Befremdung als Befreiung – ein anderer Blick aus Alten Zeiten auf Brunhild, Siegfried, Kriemhild und Gunther

von Volker Gallé

Statt von einem anderen Blick aus alten Zeiten könnte man auch von einem anderen Blick auf alte Zeiten sprechen. Beide Richtungen des Dialogs sind wesentlich für das Verstehen von Texten, aber auch für das Verstehen überhaupt, sei es zwischen Menschen, zwischen Kulturen oder zwischen Menschen und den vielfachen Gegenübern in seiner Lebenswelt. Dabei begegnen sich Ähnlichkeiten und Unterschiede in einem situativen Gewebe von Impulsen und Resonanzen, die immer zunächst auf  Vorwissen zugreifen. Dieses Vorwissen ist, soweit es Menschen betrifft, in Deutungsfeldern gespeichert, die sowohl begrifflich, sprachlich, emotional und körperlich in Mimik und Gestik hinterlegt sind und nach Bedarf erinnert werden. Es geht also nie ohne Vorurteile, aber es sollte auch nie ohne Nachurteile gehen, also ohne Veränderungen, Abfärbungen, Mischungen nach Gespräch und Begegnung. Damit das gut gelingt, müssen die Begegnungen selbstbestimmt sein in friedlichen Räumen. In unfriedlichen oder ungleichen Situationen finden diese Prozesse reduziert und verzerrt statt. Die Impulse zum Verstehen sind immer persönlich, ebenso wie die Resonanzen, die Reflexion der Begegnungen erweitert den Horizont des Wissens. Der erste Impuls für diesen Beitrag zur Idee war Verärgerung. Ich war genervt von immer gleichen Deutungsmustern innerhalb der verschiedenen Festspielbearbeitungen des Nibelungenstoffs. Die im Leitbild gewünschten neuen Perspektiven reduzierten sich bei genauerem Hinsehen auf Mainstreammuster von Aktualisierung. Da war die Dreiecksbeziehung zwischen Brunhild, Siegfried und Kriemhild als dramaturgischer Krisenmotor für den scheinbar unvermeidlichen Untergang, eine Mischung aus dem Familienroman des bürgerlichen Neurotikers und des Kriminalromans als alltagstaugliche Erzählform der Aufklärung. Gunter als Nummer vier – es war also im Grunde eine Vierecks- oder Quadratbeziehung – wurde als nicht gleichwertig an den Rand geschoben und immer wieder gern als Schwächling belacht, wenn er von Brünhild an den Nagel gehängt wurde. Da wären mir die drei anderen Helden dieses Beziehungsgefängnisses lieber gewesen als Witzfiguren, die man vom Sockel holt, ob Mann oder Frau. Geschafft hat das nur Siegfried, der seit dem Oberflächenfeminismus im Mainstreamdenken beider Geschlechter gern als blonder Depp karikiert wird. Und das bleibt er meist auch dann noch, wenn der junge Held divers besetzt wird nach dem Vorbild von Eldrige Cleavers Black-Power-Bild vom schwarzen Knecht, der dem weißen Herrn an Kraft, genauer an Potenz überlegen ist, sein Siegesticket im Kampf von Herr und Knecht. Das heißt jetzt nicht, das all diese Narrative falsch wären, sie sind eine Möglichkeit in der mehrdeutigen Erzählung des Nibelungenstoffs wie in der mehrdeutigen Erzählung unsrer Gegenwart. Aber eben nur eine Möglichkeit, und dazu eine, die als eine Art unreflektiertes Deutungsdiktat nervt, weil sie andere Optionen der Deutung beiseite drängt oder gar verächtlich macht, ohne Debatten auf Augenhöhe zuzulassen.

Bevor ich an solch andere Optionen der vier Figuren herangehe, will ich noch drei allgemeine Reflexionsergebnisse meines Vortragsimpulses thesenartig beschreiben:

1. Alterität, also Anderssein, das zunächst oft als Befremdung wahrgenommen wird ,birgt das Potenzial der Erweiterung und Erneuerung, anders als Identität, die sich an Bestätigung erfreut. Beides ist sowohl möglich als auch notwendig, aber ein Zuviel an Befremdung wie an Bestätigung führt in die Irre, insbesondere wenn es als Waffe eingesetzt wird. Ich schätze die Mehrdeutigkeit und lasse die Eindeutigkeit gern als Ruhepunkt hinter mir, um neue Erfahrungen zu machen.

