odoaker, der den letzten weströmischen Kaiser, Romulus Augustulus, abgesetzt und die Herrschaft über Italien an sich gerissen hatte. Theoderich besiegte Odoaker in mehreren Schlachten, unter anderem bei Verona, und belagerte ihn fast drei Jahre lang in Ravenna. 493 tötete er seinen Gegner eigenhändig bei einem Gastmahl und ließ dessen Familie auslöschen. Theoderichs Herrschaft brachte Italien jahrzehntelangen Frieden, politische Stabilität und kulturelle Blüte. Er starb 526 an einer infektiösen Erkrankung.[21]
Nur drei Motive aus Theoderichs Leben spiegeln sich im Nibelungenlied wider. Zum ersten sind die literarischen Amelungen nach dem gotischen Geschlecht der Amaler benannt, dem Theoderich entstammte. Zum zweiten erinnert Dietrichs Exil am Hunnenhof an dasjenige des jungen Theoderich in Konstantinopel. Endlich scheint Dietrichs Heimat eine Reminiszenz an die Schlacht zu sein, bei welcher Theoderich Odoaker besiegte und die Herrschaft in Norditalien übernahm. Der Ostgote residierte und herrschte hauptsächlich in Ravenna und hatte zwar einen weiteren Palast in Verona, aber Verona war nie seine Hauptstadt.
Sieben Texte enthalten vor dem Nibelungenlied diese drei Motive.[22] Die Schlacht bei Verona wird schon um 507 zu Lebzeiten des ostgotischen Königs in einer Lobrede des Ennodius genannt und ist also historisch belegt. In seiner einflussreichen Gotengeschichte erklärte Jordanes einige Jahrzehnte nach Theoderichs Tod, dieser sei aus dem ostgotischen Geschlecht der Amaler gewesen. Dieselbe Angabe kann der Dichter des Nibelungenliedes auch späteren Texten entnommen haben, zum Beispiel der Weltchronik des Frutolf von Michelsberg. Theoderichs Palast in Verona findet Erwähnung in der Fredegar-Chronik, die ausführlich von Brunechild berichtet und als wahrscheinliche Quelle für diese weibliche Gestalt anzusehen ist. Das volkssprachliche Ältere Hildebrandslied erwähnt Dietrichs Flucht in den Osten, ohne sein Exil genauer zu lokalisieren. In all diesen Texten ist Theoderichs Beziehung zu Verona noch dünn. In den spät und unikal überlieferten Annales Quedlinburgenses wird Verona dagegen ausdrücklich als seine Heimat beschrieben, und sein Exil wird an Attilas Hof lokalisiert. Wir finden in diesen Annalen die halbdeutschen Formen Amulung, Thideric und Berne. Vieles spricht in diesem Fall für jüngere Interpolationen, denn die einzige erhaltene Abschrift der Annalen stammt aus dem 16. Jahrhundert. Als erstes deutschsprachiges Dietrich-Testimonium belegt die Kaiserchronik um die Mitte des 12. Jahrhunderts die Form Bern, aber noch ohne Bezug auf Dietrich. Viel später in dieser Reimchronik taucht Dietrich verdoppelt als Dietrich der Alte und Dietrich der Junge auf. Sie sind Großvater und Enkel. Der Enkel entspricht dem historischen Theoderich, der Großvater ist unhistorisch. Dieser lebt im Exil bei Etzel, dessen Name auch hier erstmals verdeutscht ist. Die Kaiserchronik gehört deshalb zu den wahrscheinlichen Quellen des Nibelungenliedes.
