Der aufhaltsame Untergang – Alternative Wendungen zur Dramaturgie des Nibelungenstoffes

von Volker Gallé

Vorbemerkung

Die Idee zu diesem Text ist über Jahre der Beschäftigung mit den Inszenierungen der Nibelungenfestspiele gereift, der Entschluss zum Vortrag wurde im Sommer 2018 gefasst und er wurde geschrieben, ohne das Festspielstück von Thomas Melle von 2019 zu kennen. Dem Untergang zu widersprechen war schon immer – auch bei der intensiven Beschäftigung mit anderen literarischen Texten, z.B. mit Franz Kafka – mein Impuls. Es reizte mich schon immer, der analytischen Maschine Sand ins Getriebe zu streuen.

Inszenierung Nibelungen-Festspiele, 2018, Foto: David Baltzer

Drei gute Gründe

1. Ambivalenzen sind im Narrativ angelegt und damit sind Weggabelungen möglich

Die Qualität von Texten liegt in ihrer Mehrdeutigkeit. Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat den Verlust von „Mehrdeutigkeit und Vielfalt“1 als Problem der von Europa dominierten Moderne diagnostiziert und darauf verwiesen, dass die Welt im Grunde uneindeutig sei: „Menschen sind ständig Eindrücken ausgesetzt, die unterschiedliche Interpretationen zulassen, unklar erscheinen, keinen eindeutigen Sinn ergeben, sich zu widersprechen scheinen, widersprüchliche Gefühle auslösen, widersprüchliche Handlungen nahezulegen scheinen. Kurz: Die Welt ist voll von Ambiguität.“2 Sein Befund kollektiver Prädispositionen scheint mir zwar zutreffend, aber auch einseitig, denn insbesondere die Kunst weckt bis heute unser besonderes Interesse, wenn sie Widersprüche zulässt, thematisiert, offene Fragen mancherorts stehen lässt.

So ist auch der ganze Nibelungenstoff voll von Widerhaken gegen eindeutige Lesungen, die dem Handlungsverlauf eine von seinem ende her innewohnende Logik einschreiben wollen. Das gibt die Möglichkeit, ihn anders fort zuschreiben als es der anonyme Autor um 1200 getan hat, und es schützt ihn zudem vor propagandistischer Vereinfachung, indem es den Text selbst auf längere Sicht über die Propagandamaschine lachen lässt.

So rührt das Changieren zwischen Siegfried und Hagen im politischen Mythos ab 1871, also zwischen Sieg, Treue und Dolchstoß, aus der Reduktion des Nibelungen-Narrativs auf ein dramaturgisch unverbundenes Nebeneinander politisch nutzbarer Eigenschaften. Das aber übersieht die Subversivität des Narrativs in Mythos und Epos. Herfried Münkler schreibt: „Der Leser des Epos wußte noch: Siegfried und/oder Hagen zu folgen, führte in Tod und Untergang – aber der enthusiasmierte Bürger des neuen Reiches sah in Hagen und Siegfried nur Symbole einer strahlenden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft…Was den politischen Mythos vom Epos ebenso unterscheidet wie vom historischen Ereignis, ist der völlige Verzicht auf Stringenz und Konsequenz der Erzählung.“ 3

Daher entsteht auch die Lust am anders Erzählen, ja auch die Notwendigkeit anderen Erzählens.

Epos und Autor:

In der vorletzten Strophe der 39. Aventiure wird die Tendenz des anonymen Autors zum Leidenspol des Narrativs ausgesprochen:

mit leide was verendet des küniges hohgezit,
als ie diu liebe leide z’aller jungeste git

(Leidvoll ging des Königs Fest zu Ende,
wie stets die Liebe schließlich zum Leid führt.)

Bereits in der 17. Strophe der 1. Aventiure, in Kriemhilds Falkentraum, wird dieses Motiv gesetzt:

ez ist an manegen wiben vil dicke worden sin,
wie liebe mit leide ze jungest lonen kan.

(Es hat sich an vielen Frauen immer wieder gezeigt,
wie Liebe schließlich mit Leid belohnt wird.)

Und das Motiv kehrt wieder am Ende des Textes als Resümee von „der Nibelungen Not“: „Diu liute heten alle jamer unde not. (Alle Leute befanden sich im Zustand von Jammer und Elend.)