2. Es gilt die Kunstfreiheit, d.h. mein hier vorgeschlagener Weg ist nur ein möglicher Weg von vielen. Aber ich halte ihn für interessanter als die Wiederholung von scheinbar gesicherten Allgemeinplätzen. Statt den Geist unentwegt mit einer Mischung aus Galileo, Marx und Freud vom Kopf auf die Füße zu stellen, könnte man ihn ja mal fliegen lassen, nachdem wir von religiösen Doktrinen weitgehend frei geworden sind. Das heißt also: Mein heutiger Zugang ist eine Auswahl und bleibt darin einseitig, um überzeugend erzählt werden zu können. Ich wünsche mir mehr solcher Auswahlen und nicht weniger.

3. Der Kunst, genauer der Theater- und Festspielkunst, würde es gut tun, ihre ökonomisch erzwungene Produktivität zu verlangsamen und dem Schreiben von Texten und deren Inszenierung eine längere Recherche- und Reflexionsphase vorzuschalten, die auch dialogisch sein kann und Wissenschaft als Korrektiv heranzieht. Nicht, dass Wissenschaft Kunst bevormunden soll, aber sie könnte die künstlerische Arbeit bereichern durch die Vielfalt ihrer Ansätze und Quellen und durch die Vielfalt und Vorläufigkeit ihrer Thesen.

Brünhild

Die Liederedda mit den Götter- und den Heldenliedern liegt in einer Verschriftlichung um 1270 vor. Da einzelne Motive sich in bildlichen Darstellungen finden, die im frühen 11. Jahrhundert entstanden sind, geht man davon aus, dass es bereits vorher mündliche Überlieferungen gegeben hat, die in der Verschriftlichung gesammelt, bearbeitet und zusammengefügt wurden. Zu Beginn der Sigurdlieder steht mit „Gripirs Weissagung“ ein Text, der eine Zusammenfassung dieser Erzählung gibt. Gripir sagt Sigrud voraus, dass er nach der Tötung der Brüder Fafnir und Reginn an den Hof Gjukis gelangen werde. Auf dem Weg dahin werde er an einen Felsen kommen, auf dem dessen Tochter in einer Rüstung liege und schlafe. Sigurd werde die Rüstung zerschlagen und die Braut, deren Name nicht genannt wird, werde zu sprechen beginnen und ihn die Runensprache lehren. Auf seinem weiteren Weg werde Sigurd an den Hof Heimirs gelangen, an dem eine schöne Frau namens Brynhild lebe, die Tochter Budlis. Es werde, neudeutsch gesagt, zu einer Verlobung zwischen Brynhild und Sigurd kommen. Sigurd kehre dann an den Hof Gjukis zurück und dessen Frau Grimhild erreiche es durch Ränke, dass er nicht Brynhild, sondern ihre Tochter Gudrun heirate. Danach folge die Brautwerbung Brynhilds für Gunnar durch Sigurd, also der das folgende Unglück auslösende Betrug.

Hier liegt also die Dreiecks-, bzw. Vierecksgeschichte vor, die in den meisten Bearbeitungen für die Festspiele genutzt wird. Im rund siebzig Jahre früher verschriftlichten Nibelungenlied allerdings fehlt die Verlobungsvorgeschichte Siegfrieds und Brünhilds ebenso wie die Erweckungssage der Tochter Gjukis, die offenbar nicht mit der erst beim zweiten Aufenthalt an Gjukis Hof auftauchenden Gudrun identisch ist, aber auch nicht mit Budlis Tochter Brynhild an Heimris Hof. Von Wallküren ist in diesem Text keine Rede. Man könnte Brüche, Widersprüche und Lücken in den Heldenliedern weiter fortsetzen, aber darum geht es mir nicht. Es geht zum einen  darum zu zeigen, dass die beliebte Gegenwartsdeutung eines Beziehungsdramas Ergebnis einer vereinseitigten Rezeption ist und dazu noch so etwas wie moderne Küchen- und/oder Stammtischpsychologie und zum anderen um die Auswahl eines anderen Pfades, der nicht ins moderne Allerweltsgeschlechterbild passt. Der findet sich in der so genannten Erweckungssage der namenlosen Braut, die Sigurd die Runensprache lehrt. Ausgebreitet wird dieses Motiv in einem anderen Heldenlied, dem Sigrdrifalied. Darin erweckt er eine Frau in Rüstung, die von Odin in Schlaf gelegt worden war. Als Namen nennt sie ihm „Sigrdrifa“, Siegtreiberin. Odin habe von ihr verlangt, sich zu vermählen, aber sie habe ein Gelübde abgelegt, keinen Mann zu heiraten, der sich fürchten könne. Daraufhin bittet Sigurd sie, ihn Weisheit zu lehren, „denn sie wisse Begebenheiten aus allen Welten.“ (Krause, S. 118) Sie lehrt ihn die Bedeutung von Runen, und zwar von  Siegrunen, Bierrunen, Geburtsrunen, Brandungsrunen, Astrunen, Rederunen und Weisheitsrunen. Da die Verbindung von Sigurd und Sigrdrifa offensichtlich durch beider Namen deutlich wird und der im Zentrum den Siegesbegriff hat, sei hier die Strophe zu den Siegrunen in Übersetzung zitiert: „Siegrunen musst du kennen, wenn du Sieg haben willst, und auf den Griff des Schwertes ritzen, einige auf die Spitze, einige auf das Schwertblatt, und nennen musst du zweimal Tyr.“