Um 1190 bekam Theoderich erstmals seinen wohlbekannten Beinamen, allerdings indirekt nur durch seinen Vater. Im Pantheon benutzte Gottfried von Viterbo ohne Erklärung das Adjektiv Veronensis als Epitheton für Theodemer.[23] Dieses stauferfreundliche Geschichtswerk ist in 40 Handschriften erhalten, kann leicht um 1200 zur Bibliothek des Passauer Bistums gehört haben und kommt deshalb als unmittelbare Quelle für das Nibelungenlied in Frage. Das letzte Dietrich-Testimonium vor dem Nibelungenlied ist die lateinische Kölner Königschronik, die bis 1202 reicht. Sie kommt nur als Quelle in Frage, wenn das Nibelungenlied erst 1204 vollendet wurde. Die Kölner Königschronik erzählt zum Jahr 1197, wie Dietrich an der Mosel als Gespenst auf einem schwarzen Pferd erschien. Er wird je nach Redaktion als ehemaliger König von Verona oder Dietrich der Veroneser bezeichnet.[24] In beiden Fällen ist ein Einfluss des Nibelungenliedes auf die Chronik möglich, zumal die halbdeutsche Form Bernensem benutzt wird. Als Ergebnis der vorliegenden Untersuchung erscheint deshalb Gottfrieds Pantheon als die wahrscheinlichste Quelle für den Beinamen ‚von Bern‘.
[1] Vgl. Peter Andersen, Nibelungenlied und Klage: eine niederösterreichische Doppeldichtung?, in: Alfred Noe und Hans-Gert Roloff (Hrsg.), Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750), Beiträge zur sechsten Arbeitstagung in St. Pölten (Mai 2019), Bern [u.a.] 2020 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, A/139), S. 451–510 und Marie-Barbara Vieuxtemps, Die Entwicklung der Brünhild-Figur bis zum Ausgang des Mittalters. Eine Studie zur Intertextualität, Lausanne 2023 (Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte, 69).
[2] Wilhelm Grimm, Die Deutsche Heldensage, Göttingen 1829, S. 4 mit Hinweis auf Peter Erasmus Müller, Sagabibliothek med Anmærkninger og indledende Afhandlinger, Bd. 2, Kiøbenhavn 1818, S. 2, 17, 124, 133f. (Datierungen zwischen dem 8. und 9. Jahrhundert.)
[3] Strophen- und Verszählung in Nibelungenlied und Klage nach: Joachim Heinzle (Hrsg.), Das Nibelungenlied und die Klage. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung und Kommentar, Berlin 2013 (Bibliothek des Mittelalters, 12).
[4] Peter Andersen, Nibelungenlied und Klage, a.a.O., S. 470.
[5] Vgl. Marie-Barbara Vieuxtemps, Die Entwicklung der Brünhild-Figur, a.a.O., S. 281–400.
[6] Elisabeth Lienert, Dietrich-Testimonien des 6. bis 16. Jahrhunderts, Tübingen 2008 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik, 4).
[7] Die eigentliche Dietrich-Epik besteht insbesondere aus folgenden Werken: Eckenlied (Nr. 124), Goldemar (Nr. 126), Laurin (Nr. 129), Sigenot (Nr. 130), Virginal (Nr. 131), Rosengarten (Nr. 136), Biterolf und Dietleib (Nr. 137), Thidrekssaga und Didrikskrönikan (Nr. 138), Dietrich und Wenezlan (Nr. 139), Dietrichs Flucht (Nr. 158), Rabenschlacht (Nr. 159), Alpharts Tod (Nr. 160) und Dietrich und Fasold (Nr. 175).
[8] Elisabeth Lienert, Dietrich-Testimonien, a.a.O., S. 90 für das Nibelungenlied (ähnlich S. 91 für die Klage).
[9] Günter Grass, Das Treffen in Telgte. Eine Erzählung, Darmstadt & Neuwied 1979.
[10] Vgl. die chronologische Zusammenstellung von 104 Rezensionszeugnissen verschiedener Art auf dem ‚Gottfried-Portal‘: <http://gottfried.unistra.fr> (unter Rezeption des Nibelungenliedes). Alle Zugriffe dieses Beitrags am 21.10.2024.
[11] Dänische Balladen (Nr. 323, zahlreiche Handschriften und Drucke aus dem Zeitraum 1555−1850).
[12] Kriemhilt: NLA 276, NLB 275, NLC 263, KLA 99 (NLA + KLA: 375); Hagen: NLA 351, NLB 402, NLC 366, KLA 8 (NLA + KLA: 359); Sifrit: NLA 337, NLB 346, NLC 330, KLA 9 (NLA + KLA: 346); Gunther: NLA 249, NLB 260, NLC 245, KLA 23 (NLA + KLA: 272); Etzel: NLA 185, NLB 187, NLC 192, KLA 64 (NLA + KLA: 249); Rüedeger: NLA 159, NLB 157, NLC 150, KLA 44 (NLA + KLA: 203); Dietrich: NLA 78, NLB 77, NLC 73, KLA 66 (NLA + KLA: 144); Brünhilt: NLA 101, NLB 93, NLC 101, KLA 10 (NLA + KLA: 111). Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank (MHDBDB), Salzburg [u.a.]: <https://www.plus.ac.at/mittelhochdeutsche-begriffsdatenbank> [Bestandsaufnahme mit der alten Version].