Der Untergang wird als Not erfahren und ist eine folge von Liebe, die in Leid endet. Der Autor feiert die Not nicht, aber er wendet sie auch nicht, wie wohl er Möglichkeiten dazu anlegt.

Wieso? Das weiß ich nicht und werde diesmal auch nicht weiter danach fragen.

Aus heutiger Sicht würde man vielleicht einen Widerspruch von Liebe und Politik im Besonderen und von Eros und Realität im Allgemeinen formulieren. Die ganze moderne Literatur seit dem bürgerlichen Trauerspiel hat sich an diesem Thema abgearbeitet, aber nach dem Sturz der feudalen Gesellschaft, zumindest an der Oberfläche, nicht mehr an mittelalterlichen Verknüpfung von Familie und Herrschaft, auch wenn im Untergrund die alten Modelle als Sehnsucht nach autoritären Strukturen bis heute lebendig sind und auf Grund ihrer Regellosigkeit zu noch größerer Gewalt neigen als im Mittelalter. Aber auch wenn in der mittelalterlichen Realität Heiraten in den Herrscherfamilien in der Regel aus politischem Kalkül und nicht aus Liebe geschlossen werden, regt sich, gerade in der Literatur, bereits deutlich Widerstand dagegen, nicht nur im Minnesang, sondern auch im Epos. Die Liebe ist oft ein Störfaktor für die Politik, sei es die verbotene Liebe bei Tristan und Isolde oder Lancelot und Ginevra oder die nibelungische Doppelbeziehung von Siegfried/Kriemhild und Gunther/Brünhild.

Aber sowohl in der politischen Realität des Mittelalters als auch in der Literatur gibt es nicht nur die Möglichkeit gewalttätiger Zuspitzung zu Racheketten, sondern auch die Möglichkeit zur versöhnenden Vermeidung gewalttätiger Destruktion. Für die sozialen Regeln des Umgangs hat das vor allem Gerd Althoff ausgeführt.4 Im Nibelungenlied empfiehlt Hagen in Strophe 101 der 3. Aventiure den angriffslustigen Siegfried durch Einbindung in burgundische Politik und Familie zu zähmen (Sachsenkrieg, Heirat mit Kriemhild). Hagen ist lange Zeit vorausschauend, was mögliche Konflikte angeht und macht immer wieder pragmatische Vorschläge zur Gewaltvermeidung. Erst mit dem aus Staatsräson begründeten Mord an Siegfried kippt sein Verhalten. Damit sind wir durchaus in der Gegenwart angelangt, sowohl was die Medienkultur (bad news are good news sowie Hassmails und Twittergewitter) als auch die Unlust am Merkelismus als politischem Leitbild angeht. Und in gegenwärtigen Inszenierungen eines mittelalterlichen Stoffs geht es um das Spiel von Alterität und Identität und damit von Mehrdeutigkeiten auf verschiedenen Ebenen. Das Marketing ist es meist, dass falsche Kurzschlüsse in die Welt setzt, die den Besucher dann notwendigerweise enttäuschen, die Wissenschaft dagegen überbetont gern die Alterität und vergisst dabei den ebenso zwangsläufigen wie berechtigten Prozess des Verstehens.

2. Katharsis und Mimesis – Theaterpädagogik

In der aristotelischen Poetik bedeutet Katharsis die Reinigung von Affekten in der Tragödie durch das Miterleben von Rührung und Schrecken. Lessing hat das als Mitleid und Furcht übersetzt. Die Potenzierung des Schreckens in der Kunst der Moderne lässt Zweifel zu, ob das Miterleben von Gewalt, oft ohne Rührung, die erhoffte Publikumsreaktion erzeugt, nämlich es anders, besser machen zu wollen. Neben der Katharsis kennt Aristoteles auch das Prinzip der Mimesis, der Nachahmung. Und das scheint sich heutzutage mindestens so stark zu verbreiten wie das der Katharsis, gerade in der Massenkultur. Der Religionsphilosoph René Girard hat den Mimesisprozess der Gewalt beschrieben: Stärkung der eigenen Identität durch Abspaltung von Einzelnen und Minderheiten, Infizierung ganzer Gruppen durch nachahmende Gewalt bis zur Ausblutung der Exzesse in einem Erschöpfungsfrieden. Daher scheint es mir an der Zeit, sowohl Mitleid als auch