In der Sprachphilosophie gibt es seit der griechischen Antike zwei Richtungen, den Konventionalismus, nach dem Worte aus Gewohnheit und Übereinkunft entstehen, und den Naturalismus, nachdem Worte zwischen Wort und benanntem Ding einen mimetischen, also nachahmenden Zusammenhang von Ähnlichkeit sehen. Auf dieser naturalistischen Theorie beruhen auch magische Vorstellungen von Beschwörung und der Wirksamkeit von Schriftzeichen wie in der oben zitierten Runenlehre. Tyr ist laut Rudolf Simek ein germanischer Himmels-, Kriegs- und Versammlungsgott, dessen Bedeutung in der Edda bereits gegenüber Odin verblasst ist. Die T-Rune Tiwaz trägt seinen Namen. Nach der Erläuterung der Runenemagie gibt Sigrdrifa Sigurd elf Ratschläge für kluges Verhalten in einem gelingenden Leben eines Fürsten, „der unter den Männern der Erste sein will.“ (Krause, S. 126) Sigrdrifa ist also nicht, wie mancherorts behauptet, das vom Prinzen wachgeküsste Dornröschen, sondern eine durch Sigurd erweckte Namens- und Ratgeberin. Während ihre Rüstung auf eine Walküre hinweist, hat ihre Funktion eher etwas von einer Fylgia, einem weiblichen Schutzgeist, der in der nordischen Mythologie einen Menschen durchs Leben begleitet und ihm üblicherweise erst beim Tod zu Gesicht kommt. Dass Sigurd sie lebend sieht, kann als Einweihungserlebnis verstanden werden, das Überschreiten der Todesschwelle im Leben, wie es aus vielen Mysterienreligionen der Antike bekannt ist. Im „Runenkästchen von Auzon“ aus dem 8. Jahrhundert mit angelsächsischen Runen tritt eine Fylgia als Wasservogel, Schwan oder Gans, auf. Daneben ist ein Schwanenmädchen als Begleiterin Wielands zu sehen; die Wielandsage ist neben der Sigurdsage eine weitere Schmiedesage des Nordens. Auf der Rückseite findet sich mit drei Tierpaaren, vermutlich Pferd, Wolf und Rabe, Hinweise auf Tyr. In der christlichen Mythologie kommt eine solche Figur als Schutzengel  oder Schutzheilige/r vor. Das deutet auf ein Wesen im Menschen hin, das ihm seinen Namen gibt, ihn als Gewissen berät und ihn schützend durch Leben und Tod begleitet. Im Falle Sigurds und Sigrdrifas dreht sich dabei alles um das Siegesmotiv. Dass dabei eine Frau im Mann diese Rolle spielt, gibt den Hinweis darauf, dass ein solches erst zu findendes Selbst bei Männern weiblich gedacht werden kann und bei Frauen männlich. Eine säkularisierte Form davon scheint mir die Idee der hohen Minne im höfischen Mittelalter zu sein.  Sucht man nach vergleichbaren Motiven in der gegenwärtigen Welt, stößt man auf die Ethnie der Baule an der Elfenbeinküste. Dort gibt es die Vorstellung, dass jeder Mensch neben seinem irdischen Ehepartner blolo genannte Ehepartner jeweils anderen Geschlechte in einer geistigen Welt habe, in der Literatur auch Geistehepartner genannt. Das heißt, dass es in einem Mann weibliche Anteile gibt, mit denen er sich verbindet, bei Frauen umgekehrt. Das geschieht in einer inneren Erfahrung und Haltung neben den irdischen Ehepartnern. Die Geistpartner, Schutzengel und Christusbräute werden zwar in Liebesmetaphern erzählt, aber begegnen ohne körperlichen Kontakt.

