Die Nibelungen
von Friedrich Hebbel
- ein deutsches Trauerspiel

von Erwin Martin

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Nibelungen-Festspiele, Worms, 1937 (Archivbild) ..



Im national getönten Geist des 19. Jahrhunderts besann man sich zurück auf die deutsche Vergangenheit, auf das hohe Mittelalter, die Ritterzeit, die die Romantiker als Traum- und Sehnsuchtswelt idealisierten. Eine Reihe von Dichtern machten sich daran, die großen Werke dieser Zeit aus der Vergessenheit zu holen und in neuer Gestalt wieder aufleben zu lassen. Das gilt vor allem für den Nibelungen-Stoff. Aber bis auf zwei Bearbeitungen sind alle wieder untergegangen. Die eine ist Richard Wagners Oper „Ring des Nibelungen“, die andere Friedrich Hebbels Dramen-Trilogie „Die Nibelungen“, entstanden in den Jahren 1855 bis 1860. Der Untertitel „ein deutsches Trauerspiel“ erklärt sich aus dem Geist dieser Zeit.

Friedrich Hebbels künstlerisches Anliegen war es, die Kernaussage des Nibelungenlieds in dramatische Form zu bringen. Er hatte erkannt, dass das überlieferte Epos eigentlich eine Tragödie ist. Allerdings, und hier liegt der Ansatz für Hebbels dichterisches Unterfangen, sind die Momente des Trauerspiels „oft in verworrener und zerstreuter Gestalt oder in sprödester Kürze gegeben.“ Und nun macht sich Hebbel daran, die im Epos verborgenen dramatischen Elemente in eigener Gestaltung herauszustellen.

Er versucht all das, was im Text des Nibelungenlieds unklar bleibt, in eine für den modernen Theaterbesucher nachvollziehbare Aussage zu bringen. Das bedeutet, dass die Spielhandlung im Ganzen und die Verhaltensweise der einzelnen Figuren auf der Bühne psychologisch motiviert sein müssen.

Zu diesem Gestaltungsanliegen kommt ein inhaltliches: die Herausarbeitung eines weltanschaulichen Aspekts, der im alten Epos enthalten, aber nicht explizit ausformuliert ist. Die Figuren des Nibelungenlieds bewegen sich an der Grenze zwischen zwei Religionen, zwischen dem heidnisch-germanischen Götterglauben und dem Christentum. Der Untergang der Burgunden wird in diesem Zusammenhang begründet.

Um diese beiden Gesichtspunkte, die psychologische Motivation der Handlung und die Rolle der religiösen Gesinnungen, bei den Gestalten in einen überzeugenden Zusammenhang zu bringen, musste Hebbel mit einem besonderen Problem fertig werden. Die Gestalten des Nibelungenlieds sind getaufte Christen, wurzeln aber noch mehr oder minder im Mythos des alten germanischen Glaubens. Mythisches Denken und Handeln lässt sich aber schwer mit moderner Psychologie in Einklang bringen. Es verliert sich in der Unbegründbarkeit des schicksalhaften Geschehens, das sich auf göttliche Willkür bezieht, die nicht hinterfragt werden kann. Wie der moderne Dramatiker Hebbel dieses Problem angeht, zeigt sich bereits zu Beginn der Bühnenhandlung.

Bevor Siegfried am Burgunderhof in Worms erscheint, ist ihm sein Ruhm vorausgeeilt. Hagen macht über ihn die Bemerkung:

Nun, was Herr Siegfried wagt, das wag ich auch.

Nur gegen ihn erheb‘ ich nicht die Klinge:

Das wär‘ ja auch wie gegen Erz und Stein.

Glaubt’s oder zweifelt, wie es euch gefällt:

Ich hätt‘ mich nicht im Schlangenblut gebadet,

Darf denn noch fechten, wer nicht fallen kann?