Best practice (Vorbildverhalten) nicht so sehr als sentimentalen Kitsch abzutun. Mehrdeutigkeiten sind angesagt und derzeit herrscht ein Mangel an Problemlösungsmut. Dekonstruktion gibt es dagegen im Überfluss

3. Langeweile

Nicht nur Dekonstruktion finde ich mittlerweile todlangweilig, sondern auch den immer gleichen Ablauf der Nibelungendramaturgie. Neubearbeitungen müssen keineswegs am Handlungsverlauf des mittelalterlichen Stoffs festhalten. Der anonyme Autor hat ihn als seinen Standpunkt präferiert, aber er hat zahlreiche andere Möglichkeit angelegt und dann ausgelassen. Man sollte ihm eher widersprechen wollen als ihn nur nachzuahmen. Allerdings gehört Entdeckermut zum Einbruch in eingeübte Grundmuster.

Weggabelungen und alternative Wendungen

Je früher man in die bekannte Dramaturgie einsteigt, desto offener sind die möglichen Wege.

Immer wieder tauchen andere, oft bereits bekannte Dramaturgien auf. Es gibt in der Kulturgeschichte so etwas wie ein narratives Magazin, das vielfältig verwendbar, kombinierbar und gestaltbar ist

a. Falkentraum

Bereits ganz am Anfang, in der ersten Aventiure, wäre eine andere Wendung der Dramaturgie möglich, und zwar in Strophe 13, wenn Kriemhild ihren Falkentraum erzählt: Sie sah, wie sie einen schönen, starken und wilden Falken abrichtete, den ihr plötzlich zwei Adler schlugen. Das Mitansehen empfand sie als großes Leid. Ihre Mutter Ute deutet den Falken als Geliebten, den Kriemhild schnell verliert. Daraufhin überlegt Kriemhild , auf die Liebe eines Kriegers zu verzichten.

Es wäre also durchaus möglich, dass sie bei dieser Haltung auch dann bleibt, als Siegfried am Burgunderhof auftaucht und dass sie ihn nicht nur abweist, sondern, auch ohne Erlaubnis der Familie, bewusst mit Blick auf ihre Traumahnung auf erotische Liebe verzichtet und Mitglied einer Beginengemeinschaft oder eines Frauenordens wird. Ein solcher Verzicht war im Mittelalter nicht nur eine der wenigen Möglichkeiten selbstbestimmten Lebens und gesellschaftlichen Einflusses für adlige Frauen (z.B. Hildegard von Bingen), sondern hat auch mythologische Wurzeln im Bild der jungen Frau, die sich Männern verweigert, sei es im Artemismythos, im Amazonennarrativ oder auch in der Brünhildfigur, quer durch die Kulturen. Aber damit müsste die Geschichte nicht zu Ende sein. Es wäre denkbar, dass Siegfried ein rheinisches Reich errichtet, das zwischen Römern und Hunnen, aktualisiert Franzosen und Preußen unter die Räder zu geraten droht. Das erlebt Kriemhild mit und entschließt sich zu handeln, etwa nach dem Vorbild der Jungfrau von Orleans. Sie greift in den Kampf ein, indem sie Siegfried, wie auch immer, unterstützt. Am Ende müsste sie nicht verraten werden, sondern könnte kurz vor einer endgültigen Niederlage der Rheinländer mit Siegfried in einen Liebesgarten fliehen, der in einem märchenhaften Wald liegt, etwa nach Motiven der Artussage. Am Ende könnte eine Rosenhecke um das Paar wachsen. Das würde dann immer noch auf eine anders geartete Erlösung drängen und wäre doch ein vorläufiges plausibles Ende dramatischer Handlung, ein vorübergehendes zur Ruhe Kommen. An welcher Stelle man einen wie auch immer gearteten Schluss dieser neuen Story setzt, lasse ich offen.