[13] Hagen von Tronege/der Tronegære: NLA 73, NLB 71, NLC 73, KLA 4 (NLA + KLA: 77); Dietrich von Berne/der Bernære: NLA 26, NLB 28, NLC 29, KLA 25 (NLA + KLA: 51); Rüedeger von Bechelarn: NLA 29, NLB 28, NLC 29, KLC 12 (NLA + KLA: 41).
[14] Peter Andersen, Bechelaren wie bechel und Prünhilt wie prüeven. Eine zweite Studie zum Anlaut in Nibelungenlied und Klage, in: Hans-Joachim Solms und Jörn Weinert (Hrsg.), Deutsche Philologie? Nationalphilologien heute, Berlin 2021 (Sonderhefte der Zeitschrift für deutsche Philologie, 139), S. 181–214.
[15] Ders., Das Sieges- und Friedensschwert Palmunc. Eine Studie zum Anlaut in Nibelungenlied und Klage, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 136 (2017), S. 87–121.
[16] 52 Belege in A (NLA 27 + KLA 25): Bernære (NLA 1), Berne (NLA 24, KLA 14), Berner (NLA 1), Bernere (NLA 1, KLA 11); 52 Belege in B (NLB 27 + KLB 25): Bernære (NLB 3, KLB 10), Berne (NLB 24, KLB 13), Pernære (KLB 1), Perne (KLB 1); 55 Belege in C (NLC 29 + KLC 26): Bernære (NLC 4, KLC 10), Berne (NLC 25, KLC 14), Bernerare (KLC 1), Bernere (KLC 1).
[17] Elisabeth Lienert, Dietrich-Testimonien, a.a.O., S. 90f. (mit Weglassung der Klammern).
[18] Ebd., S. 92 (mit Weglassung der Klammern).
[19] NLB 1344–2374 (= Aventiure 22, 28–29, 31, 33, 37–39): 27 Reden mit 136 Versen (= 1,4 % der 9504 Verse); KLB 322–4325: 21 Reden mit 412 Versen (= 9,4 % der 4360 Verse).
[20] Elisabeth Lienert, Dietrich-Testimonien, a.a.O., S. 3.
[21] Ebd. S. 2 (hier ausführlicher).
[22] Ennodius, Panegyricus Theoderico regi dictus, um 507 (Nr. 6): apud Veronam (Schlacht); Jordanes, Getica, 550/551 (Nr. 22): Amali (ostgotisches Geschlecht); Fredegar-Chronik, 658/660 (Nr. 37): Verona (Schlacht) und Verona (Palast); Hildebrandslied, 830/840 (Nr. 50): Theotrihhe (Flucht in den Osten); Annales Quedlinburgenses, Anfang 11. Jh. (überliefert in der Handschrift des 16. Jh., Nr. 69): Theodoricum […] de Verona pulsum apud Attilam exulare coegit (Verona Heimat, Exil bei Attila) und Amulung Theoderic und Thideric de Berne (jüngere Interpolationen); Frutolf von Michelsberg, Chronicon universale, 1098/1099 (Nr. 83): Amali; Kaiserchronik, 1140/1150 (Nr. 94): Bern (v. 6971) und Dietrich der Alte (v. 13841–13855, Exil bei Etzel).
[23] Gottfried von Viterbo, Pantheon, 1190/1191 (Nr. 104): Teodericum, filium Teodemari, scilicet Veronensis (Dietrich, Sohn des Theodemer, des Veronesers).
[24] Chronica regia Coloniensis, um 1202 (Nr. 108, zum Jahr 1197): Theodericum Bernensem (Dietrich der Veroneser) und Teodericum quondam regem Verone (Dietirich, ehemaliger König von Verona).