So wird auch das Bild der Jungfräulichkeit, bzw. Jungmännlichkeit verständlicher. Das findet nicht nur seinen Niederschlag in klösterlichem Leben, sondern auch in Narrativen wie der Jungfrauengeburt Marias. Auch hier gibt es ähnliche Vorstellungen bei indigenen Völkern, so die Idee der Geistkindgeburt bei den Aborigenes, d.h. dass einer sexuellen Zeugung die sprirituelle Suche eines Geistkindes nach seinen zukünftigen Eltern vorausgeht. Auch in den verschiedenen Erzählungen von Brünhild finden sich Elemente solcher Jungfräulichkeit. Sowohl die Verweigerung einer Vermählung als auch die Bedingung einer Besiegung im Kampf bei der Brautwerbung verteidigen Jungfräulichkeit als selbstbestimmte und dazu kraftvolle Form weiblicher Identität.

Die Brünhildfigur hat zudem Ähnlichkeit mit Amazonenfiguren. Homer erwähnt in der Ilias die Amazonen als ein kriegerisches Frauenvolk, das männergleich sei. Lysias beschreibt sie als Reiterinnen und als erstes Volk mit Eisenwaffen. Damit schreibt er diesen Frauen die Erfindung des Schmiedehandwerks zu, die Beherrschung von Feuer und Erz. Verortet werden die Amazonen mal in Kleinasien, mal in Nordafrika, jedenfalls als Fremde außerhalb des griechischen Herrschaftsraums. Diodor erzählt von einem kleinasiatischen Volk, das von Frauen regiert werde und in dem Frauen und Männer kriegerisch seien. Das klingt nach einem Gender-Gegenbild zur griechischen Gesellschaft, eine literarisch-ethnologische Methode, die man bis heute kennt. Apollonios von Rhodos erzählt, die Amazonen würden männliche Kinder nach der Geburt töten. Andere Autoren erzählen, sie lebten ein Jahr lang der Fortpflanzung wegen bei einem Nachbarstamm mit Männern und kehrten nach erfolgter Schwangerschaft in ihre reine Frauengesellschaft zurück. Die Erzählungen sind mehrdeutig und stammen alle von männlichen Autoren. Aus der Ethnologie ist bekannt, dass es Gesellschaften gab und gibt mit anderen Rollenverteilungen von Frauen und Männern in Politik, Arbeits- und Lebenswelt. Die Idee rein männerloser oder frauenloser Gesellschaften ist aber eher ein Denkmodell oder eine bewusste religiöse oder temporäre Praxis. Dass eine der zwölf Arbeiten des Herakles darin besteht, der Amazonenkönigin Hippolyta ihren Gürtel zu entwenden, zeigt eine motivische Ähnlichkeit mit Siegfrieds Überwältigung Brünhilds im Nibelungenlied. Der Gürtel verlieh der jungfräulichen Kriegerin Kraft. Als Siegfried Brünhild im Brautnachkampf überwältigt hat, verliert sie Kraft und Gürtel.

Das Motiv der Jungfrauenerweckung andrerseits findet sich beim römischen Autor Properz, der erzählt, Achill habe sich in die Amazonenkönigin Penthesilea verliebt, als er sie von ihrer Rüstung befreit habe. Im Trojaroman von Benoit de Sainte-Maure aus dem 12. Jahrhundert wird von einer „Féménie“ erzählt, einer Amazonenheimat, die noch nie von einem Mann betreten wurde. Der jungfräuliche Charakter der Bewohnerinnen sei der Grund für ihre Tapferkeit gewesen. In Renaissance und Aufklärung wird das Amazonenbild erneut als befremdendes wie befreiendes Gegenbild zur eigenen Gesellschaft genutzt, und zwar unter Bezugnahme auf Reiseberichte in bisher wenig oder unbekannte Länder. Und weibliche Stimmen dieser Zeit erläutern, wieso ein Frauenleben ohne Mann empfehlenswert ist. So schreibt die in den damaligen Niederlanden viel gelesene, unverheiratete Dichterin Anna Bijns (1493-1575), Frauen sollten sich gut überlegen, ob und wen sie heiraten. „Allzu oft schon habe sich der Traumprinz als gewalttätiger Trinker und Spieler entpuppt. Gut sei die Ehe in erster Linie für den Mann, für die Frau bedeute sie ein Sklavendasein…Am glücklichsten sei die Frau ohne Mann.“ (Driessen, S. 58)