b. Siegfried und Worms

Wie bereits angedeutet, kennt Hagen Siegfrieds Vorgeschichte und schätzt auch seine Herrschaftsabsichten richtig ein. Er könnte ihn von Worms fern halten, indem er die Tore schließen lässt und ihn auf eine andere Fährte bringt, eine reichere Burg, eine schönere Frau – im NIbelungenlied entflammen ja alle an Erzählungen. Worms wäre damit raus aus der Geschichte, aber es würde eine andere Siegfriedgeschichte beginnen. Die könnte auch eher parzivalartig als Erziehungsroman verlaufen. Nach einer mehr oder weniger geglückten Erziehungsphase könnte Siegfried aller Illusionen enttäuscht sein und nach Worms zurückfinden, um Kriemhild zu begegnen. Aber ähnlich wie bei Kafkas „Vor dem Gesetz“ bliebe das Wormser Tor verschlossen und er stirbt wartend. Denkbar wäre aber auch, dass Siegfried in Worms Einlass findet und sich nicht auf die Brünhildintrige einlassen muss, weil Kriemhild kluge Prinzessin spielt und ihm drei Aufgaben stellt, die zu erledigen sind. Ein Märchenausgang wie ein Scheitern wären erzählbar, aber auch ein Abbruch mittendrin, indem Siegfried Kriemhild raubt und mit nach Xanten nimmt. Dort wird dann eine Komödie nach dem Modell „Der Widerpenstigen Zähmung“ gespielt, ein in Mittelalter und früher Neuzeit beim Publikum beliebtes Motiv, das auch in Hollywoodfilmen wieder auftaucht, z.B. in Filmen von Katharine Hepburn. Denkbar wäre aber auch, dass Hagen Gunther von der Brünhildidee abbringt – er rät ja anfangs tatsächlich davon ab – und eine Heirat mit der Schwester von Siegfried vermittelt. Es kommt zu einer Doppelhochzeit und zu einer Vereinigung beider Königreiche, die dann aber politisch in Konflikt geraten zwischen West und Ost, ohne dass die Familie von innen entzweit wird.

c. Aufstand der Frauen statt Zickenkrieg

In der 14. Aventiure wird der Könginnenstreit erzählt. Kriemhild und Brünhild definieren sich durch den Rang ihrer Männer. Dadurch dass der Streit am Nordportal als einem klassischen Rechtsort ausgetragen wird, wird alles öffentlich und beeinträchtigt damit die Stellung Gunthers. Siegfried beeidet, seiner Frau nicht gesagt zu haben, er habe Brünhild zu seiner Geliebten gemacht. Gunther spricht ihn daraufhin auf einer öffentlichen Gerichtsversammlung der Burgunder frei. Damit wäre die Sache nach dem Gesetz bereinigt gewesen. Siegfried sagt: „Man soll Frauen so erziehen, dass sie übermütiges Gerede bleiben lassen.“ Das wäre dann aber das Ende der Handlung. Aber die Geschichte könnte auch von beiden Frauen ganz anders angegangen werden. Statt dass die beiden Königinnen sich über den Rang ihrer Männer zerstreiten, wäre es natürlich auch möglich, dass sie sich nicht öffentlich, sondern privat treffen und über das Geheimnis der Hochzeitsnacht und den doppelten Tarnkappenbetrug an Bründhild austauschen und sich gegen die Männer solidarisieren. Das könnte auch vermittelt werden durch eine neu eingeführte starke Frauengestalt, die wie Hagen die Männer ihrerseits die Frauen berät, z.B. eine Abtissin. Aus der Aussprache könnte sich ein Frauenbündnis entwickeln, das zu einer Rebellion der Frauen führt, z.B. durch eine gemeinsame und sich als Aktion im ganzen Burgund verbreitende Beischlafverweigerung mit dem Ziel, den Betrug zu sühnen, öffentlich zu machen, Macht abzugeben, einen Frauenrat mit politischen Einspruchsrechten am Hof zu installieren etc. Es wäre denkbar, dass sich diese Frauenbewegung in Auseinandersetzungen mit anderen Königreichen bewährt, u.a. indem die temporäre Verweigerungsstrategie sich weiter verbreitet. Vorbild könnte das pazifistische Drama Lysistrata von Aristophanes sein.