Der gehörnte Siegfried, 1. Szene


Als nun Siegfried König Gunther zum Zweikampf herausfordert, bei dem der Sieger das Reich des Unterlegenen gewinnen solle, wird der von Hagen begonnene Gedankengang von Dankwart weitergeführt:

Du bist gewiss aufs Kämpfen so versessen,

Seit du des Lindwurms Schuppenpanzer trägst?

Nicht jedermann betrog den Tod wie du,

Er findet offne Tür bei uns.

Darauf lässt aber Hebbel seinen Siegfried überraschend antworten:

Und wenn du fürchtest, dass dein gutes Schwert

An meiner harten Haut zerspringen könnte,

So biete ich‘s dir anders, komm herab

Mit mir in den Hof, dort liegt ein Felsenblock,

Der ganz so schwer für mich ist wie für dich:

Wir werfen und erproben so die Kraft.

Der gehörnte Siegfried, 2. Szene


Einen solchen Wettkampf lässt Hebbel dann auch stattfinden. Dabei geschieht zweierlei. Siegfried geht selbstverständlich als Sieger daraus hervor. Er übertrifft seine Rivalen auf Grund seiner Stärke, die nicht auf Zaubermittel zurückzuführen ist. Seine Überlegenheit in diesem Wettkampf ist für die Besiegten schon bedrückend genug. Es kommt aber ein Weiteres hinzu. Siegfried lässt dabei auch seinem knabenhaften Übermut freien Lauf. Er dreht sich um und wirft den schweren Stein rückwärts über seinen Kopf hinweg zum Ziel. Die am Kampfspiel Beteiligten scheinen ihm das nicht übelzunehmen. Gunther bemerkt lakonisch „Ihr seid ein Schalk, Herr Siegfried.“ Einer aber reagiert anders. Der sieggewohnte Hagen verzeiht Siegfried nicht, dass der ihn spielend übertroffen und mit seinem im Grunde geschmacklosen Ulk das Königshaus beleidigt hat.

Siegfried sorgt jedenfalls selbst - und darum geht es hier zunächst - für eine Abschwächung bzw. eine Ausklammerung des Mythischen in seiner Person. Aber die Hornhaut ist ja nicht das einzige, was ihn damit verbindet. Es gab auf der mythischen Ebene eine Begegnung Siegfrieds mit Brunhild, bevor er in der höfischen Welt auftritt. Im Nibelungenlied erfahren wir nicht, wie Siegfried zu seinem Wissen über Brunhild gekommen ist. Er weiß einfach um sie und berichtet über sie. Man schließt aus der Kenntnis der nordischen Überlieferung in der Edda, dass Siegfried einst zu der von einem Feuerwall vor unwürdigen Freiern geschützten Walküre Brunhild durchgedrungen ist und sich ihr dadurch bereits versprochen hat. Der am Burgunderhof auftretende Königssohn aus den Niederlanden zeigt sich im Epos aber ganz und gar als Mensch, wenn auch von besonderer Qualität. Seine mythische Vorgeschichte, aus der er Hornhaut, Tarnkappe und Schwert mitgebracht hat, scheint er vergessen zu haben, jedenfalls wirkt sie sich auf sein Verhalten gegenüber Brunhild nicht aus.

Hebbel motiviert diesen Komplex wiederum auf seine eigene Weise. Als Siegfried Gunther vor einer Werbung um Brunhild warnt, spricht er in vollem Bewusstsein von seiner einstigen Begegnung mit ihr: Nachdem er den Nibelungenhort und die Nebelkappe gewonnen hatte, gelangte er, von Vögeln geleitet, deren Sprache er verstand, zu Brunhilds Burg. Er sah, durch die Tarnkappe selbst unsichtbar, Brunhild, ohne von ihr wahrgenommen zu werden. Nun erklärt er gegenüber den Burgunden:

Denn Brunhild rührte, wie sie droben stand,

In aller ihrerSchönheit nicht mein Herz,

Und wer da fühlt, dass er nicht werben kann,

Der grüßt auch nicht (...)