Motivisch weist das Amazonenbild des Weiteren Ähnlichkeiten mit der griechischen Artemisfigur auf. Ihr Tempel im kleinasiatischen Ephesos soll von der Amazonenkönigin Otrere gegründet worden sein. Diese wird als Geliebte von Ares und als Mutter von Penthesilea, aber an anderer Stelle auch von Hippolyta bezeichnet. Eine der Erzählstränge von Artemis ist der einer jungfräulichen Jägern und Beschützerin von wilden Tieren, Kindern und Jugendlichen. Sie verteidigt ihren Jungfrauenstatus, beispielsweise als Aktaion sie nackt beim Baden sah und sie ihn in einen Hirsch verwandelt, der von seinen eigenen Hunden zerrissen wird. Sie hilft Frauen, sich aus Ehen zu lösen und als Jägerin zu leben, so bei Prokuis. In Ovids Metamorphosen wiederholt sich dieses Motiv und wird ergänzt durch die Schutzfunktion für treue Liebe. In der Rezeption bis heute vermischen sich ältere Erzählstränge zu einer ambivalenten Figur, die Artemis/Diana und Aphrodite vermischt, damit auch Jungfräulichkeit und Sexualität und so verschiedene Ebenen erotischer Identität schafft. Diese können auch wechselhaft eingenommen werden. Maria Moog-Grünewald schreibt im Artemisartikel des Bandes Mythenrezeption (Mythenrezeption, S. 157): „Die Vermischung vormals distinkter Züge unterschiedlicher Mythenstränge ist überhaupt eines der Kennzeichen der Artemisrezeption in der orphischen Philosophie des 16. Jahrhunderts, deren Denken um proteushafte Wandlungsfähigkeit und Ineins-Setzen des Gegensätzlichen kreist: Diana und Venus (Aphrodite), Keuschheit und Liebe verschmelzen zu einer Figur.“ Vermischungen, bzw. Deutungsanpassungen an die jeweilige Zeit gibt es auch schon zu römischer Zeit, wenn man Ähnlichkeit und Unterschied zwischen Mysterienreligion und deren mythischen Quellen vergleicht.

Für die Brünhildfigur kann man dieses Verfahren in der nordischen wie in der rheinischen Überlieferung finden. Dabei ist es auf Grund der Quellenlage schwierig festzustellen, welche Deutungsstränge älter und jünger sind und in welchen Zusammenhängen sie ursprünglich einmal erzählt wurden. Es kann also nicht um Deutungshoheit gehen, sondern nur um die Ausbreitung eines Deutungshorizonts. Und da scheinen mir gerade die uns heute fremden Zuschreibungen anregend und erholsam zu sein gegenüber der vereinfacht in das Alltagsbewusstsein gesunkenen Dogmatik von aufklärerischen Theorien wie der Religionskritik, des Marxismus und der Psychoanalyse. Götter und Mythen seien ausschließlich menschliche Projektionen, Menschen handelten ausschließlich aus ökonomischem Interesse, bzw. aus sexuellem Interesse, geistert da durch unsre Köpfe und Medien. Ich plädiere demgegenüber für einen offenen Zugang zu Deutungen, der in der Selbstbeobachtung wie im Dialog zunächst von den Phänomenen ausgeht, die Figuren und ihre Narrative in uns auslösen und ihre Wirksamkeit verfolgt und möglichst dicht beschreibt, und zwar als eine Möglichkeit von vielen. Gerade das Widerständige gegenüber dem heutigen Mainstresambewusstsein scheint mir dabei interessant für das künstlerische Spiel zu sein. Kurz und gut: Es stellt sich die Frage, ob Männer weibliche und Frauen männliche Vorbilder brauchen, um ihren Weg zu finden – Sigrdrifa als Sigurds Schutzengel – und ob Jungfräulichkeit wie auch Jungmännlichkeit ein kraftvoller Zustand ist, dessen Verteidigung – zumindest auf Zeit – mehr Sinn macht als die Unterwerfung unter eine wie auch immer geartete Paarbeziehung?

Kriemhild

Und damit sind wir mitten in der Deutungsfrage zu Kriemhilds Falkentraum. In der 13. Strophe der 1. Aventiure des Nibelungenlieds träumt Kriemhild, wie sie einen schönen, starken und wilden Falken abrichtet, den ihr plötzlich zwei Adler schlagen und zerfleischen. Ihre Mutter Ute erklärt ihr, der Falke sei ein Krieger von Adel, den sie beschützen müsse, wenn sie ihn nicht verlieren wolle. Daraufhin folgert Kriemhild, es sei besser, auf Liebe zu verzichten, um nicht aus Liebe zu einem Mann Leid zu erfahren. Die Mutter widerspricht und sagt, sie werde nur glücklich durch die Liebe eines guten Ritters werden. Dass Kriemhild ihren Liebsten beschützen muss, um ihn nicht zu verlieren, ist nicht nur die Vorlage für die spätere Szene der Kreuzstickerei in Höhe von Siegfrieds verletzlicher Stelle, sondern scheint mir auch eine in die romantische Liebe hineingeholte Variante der Schutzgeisterzählung zu sein, wie sie bei Sigrdrifa-Brünhild und Sigurd vorkommt. In vielen Bearbeitungen aber gehen die Deuter von heutzutage noch einen Schritt weiter und unterstellen Kriemhild, sie habe das Kreuz aus Rach- und Eifersucht bewusst gestickt, um Hagen die Möglichkeit zu geben, Siegfried zu töten. Da sind wir dann bei einer Dekonstruktion der romantischen Liebe in der übersexualisierten Beziehungskiste der Gegenwart, bei der Liebe nicht in Leid, sondern in Hass umschlägt, sobald sie gekränkt wird. Pathologischer Narzissmus, wenn man so will, der uns heutzutage sowohl privat als auch politisch in den Untergang führen kann.