d. Brünhild durchschaut die List, Bauernaufstand gegen Gunther

Wenn Siegfried sich mit einer Tarnkappe unsichtbar machen kann, wäre es der ebenfalls besonders starken Brünhild natürlich möglich, diese Tarnung mit einem anderen Zauber aufzuheben. Dabei könnten ihr isländische Zwerge oder andere Elementarwesen helfen. Sie könnte sich zum Schein auf den Betrug einlassen, um dann bereits auf Island oder aber erst in Worms das Geheimnis gegenüber den burgundischen Gefolgsleuten zu lüften und einen Bauernaufstand gegen Gunther anzuzetteln, der gelingt. Denkbar wäre entweder, dass sie Hagen, der eher als eine Art Merlin gezeichnet werden könnte, auf ihre Seite bringt und ihn heiratet, um gemeinsam mit ihm zu herrschen. Aber sie könnte sich auch Siegfried zuwenden und ihn mit Kriemhild zum burgundischen König machen, wenn er sich als ihr Lehensmann verpflichtet. Gunther würde dann des Landes verwiesen. Damit würde sie allerdings die zunächst von ihr propagierte Idee einer Bauernrepublik verraten. Es entstünde eine globale Spannung zwischen einer Weltenherrscherin auf Island und einem einzelnen verstoßenen Mann. Aber auch da könnte sich die Macht wieder verschieben durch eine Reinigung von Gunther, der geläutert als eine Art Missionar zurückkehrt und neue republikanische Gesetze für und mit den Bauern aufstellt, die Wormser Republik.

e. Kreuz an falscher Stelle

Das Kreuz, das Kriemhild Siegfried auf den Rücken näht, könnte aus Absicht – weil sie Hagen durchschaut oder aus Zufall, weil das Hemd beim Trinken verrutscht – an falscher Stelle sein, so dass Siegfried Hagens Attacke bemerkt und ihn tötet. Siegfried und Kriemhild übernehmen das Königreich, alle Mitwisser des Komplotts werden ausgeschaltet, wie auch immer. Es könnten zum einen Schwierigkeiten aus der Feindseligkeit der Ausgeschalteten entstehen, es könnte sich aber auch der Falkentraum wieder andeuten. Kriemhild ahnt das daraus folgende Unheil gegenüber den Imperien in West und Ost. Es gelingt ihr durch geschickte Diplomatie einen kulturell bedeutsamen Hof am Rhein zu etablieren, der als Brücke zwischen den Imperien dient und respektiert wird. Es könnte aber auch sein, dass Siegfried diesen Weg nicht gehen will und auf seine kriegerischen Kräfte setzt und dabei umkommt, eine andere Falle, auch als Zufall denkbar. Kriemhilds Königinnenreich wie oben beschrieben könnte dann erst erst danach Wirklichkeit werden. Es wäre auch denkbar, dass Kriemhild sich auf eine Rolle als Äbtissin zurückzieht. Eine andere Variante wäre, dass erst die Kinder von Siegfried und Kriemhild nach der verschwiegenen Vorgeschichte suchen und bei der Entdeckung des Geheimnisses ein anerzogenes Trauma lösen.

f. Kriemhild wird mit Schatz abgefunden

Hagen versenkt den Schatz nicht im Rhein, sondern Gunther findet Kriemhild mit dem Schatz und einem Anteil aus dem Burgunderschatz, einem Viertel, ab. sie heiratet nicht Etzel und übt auch keine Rache – materielle Abfindungen sind auch bei Mord im Mittelalter denkbar –, sondern gründet einen Frauenstaat. Vorbild könnte Christine de Pizans „Stadt der Frauen“ aus dem 15. Jahrhundert sein. Die zu erbauende Stadt soll ein Schutzraum für Frauen sein, der zeigt, dass die Frauen nicht, wie in zeitgenössischen Motiven behauptet, Männer zu Krieg und Zerstörung anstiften, sondern im Gegenteil durch ihre ethischen Grundsätze und ihre Klugheit Frieden stiften. Es ist ein utopischer Entwurf, der durchaus in die höfische Zeit passt. Es ist nicht nur ein Gegenentwurf zu Motiven der Rosenromane, sondern – ohne Bezug zu nehmen – auch auf das Nibelungenlied, in dem es bereits in Strophe 6 über die Burgunderkönige heißt, sie würden am „Haß zweier Königinnen kläglich zugrunde gehen.“ In Strophe 2371 nennt Hagen Kriemhild eine „valandinne“, eine Teufelin. Diese Sicht der Dinge, die auch heute immer wieder befremdet, wird in der den Handschriften oft angehängten Nibelungenklage relativiert. Das Thema weiblicher Rache und ihrer besonderen Entstehung, ihres besonderen Verlaufs und ihrer besonderen Heilung bliebe dennoch ein spannender Stoff, z.B. indem ein Mord an einem Kind oder einem Geliebten Rachefantasien einer herrschenden Frau in der utopischen Stadt auslöst, die aber bewältigt werden in einem Heilungsprozess, der die Verwandlung der rächenden Person und ihres Umfelds zum Bösen drastisch vor Augen führt, um dann in der Wirklichkeit eine andere Lösung zu suchen, sozusagen eine Katharsis in einem Stück im Stück.