So schied ich ungeseh‘n und kenne doch

Die Burg und ihr Geheimnis wie den Weg.

Der gehörnte Siegfried, 4. Szene


Hebbel kann die mythische Vorgeschichte Siegfrieds nicht fallen lassen, denn sie gehört zum Wesenskern dieser Gestalt, aber er kann den mythischen Vorgang psychologisieren: Siegfried handelt bei ihm nicht in Befolgung einer schicksalhaften Bestimmung, gleichsam in willenloser Automatik, sondern mit der Reaktion eines normal empfindenden Menschen: Er empfindet keine Liebe zu Brunhild, weil sie ihm nicht gefällt, und geht seines Wegs.

Hebbel hat in seinem Drama Brunhild eine Amme namens Frigga beigesellt, die ganz im alten heidnischen Denken und Fühlen verwurzelt ist. Durch sie erfährt Brunhild nach ihrem Streit mit Kriemhild vor dem Domportal, dass Siegfried sie einst gesehen haben muss, aber, obwohl er nach göttlichem Ratschluss für sie bestimmt gewesen war, von ihrer Schönheit unbeeindruckt blieb und sie deshalb verschmähte. Der Grund dafür liegt nicht im Mythischen, sondern im Psychologischen: Der knabenhaft unbekümmerte, heitere Siegfried kann in der düsteren, schicksalsbeladenen Brunhild, die die unwürdigen Bewerber um ihre Hand gnadenlos tötet, nicht die ihm gemäße Frau sehen. Damit verlegt Hebbel die Reaktion Siegfrieds ins rein Menschliche.

Wie verfährt Hebbel nun mit der zweiten mythischen Gestalt, Brunhild, die gar aus der Götterwelt in den menschlichen Bereich gelangt? Brunhild erfährt im weiteren Verlauf der Handlung, dass Siegfried sie einst auf ihrer Burg gesehen, dann aber sich von ihr abgewendet hat. Darauf reagiert sie ihrerseits ebenfalls menschlich, nämlich als tief gekränkte Frau, die ihre glückliche Rivalin an Siegfrieds Seite sieht. Ihre Liebe zu dem Mann, der ihr schicksalhaft als Gatte vorbestimmt war, schlägt nun in unbändigen Hass um. Als sie von dem unerhörten Betrug bei Gunthers Werbung und nach der Hochzeit erfährt, ist sie nur noch erfüllt von einem Bedürfnis nach Rache, zu deren Vollzug sich Hagen anbietet. Nach Siegfrieds Tod verschwindet sie aus dem Text des Nibelungenlieds. Hebbel lässt sie, nachdem Kriemhild den Burgunderhof verlassen hat, um Etzel zu heiraten, zu ihrer ursprünglichen Liebe zurückkehren: Sie versinkt in ewige Trauer um den Verlorenen und verbringt den Rest ihres Lebens in Siegfrieds Totengruft im Kloster Lorsch.

Im Zusammenhang der Geschehnisse um die Hochzeit Gunthers mit Brunhild weicht Hebbel mit seiner szenischen Bearbeitung stark vom Epostext ab. Die beiden drastischsten Vorgangsschilderungen des Erzählers erscheinen nicht auf der Bühne, nämlich die Überwältigung Gunthers in der Hochzeitsnacht durch Brunhild und die Entmachtung Brunhilds in der folgenden Nacht durch Siegfried.