Aber auch der Liebesverzicht oder sagen wir die Jungfrauenverweigerung macht Kriemhild mit Brünhild verwandt. Beide verweigern die sexuelle Beziehung zu einem Mann und die daraus folgenden Leiden und ziehen die Selbstbestimmung vor. So haben es im Mittelalter auch Nonnen und Beginen gemacht, um aus der Falle des dominanten Patriarchats zu entkommen. Deren Liebesmystik (Braut Christi) ist der Schutzgeisterzählung in ihrer weiblichen Variante verwandt. Man kann natürlich darüber diskutieren, ob der Verzicht auf geschlechtliche Liebe, in welcher Form auch immer, eine Flucht vor Erfahrung ist, die letztlich unglücklich macht, weil ihr eine besondere Form von Begegnung fehlt, oder ob dem nicht so ist, weil dadurch sonst nach außen verlagerte seelische Potenziale im eigenen Selbst überhaupt erst entwickelt werden können. Im Falle Kriemhilds wäre das der Falke in ihr, das Kriegerische in ihr. Jedenfalls wäre es eine spannende Frage, was wäre denn, wenn Kriemhild bei ihrer Verweigerung bleiben würde? Welche Erzählung könnte sich daraus entwickeln? Gerade in der heutigen Zeit mit ihren vielfältigen Optionen geschlechtlicher Orientierung könnte da eine ganz neue künstlerische Spielwiese entstehen, die auf den scheinbar naheliegenden Spott über die Jungfrauengeburt verzichten kann.

Gunther

Damit wären wir bei der nächsten beliebten Spottszene, in der Brünhild Gunter in der Brautnacht an einen Haken hängt. In der 10. Aventiure (Strophe 637) wird berichtet: „Sie band ihm die Füße und auch die Hände zusammen; dann trug sie ihn zu einem Haken und hängte ihn an die Wand.“ Nicht dass man nicht lachen dürfte, wenn eine starke Frau einen schwächeren Mann im Kampf überwältigt und an einen Haken hängt. Aber andrerseits blendet eine solche Einlassung die Situation des Überwältigten aus. Man könnte sich immerhin fragen, warum er sich hat überwältigen lassen. In Thomas Melles Festspielstück „Überwältigung“ (2019) findet sich dazu ein lohnenswerter Deutungsansatz, wenn König Gunther in der zweiten Szene des ersten Aktes nach der Integration des Fremden Siegfried in den bugundischen Hof über sich selbst reflektiert: „Ich erkenn mich in ihm, dem Fremden. Denn was an mir selbst wäre nicht fremd? Wer redet da, wer herrscht? Keine Hand ist mir fremder als meine. Doch darf ich niemandem davon erzählen, sonst wäre… ich nicht ich, der König, hieße es, und also nicht mehr handlungsfähig. So würden sie sagen und machten einen Tumult. Ja, denn fremd bin ich mir am nächsten, mit dem geliehenen Blick der anderen, der aber nur soweit der ihre ist, als ich ihn mir als den ihren denke. Und so ist, was ich mir als ihres denke, eigentlich noch immer meins und doppelt fremd.“

Dass Gunther sich selbst fremd ist, ist die moderne Variante einer mittelalterlichen Doppelrolle von Königen, einmal als unsterblicher Amtsträger, der das Volk verkörpert, und einmal als sterbliche Person, die sich selbst davon unterscheidet. Der Mediävist Ernst Kantorowicz hat das in seinem 1957 im amerikanischen Exil erschienenen Buch die „Zwei Körper des Königs“ genannt. In dem von Albrecht Koschorke u.a. herausgegebenen Buch „Der fiktive Staat“ (2007) werden organizistische Staatsmodelle von der Antike bis in die Neuzeit verfolgt. Zur Souveränität des Königs im Mittelalter heißt es: „Das Basisparadox besteht darin, daß der Regent als ein, wenn auch herausgehobener, Teil der Gesellschaft in seiner Person die Einheit derselben Gesellschaft verkörpert. Diese doppelte Existenzform ist die Quelle für alle Mystik des personalen Herrschertums. Empirisch ein Mensch unter Menschen, ständisch ein Inhaber bestimmter Privilegien, die seiner Zugehörigkeit zum Adel entspringen, ist der Monarch in seinen politischen Handlungen nichts Geringeres als der personifizierte Staat.“ (Koschorke, S. 114)