g. Hagens wiederholte Warnung

Hagen warnt vor Siegfried ebenso wie vor Brünhild, aber auch vor der Heirat mit Etzel und vor der Reise an den Hunnenhof auf Einladung Kriemhilds. Er ist nicht nur der Vertreter der Staatsgewalt, der sich mit der Ermordung Siegfrieds übers Gesetz stellt, sondern – und das viel häufiger – ein vorausschauender Warner. Es wären also an all seinen Warnungseingriffen alternative Handlungen möglich. So könnte er die Heirat mit Etzel verhindern und auch die Burgunder von der Reise an den Hunnenhof abhalten, z.B. indem er die christliche Kirche nutzt, um eine Verbindung von Christen und Nicht-Christen auszuschließen. Daraus könnte dann allerdings wieder ein Konflikt mit den Hunnen entstehen. Historisch fanden sich Burgunder sowohl auf Seiten der Hunnen als auch auf der Seite ihrer römischen Gegner. Das wäre dann ein ganz anderer Konflikt, sozusagen um die Vorherrschaft Europas zwischen West und Ost. Dementsprechend gibt es ja auch zwei gegensätzliche Etzelüberlieferungen, die vom gastfreundlichen Herrscher wie im Nibelungenlied, einem edlen Wilden, der an der Bildung des Westens interessiert ist und enttäuscht wird – das entspricht in der Historie teilweise der imperialen Pax hunnica – und der vom mordlüsternen Wilden, der die westliche Kultur zerstört wie in der nordischen und der venezianischen Überlieferung, der Gefahr aus dem Osten, ein Motiv, das sich mit den Ungarn der ottonischen Zeit, den Mongolen des Mittelalters, den Türken der frühen Neuzeit und gegenwärtig mit den Chinesen fortsetzt. Geschildert würde die Spaltung der burgundisch Gesellschaft am Rhein und deren Folgen.

h. Etzel durchschaut Kriemhilds Rachepläne

Trotz der Betonung seiner Gastfreundschaft könnte Etzel durchaus in der Lage sein oder in die Lage versetzt werden, Kriemhilds Rachepläne zu durchschauen, sei es durch seine höfische Spionageabwehr, durch seine Reflexion der Beziehung als Mann, durch eine schamanistische Seherin oder einen Berater wie Dietrich von Bern – vergleichbar Hagen auf burgundischer Seite – oder weil er Volker vom Untergang singen hört. Da ihm in erster Linie an seinem Thronfolger gelegen ist, würde er dann Ortlieb in Sicherheit bringen. Er könnte die Anwesenheit der mit ihm familiär verbundenen Burgunder gezielt nutzen, um einen Aufstand im Osten niederzuschlagen. Nehmen wir an, dass dabei Gunther, Hagen und Gernot fallen und sich Etzel mit Giselher, der mit Gotelind, der Tochter seines Markgrafen Rüdiger verheiratet ist, ein dauerhaftes Bündnis schließt. Kriemhilds Todeswunsch gegenüber Hagen wäre dadurch obsolet. Es wäre denkbar, dass sie dann mit Mitteln beider Königshäuser zur Vergangenheitsbewältigung eine Art Siegfriedstiftung errichtet mit dem Ziel, Witwen zu unterstützen, eine neue Verfassung zu entwickeln etc. Denkbar ist auch, dass sie sich nach dem Tod Hagens einer schamanistischen oder einer christlich-klösterlichen Heilung unterzieht.