Der Nibelungenlied-Dichter entfaltet hier köstliche Szenen, deren besonderer Reiz in seiner Kommentierung besteht. Beide Gewaltszenen entbehren nicht der Komik. Brunhild fesselt den Burgunderkönig und hängt ihn wie ein verschnürtes Bündel an einen Nagel in der Wand und lässt ihn da die ganze Nacht über baumeln. Der Erzähler bemerkt dazu, Gunther habe bei anderen Frauen schon bequemer gelegen. Als dann Siegfried in der folgenden Nacht die Widerspenstige zähmen soll, geht es äußerst gewaltsam zu. Siegfried siegt zwar am Ende, aber zwischendurch spielt er keine allzu rühmliche Rolle. Brunhild wirft Siegfried aus dem Bett, und er schlägt auf eine Bank, dass sein Kopf laut an einem Schemel erdröhnt, sie drückt ihn zwischen die Wand und einen Schrank, und sie presst ihm die Hände, dass ihm das Blut aus den Nägeln springt.

Abgesehen davon, dass diese Vorgänge, die sich ja im Dunkel der Nacht abspielen, nicht auf die Bühne gebracht werden können, sie passen auch nicht in die Konsequenz des Trauerspiels, das Hebbel keineswegs durch komische Momente durchbrechen lässt. Er entfaltet dafür eine Szene, die im alten Epos keine Entsprechung hat. Dort erfahren wir nur, dass Siegfried den Gürtel, den er Brunhild im nächtlichen Ringkampf entriss, Kriemhild schenkt. Im Drama wird nun dargestellt, wie Kriemhild, die den Gürtel eher zufällig entdeckt, Siegfried fragt, wie er dazu gekommen ist. Siegfried versucht zunächst sich herauszuwinden, aber schließlich gibt er ohne großen Widerstand dem Drängen Kriemhilds nach und teilt ihr mit, was ein ewiges Geheimnis bleiben sollte. Dadurch entfällt wieder eine handfeste Mitteilung des Epos, die in Hebbels Siegfried-Bild nicht hineinpasst. Dort heißt es nämlich, nach dem Streit vor dem Domportal habe Siegfried seine Frau Kriemhild wegen ihrer Indiskretion verhauen (verblouwen). Im Drama spricht er nicht einmal ein Wort des Vorwurfs, weil er weiß, dass er selbst den entscheidenden Fehler begangen hat. Er selbst hat wegen seines Wortbruchs Strafe verdient. Hagen spricht, als das Ganze an den Tag kommt, das todbringende Wort: „Er hat geschwatzt!“

Hagen erscheint in der mittelalterlichen Vorlage wie bei Hebbel als düstere Figur, Diese Wirkung wird verstärkt durch den Kontrast zu Siegfrieds Lichtgestalt. Dem unbekümmerten, arglosen, jugendlichen König steht der lebenserfahrene, verantwortungsbewusste, durch Verwandtschaft ins burgundische Königshaus verschränkte Vasall gegenüber, der sich im Sinne des mittelalterlichen Lehensprinzips mit Haut und Haar seiner Aufgabe verschrieben hat: die Interessen des Landesherren wahrzunehmen. Siegfrieds Geheimnisverrat, der Bruch seines Gelöbnisses, über die Umstände der Werbung Gunthers zu schweigen, bedroht nun die Autorität des Königs.

Wenn Kriemhild die Königin des Reiches in aller Öffentlichkeit als Kebsweib ihres Mannes bezeichnet hat, wobei Siegfried in den Augen Brunhilds nur ein Dienstmann ist, und der König als Schwächling erkannt wird, der seiner eigenen Frau nicht Herr werden konnte, so untergräbt das die Staatsmacht, die sich auf ein makelloses Heldentum ihres obersten Repräsentanten gründet.


Die Besudelung der königlichen Ehre kann nur mit dem Blut des Verursachers abgewaschen werden. Das allein genügt schon als Motivation für den Mord Hagens an Siegfried. Die Skrupellosigkeit, mit der er ihn plant und durchführt, ist in der Tatsache begründet, dass der hörnerne Siegfried nicht anders getötet werden kann. So rechtfertigt Hagen seine Tat mit den Worten:

Er hat den Tod ja abgekauft

Und so den Mord geadelt.