Unter dieser Doppelrolle leidet Gunther nicht nur bei Melle, sondern schon im Nibelungenlied. Er wird von der Rolle des unsterblichen Königsamts, das ihn qua Amt zum unverwundbaren Helden macht, um die Dauer der Gemeinschaft zu garantieren, er wird von dieser Rolle überwältigt. Daher kommt es auch zum Heiratswunsch mit Brünhild, der mystischen Königin, die ebenfalls eine Doppelrolle verkörpert und sie nur durch Überwältigung verlieren kann. Der Autor führt gegenüber den erst durch Kampf, List und Betrug zu vermenschlichenden Halbgöttern Brünhild und Siegfried mit dem Burgunderhof die reale Welt der empirischen Personen ein, die ihrem Amtsauftrag nicht gerecht werden, weil sie Menschen mit begrenzten Fähigkeiten sind. Das ist seine Modernität.

Mit Blick auf die Schutzgeistdeutung von Sigrdrifa und Sigurd könnte man aber auch sagen, Gunther hat sich die falsche Frau in den Kopf gesetzt. Wenn wir bei den Hinweisen der Namensähnlichkeit bleiben, hätte er, der den Sippennamen der Bur-Gunder – und als Leitsilbe bedeutet ahd. Kampf – eher eine Radegunde gebraucht, einen Schutzgeist, der im Kampf Rat gibt. Übrigens gab es eine fränkische Königin dieses Namens, die später heilig gesprochen wurde, im 6. Jahrhundert.

Daraus ergeben sich zwei alternative Erzählmöglichkeiten zum bekannten Königsspott, einmal auf der Spur Thomas Melles eine Auseinandersetzung mit dem vom Amt überforderten König Gunther, der zwischen bezweifeltem Anspruch und vergeblichem Privatisierungsversuch schwankt und daran scheitert, zum anderen ein aus der Amtsrolle ausbrechender König Gunther, der sich eine Frau sucht, die ihm guten Rat gibt, um das Scheitern zu vermeiden. Ob ihm das gelingen könnte?

Siegfried

Auch junge Männer waren und sind mehrdeutige Figuren. Als Helden und Heilige sind sie Hoffnungsträger, als Rebellen können sie sich politisch links wie rechts verorten, ohne Aufgabe, also auf dem Weg in eine gesellschaftlich anerkannte Position in Beruf, Familie, Gemeinschaft, werden sie zu Problemfällen, die sich oder andere verletzen. Bei Siegfried dominiert das Bild des jungen Helden, der sich für unverwundbar hält und dessen dennoch verwundbare Stelle von seinen Gegnern gesucht und gefunden werden muss.

Wie die junge Frau Artemis ist er ein Frühlingsmensch, ein Mensch des Aufbruchs in neue Zeiten. So wurde er auch im Vormärz des 19. Jahrhunderts rezipiert, beispielsweise von Friedrich Engels als Töter des feudalistischen Drachen. Jürgen Lodemann knüpft in seinem Siegfriedroman daran an und betont eine meist vergessene Seite von Siegfried im Nibelungenlied, nämlich die des Diplomaten. In der 5. Aventiure schlagen die Dänen und Sachsen, die Siegfried und die Burgunder nach der Schlacht gefangen genommen und nach Worms gebracht hatten, König Gunther eine Entschädigung in Gold und eine Abmachung für die Zukunft vor. Gunther fragt Siegfried, was er vertraglich regeln solle. Der antwortet: „Ihr sollt Ihnen die Freiheit geben unter der Bedingung, daß die edlen Kämpfer in Zukunft unterlassen, feindlich in Euer Land einzufallen.“ (Strophe 315) Der Historiker Gerd Althoff beschreibt das Nibelungenlied auf dem Hintergrund der Stauferzeit mit einem Schwerpunkt auf die diplomatischen Elemente im Text, zu denen auch Siegfried beiträgt: „Es wird in den vielen Interpretationen des Nibelungenlieds häufig übersehen, wie viele Aktivitäten der handelnden Personen darauf gerichtet waren, die Eskalation der bewaffneten Auseinandersetzungen durch gütliche Einigung, durch Genugtuung und Sühne, durch Vermittlung eines Ausgleichs zu verhindern. Auf diesem Felde vermittelt das Nibelungenlied sehr direkt Praktiken mittelalterlicher Konfliktführung.“ (Althoff, Das Nibelungenlied, S.89) Das gilt übrigens auch für Hagen, der lange Zeit versucht, durch Verhandlungen politische Ergebnisse zum Vorteil des Burgunderhofes zu erzielen, z.B. als Siegfried den Königssitz mit Gewalt übernehmen will. Da rät Hagen zu Freundschaftsgesten und einer Einbindung des ungestümen jungen Wilden.