i. Hagen erschlägt Ortlieb nicht

Durch die Ermordung Ortliebs treibt Hagen die Untergangsdramaturgie voran, er provoziert die Sichtbarmachung von Kriemhilds Racheplan, eine wie bei Volker mögliche Variante männlich-heldischen Verhaltens, das Entscheidung sucht. Andrerseits ist das eine mehr als unkluge Haltung, die keineswegs zu seinem bisherigen Verhalten passt, schon gar nicht in seine Rolle als Bewahrer burgundischer Königsherrschaft. Er könnte diese Tat also auch unterlassen, vielleicht sogar weil er in Ortlieb so etwas wie einen eigenen, ihm bisher versagten – oder früher einmal verstorbenen – Sohn sieht. Er könnte Buße tun wollen und könnte sich Etzel als gerechtem Herrscher anvertrauen und sich als Opfer für einen Frieden anbieten. Dann könnte Etzel eine öffentliche Verhandlung anberaumen, bei der Hagen und Kriemhild in Plädoyers ihre Rollen erklären und durch geschickte richterliche Nachfragen die dunklen Flecken ihres Handelns erkennen. Bei Hagen läge das bereits auf der Hand, er würde eher seine politischen Motive noch einmal darstellen können, bei Kriemhild würde das Motiv von Eifersucht und Geltungsdrang im Könginnenstreit deutlich sowie die Unmäßigkeit ihrer Rachelust. Am Ende könnte Etzel Hagen eine sühnende Buße auferlegen und Kriemhild den Schatz zusprechen.

j. Rüdiger als Diplomat statt als Opfer

Rüdiger wird im Epos als Figur zwischen den Stühlen ohne Ausweg aus seinem doppelten Loyalitätskonflikt dargestellt. Es könnte aber auch sein, dass er als geschickter Diplomat im Auftrag Etzels zwischen beiden Seiten (Burgunder und Kriemhild) vermittelt. So wäre es denkbar, dass er – selbst noch nach der Ermordung Ortliebs – zum einen Blödel als Helfer Kriemhilds isoliert und zum Anderen die Burgunder dazu bringt, eine Versammlung abzuhalten, in der sie insbesondere Hagen und Gunther die Gefolgschaft in den anstehenden Untergang verweigern. Sie wählen einen neuen König, am sinnvollsten Giselher wegen seiner Heirat mit Gotelind, übergeben Hagen als Mörder Ortliebs an Etzel und erhalten dafür freien Abzug.

k. Das fehlende Dritte

Im System des Nibelungenlieds fehlt eine unabhängige und respektierte Justiz. Dinge werden zugespitzt und konfrontativ einander gegenübergestellt und damit wird Ausweglosigkeit gegenüber Gewalt und Untergang suggeriert. Nicht nur höhere Instanzen, auch zufällige Eingriffe Dritter, welche die Konfrontation ablenken, werden erzählerisch ausgeschlossen. Ich denke dabei immer an die dramaturgische Anlage Kafkas von kleiner Fabel aus dem Jahr 1920: „Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – „Du mußt nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.“

Was, wenn die Katze abgelenkt werden würde? So etwas habe ich selbst erlebt, als ich im Spiel einer Katze mit einer Maus als Beobachter in die Situation eingriff und der Maus dadurch die Möglichkeit zur Flucht gab. Sowohl frühere oder spätere richterliche Eingriffe könnten so etwas darstellen, aber auch andere Ablenkungen wie eine Wetterkatastrophe auf der Reise an den Hunnenhof, ein plötzlicher Tod Hagens oder Kriemhilds, ein Angriff Dritter auf die Hunnen, was zu einer Solidarisierung der beiden Gruppen führen könnte etc. Wie aus der Geschichte bekannt, wären solch unerwartete Wendungen genauso plausibel und geschickt (schicksalhaft) wie die konsequente Fortsetzugn der binär angelegten Untergangsdramaturgie.

l. Giselher und Gotelind

Das junge Paar wird von Rüdiger versteckt und überlebt, macht damit einen Neuanfang möglich, vielleicht zusammen mit den in Worms verbliebenen Kindern der beiden Paare am Burgunderhof. Das Thema wäre die schwierige Aufarbeitung von Gewaltgeschichte/n in Familien-zusammenhängen über Generationen (siehe Holocaust, Völkermord an Armeniern etc.)