Siegfrieds Tod, 5. Akt, 1. Szene


Bei Hebbel kommt zur staatspolitischen Aufgabe Hagens ein weiteres Moment hinzu: der Neid auf den an Kampfkraft Überlegenen. Hagen ist als Mensch nicht so edel, dass er nur aus Vasallentreue zum Äußersten geht. Die bevorzugte Stellung Siegfrieds am Hof ist ihm unerträglich, er muss den Rivalen demütigen. Er triumphiert schon im Voraus mit aller Häme über ihn nach der Überlistung Kriemhilds, die ihm vertrauensselig die verwundbare Stelle an Siegfrieds Körper verraten hat:


Nun ist dein Held nur noch ein Wild für mich!


Ja, hätt‘ er Strich gehalten, wär‘ er sicher,

Doch wusst‘ ich wohl, es werde nicht gescheh‘n.

Wenn man durchsichtig ist wie ein Insekt,

Das rot und grün erscheint wie seine Speise,

So muss man sich vor Heimlichkeiten hüten,

Denn schon das Eingeweide schwatzt sie aus!

Siegfrieds Tod, 4. Akt, 7. Szene


Damit charakterisiert er Siegfried als problematischen Menschen in einer Führungsposition, als einen Risikofall. Hagen hält Siegfried schlechterdings für dumm und einfältig, unfähig, den begangenen Fehler wenigstens zu verschleiern, wie er, Hagen, es getan hätte:


Dass ihm der Witz gebrach, sich auszureden .


Er ward gewiss schon beim Versuche rot.“

Siegfrieds Tod, 4. Akt, 3. Szene

Das Verhältnis zum Mythischen musste Hebbel bei Hagen wieder in besonderer Weise psychologisch motivieren. Hagen nimmt das Mythische als Realität - darin bleibt er auch im Drama Kind seiner Zeit -, aber er löst gewissermaßen das Menschliche, das für menschliches Handeln Relevante, aus dem Mythischen heraus. Hagen ist Pragmatiker, bei dem nur das Ergebnis zählt. Siegfrieds unverwundbar machende Hornhaut hat er gleich am Anfang unter diesem Blickwinkel gesehen: „Darf denn noch fechten, wer nicht fallen kann?“

Hagen sieht Siegfried und Brunhild auf zwei Ebenen, als Wesen, die dem Mythischen entstammen und in die rein menschliche Welt eingetreten sind. Brunhilds Hass auf Siegfried, nachdem sie sich als Verschmähte und Betrogene erkannt hat, erklärt Hagen auf der mythischen Ebene:


Sie liegt in seinem Bann, und dieser Hass

Hat seinen Grund in Liebe! (...)

Doch ist’s nicht Liebe, wie sie Mann und Weib

Zusammenknüpft (...) Ein Zauber ist’s,

Durch den sich ihr Geschlecht erhalten will,

Und der die letzte Riesin ohne Lust

Wie ohne Wahl zum letzten Riesen treibt (...)

Den löst man durch den Tod!

Ihr Blut gefriert, wenn sein’s erstarrt, und er

War dazu da, den Lindwurm zu erschlagen

Und dann den Weg zu geh‘n, den dieser ging.

Siegfrieds Tod, 4. Akt, 9. Szene

Hagen zieht das Mythische respektlos in seine rationale Strategie mit ein. Er glaubt die Riesen, für die er Siegfried und Brunhild hält, - Riesen sind in der germanischen Glaubensvorstellung dämonische Verkörperungen von Naturgewalten -, durch einen menschlichen Eingriff außer Gefecht setzen zu können.

Ein weiteres Mal wird er das tun. Als die Nibelungen auf ihrem großen Zug an die Donau gelangen, trifft Hagen auf drei Nixen. Er weiß um ihre Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, und er weiß, wie er sie zu einer Weissagung zwingen kann: Er nimmt ihnen die Kleider weg, die sie am Ufer abgelegt haben, während sie sich im Wasser bewegen. Auf diese Weise erfährt er den Ausgang des Unternehmens und kann sein weiteres Verhalten darauf einrichten. Es wird die Strategie des bewussten Todeskampfes sein.