Diese Einbindungen machen diesen andrerseits abhängig, in erster Linie, als er sich in Kriemhild verliebt und zur Heirat auf die Zustimmung des Burgunderclans angewiesen ist. Aber man könnte auch einen Schritt weitergehen und die Bilder jungfräulicher Abwehr von andersgeschlechtlichen Beziehungen Brünhilds und Kriemhilds auf Siegfried übertragen. Seine Verletzlichkeit wird sichtbar, nachdem er sich in Kriemhild verliebt, die Liebe ist sein Lindenblatt, seine Schwachstelle gegenüber dem Drachenblutpanzer. In einer Rinkeinszenierung spielte Götz Schubert den Helden mit Glatze und Ledermantel, der durch sein Verliebtsein unbeholfen beginnt zu dichten und zu tänzeln. Er gerät aus dem Rhythmus des Kampfes. Auch hier wäre ein anderer Denkansatz möglich. Was, wenn er sich gegen die Liebe und das daraus entstehbare Leid wehren würde? Wie könnte seine Geschichte dann weitergehen?

Schlusswort

Was soll mit diesem Vortrag bezweckt werden? Was bedeutet Befremdung als Befreiung? Das, was im ersten Blick, im Vorurteil, befremdet, kann befreiend sein, wenn es als Impuls zugelassen wird und Zeit bekommt, seine gedankliche Wirkung im Dialog, auch im Widerspruch zu entfalten. Das gilt insbesondere dann, wenn Mainstreamdogmen auf diese Art und Weise befragt werden können. Ob das Befremden aus jeweils anderen Kulturen kommt oder aus historischen Denk- und Lebensweisen spielt dabei keine Rolle. Gebraucht wird dafür ein friedlicher und offener Dialograum, in dem jeder Teilnehmende freiwillig beitritt und seine Position auch vorläufig formulieren kann ohne jede Rechthaberei, gleich von welcher Seite. Das gilt selbstverständlich auch für die eigene Position, die auf Bestätigung oder zumindest Interesse hoffen, aber dies nicht verlangen kann, wohl aber einen respektvollen Umgang, außer es kommt Gewalt ins Spiel. Soweit es um befremdende historische Denk- und Lebensweisen geht, ist damit nicht die Restauration alter Dogmen gemeint, sondern nur eine Infragestellung gegenwärtiger Dogmen, die sich oft unausgesprochen  in der Moderne durch Meinungswiederholung ausgebreitet haben. Wenn man seine eigenen Gedanken und Gefühle als Ausgangspunkt von Forschung nimmt, auch in Kontakt mit Texten, öffnet sich meist eine verwirrende Welt von Möglichkeiten, die einen bereichert, wenn man ihren mehrdeutigen und ambivalenten Spuren folgt. Und das ist es doch, was nicht nur die Freude am Leben, sondern auch die Freude an Literatur ausmacht.

Literaturgeschichte

Gerd Althoff, Das Nibelungenlied und die Spielregeln der Gesellschaft im 12. Jahrhundert, in: Gerold Bönnen/Volker Gallé, Der Mord und die Klage – das Nibelungenlied und die Kulturen der Gewalt, Worms 2003

Gerd Althoff, Frieden stiften. Vermittlung und Konfliktlösung vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2011

Klaus Bödl, Götter und Mythen des Nordens. Ein Handbuch, München 2013

Manuel Braun (Hg.), Wie anders war das Mittelalter? Fragen an das Konzept der Alterität, Göttingen 2013

Christoph Driessen, Geschichte Belgiens. Die gespaltene Nation, Regensburg 2023

Alexander Koch u.a. (Hrsg.), Amazonen. Geheimnisvolle Kriegerinnen, Speyer 2010

Albrecht Koschorke u.a. (Hrsg.), Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt 2007

Arnulf Krause (Übersetzer und Herausgeber), Die Heldenlieder der Älteren Edda, Stuttgart 2021

Maria Moog-Grünewald, Artemis, in: Mythenrezeption, Der neue Pauly, Supplement 5, Stuttgart 2008

Rudolf Simek, Lexikon der germanischen Mythologie, Stuttgart 2006