m. Kampfpause und Verbrüderung

Der Weihnachtsfrieden war eine von der Befehlsebene nicht autorisierte Waffenruhe am 24. Dezember 1914 an einigen Abschnitten der Westfront, bei der vor allem Deutsche und Briten fraternisierten. Ähnliches schildert auch Friedrich Christian Laukhard in seinen Lebenserinnerungen aus der Belagerung von Mainz im Jahr 1793. Es wäre nun denkbar, dass sich zwischen Burgundern und Hunnen in einer Kampfpause eine solche Fraternisierung ergeben könnte, aus der sogar eine Revolution mit Absetzung der Herrscher auf beiden Seiten folgen könnte. Das wäre dann sozusagen die vielleicht letztmögliche Wendung der Untergangserzählung.

Schluss

Im Nibelungenlied selbst sind Erzählvarianten angelegt, die der anonyme Autor nicht ausgeführt, bzw. mit immer neuer Richtungsweisung auf das Scheitern durchkreuzt hat. Darüber hinaus können weitere Varianten von außen an den Stoff herangetragen werden.

Anders als bei propagandistischen Nutzungen von Narrativen besteht die Qualität der Vorlage in der Ambivalenz der Figuren und den Potenzialen des Erzählens. Das sollte auch für Neubearbeitungen gelten. Dramatische Bewegung entsteht im Leben wie in der Literatur – und natürlich insbesondere auf der Bühne – durch die Konfrontation von Gegensätzen und Befremdungen. Themenkomplexe wie Liebe und Leid sind dabei über die Zeiten hinweg aktuell und verstehbar, auch wenn sie zu jeder historischen Zeit und in jeder Kultur anders konnotiert sind. Es gibt aber im narrativen Schatz der Weltliteratur mehr als einen Weg, diesen Themenkomplex zu erzählen und es gibt auch viele Varianten eines vorläufigen Erzählendes.

Seit der Dominanz ingenieurwissenschaftlichen Denkens in der vom Westen dominierten globalen Denkkultur richtet sich das Alltagsbewusstsein vieler Menschen auf Systeme der Wiederholbarkeit, die einem analytischen Denken entspringen. Diesem der Lebenswelt Hinterherdenken offenbart sich aber eben nur der wiederholbare Teil der Wirklichkeit, der sich im Seelisch-Geistigen als Gewohnheit manifestiert. Es ist immer ein Denken ins Vergangene. Es gibt aber auch ein Denken ins Zukünftige, auch im Alltag der Gegenwart, ein Entwerfen, ein Gestalten, ein Wagen, dessen Impuls hoffend und dessen Ausgang offen ist. Vor der Logik kommt das Denken, vor der Grammatik das Sprechen. Und diese Neuanfänge können – auch in scheinbar aussichtslosen Situationen – sowohl erfolgreich sein als auch scheitern. Über einen solchen binär diktierten Dualismus hinaus gibt es aber auch Varianten wie ein kurzfristiges Scheitern einer Idee, das mittel- und langfristig dann doch erfolgreich ist, auch über die Todesgrenze einzelner Menschen hinaus.

Daher ist es immer möglich – und Literatur ist per se ein Feld von Möglichkeiten – anders als gewohnt zu erzählen. Im Angesicht eingefahrener, rückwärtsgewandter und bösartiger Erzählmuster wie im völkischen Nationalismus der Gegenwart ist die Methode des Anders Erzählens vorgefundener Stoffe in Richtung einer befreienden Utopie – wie sie beispielsweise von Heine oder Bloch meisterhaft vorgeführt wurden – meines Erachtens sogar eine Pflichtaufgabe demokratisch engagierter Kunst und Kultur.

1Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlaust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, 11. Auflage, Ditzingen, 2018

2Bauer, ebenda, S. 12

3Herfried Münkler, Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos, Reinbek, 1990; siehe auch mein Vortrag „Der dunkle Siegfried“ von 2018 auf www.nibelungenlied-gesellschaft.de

4 Gerd Althoff, Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997; Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter. 2., mit einem neuen Vorwort versehene Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013; Kontrolle der Macht. Formen und Regeln politischer Beratung im Mittelalter. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2016