Nachdem Hagen durch die Beseitigung Siegfrieds seiner Auffassung nach die alte Ordnung am Burgunderhof wieder hergestellt hat, tritt ihm statt der Lichtgestalt Siegfried als Kontrahentin Kriemhild gegenüber, die sich in Folge der Ermordung ihres geliebten Gatten völlig verwandelt hat. Es wurde oft die Frage gestellt, wie denn aus der lieblichen Kriemhild des Anfangs die Teufelin des Endes werden konnte. Mit diesem Problem sah sich erst recht der psychologisierende Dramatiker konfrontiert. Er stellt nun gleich zu Beginn eine Weiche zu der Entwicklung, die Kriemhild im späteren Verlauf der Handlung erfährt. Sie äußert sich schon beim ersten Auftreten mit einem entschiedenen Ton, der ihre Anlage zu kompromissloser Selbstbehauptung erkennen lässt:

(...) Seit wann ist’s Brauch

An unser’m Hof, dass wir’s nicht mehr erfahren,

Wenn fremde Gäste eingezogen sind?

Wird diese stolze Burg zu Worms am Rhein

Der Schäferhütte gleich, in der sich jeder

Bei Tag und Nacht verkriechen kann, der will?

Der gehörnte Siegfried, 3. Szene


Vorher hat sie ihrer Mutter Ute den Traum erzählt, mit dem auch das Nibelungenlied einsetzt, einer Vorausahnung ihres Schicksals, die sie zu dem Entschluss veranlasst, ewig auf Liebe zu verzichten, weil sie nur „kurze Lust und langes Leid zu bringen pflegt“. Ihre Reaktionen auf all das, was ihr im Laufe der Handlung begegnet, entspringen im Drama ihrem Temperament und ihrer Denk- und Glaubenshaltung, die ihre Verankerung im germanischen Ethos hat.

Es wird sich zeigen, dass sie durchaus friedfertig sein kann - sie sagt zur gerade in Worms angekommenen Brunhild: „Wir wollen Schwestern sein“ -, aber sobald ihre Ehre angegriffen wird, wie es dann beim Streit mit Brunhild vor dem Domportal geschieht, zeigt sich ihre ganze Stoßkraft, die nach der Tötung Siegfrieds in die unerbittliche Forderung einer gerechten Bestrafung des Mörders und nach deren Verweigerung in eine grenzenlose Rache mündet. Sie bleibt dabei völlig befangen in den Kategorien des alten germanischen Ethos, das keinen Begriff hat von Verzeihen und Gnade. Sie wird am Ende ausschließlich beherrscht von Hass und Rachedurst, sie ordnet diesen Emotionen alles unter: Sie opfert ihren und Etzels Sohn, um den königlichen Ehemann zum Eingreifen in den Kampf gegen die Burgunden zu bringen, sie opfert ihre Verwandten, unter ihnen auch den geliebten jüngsten Bruder Giselher, um der Vernichtung ihres Erzfeindes Hagen willen:


Und müsst‘ ich hundert Brüder niederhauen


Um mir den Weg zu deinem Haupt zu bahnen,

So würd ich’s tun.

Kriemhilds Rache, 4. Akt, 4. Szene


Mit dieser radikalen Einstellung ist Kriemhild die ausgeprägteste Repräsentantin eines Ethos, das nicht auf Leben, sondern auf den Tod ausgerichet ist. Es geht dabei nicht um den Tod eines Einzelnen, den sie abgrundtief hasst, in diesen Tod werden alle Burgunder, die im selben Denkmuster verhaftet sind, wie in einen Sog mitgerissen. Deren gemeinsamer Lebensinn besteht nur noch darin, in Treue zu sich selbst und zu den Mitkämpfern bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen und dabei noch möglichst viele oder alle Gegner mitzuvernichten. Jede Alternative, die ein Überleben in Erwägung zieht, wird als Feigheit und Ehrlosigkeit verworfen. Die Nibelungentreue, die Heldentreue dieses Musters, ist kein Prinzip des Lebens, sondern ein fataler Trieb zur Selbstvernichtung.

Hagen und Kriemhild tritt im Endkampf eine Kontrastgestalt gegenüber: Dietrich von Bern. Im Epos bleibt diese Figur etwas rätselhaft. Dietrich greift, ohne Vasall Etzels zu sein, mit seinen Mannen in den Kampf ein. Ihm ist es letztlich vorbehalten, die ermatteten Kämpfer Gunther und Hagen zu überwinden und gefesselt vor Kriemhild zu bringen. Als diese ihren Bruder töten lässt und Hagen im letztem Triumph selbst das Haupt abschlägt, erfolgt die letzte Gewalttat der Tragödie: Bei Hebbel erschlägt Dietrichs Waffenmeister Hildebrand Kriemhild mit den Worten, die der christlichen Glaubenswelt entstammen: „Kommt hier der Teufel doch noch vor dem Tod? Zurück zur Hölle!“

Hebbel motiviert die Haltung des Dietrich von Bern mit eigener Zutat deutlicher. Dietrich ist bei ihm ein des Kampfes und Tötens überdrüssiger Mann, der beschlossen hat, sich in Demut zu üben. Er hat sich, obwohl selbst mächtiger König und einstmals gefürchteter Kämpfer freiwillig auf sieben Jahre in den Dienst Etzels begeben. Er hilft jetzt durch sein Eingreifen ein Schicksal zu vollenden, das weit über das eines Einzelnen oder eines Volkes hinausreicht, das sozusagen eine Weltenwende bedeutet: nämlich die von einer zugrunde richtenden Weltanschauung zu einer lebensbejahenden, der des humanen Christentums.

Dietrichs freiwillige Unterordnung unter die Herrschaft des Hunnenkönigs band sich wiederum an einen verwandelten Etzel, der einstmals wild und grausam die Welt eroberte, dann aber bei seiner Eroberung Roms vor dem Papst, den er eigentlich hatte entmachten wollen, zu Füßen fiel und von da an ein Friedensfürst geworden war. Etzel überlebt das Inferno, aber als gebrochener Mann, der dem stärkeren Dietrich nun überträgt, was von seiner Macht und Herrschaft übriggeblieben ist. Dietrich nimmt das Erbe an mit den Worten, mit denen Hebbels Nibelungen-Trilogie ausklingt: „Im Namen dessen, der am Kreuz erblich.“

Hebbel hat sich als Literat des 19. Jahrhunderts bemüht, im Rückblick auf das Mittelalter einen bedeutenden literarischen Stoff dramatisch nachzugestalten, um ihn auf diese Weise erneut in den Blick und zu vertieftem Verständnis zu bringen. Aber es kommt noch etwas hinzu: ein Stück Weltanschauung des 19. Jahrhunderts. Hebbel nimmt zeitgenössisch eine weltanschauliche Position ein, die in spezifischer Weise im Laufe seines Jahrhunderts beginnt, nämlich die einer entgotteten Welt, einer Gesellschaft, die nicht mehr von dem Menschen übergeordneten Mächten und Werten geleitet wird.

Hebbel stellt in seinen Dramen die Wertewelt der idealistischen Klassik und Romantik in Frage. Im Nibelungenlied blitzt eine höhere Sinngebung im christlichen Glauben auf, und Hebbel arbeitet diese mögliche Aussicht heraus bei den Gestalten, die das Inferno überleben. Alle anderen, die dem Untergang geweiht sind, zeigt bereits das mittelalterliche Epos als heroische Nihilisten. Nihilisten sind sie auch bei Hebbel, weil sie keine Orientierung haben an einer lebensbejahenden, sinnstiftenden Weltordnung. Im Drama spricht Hagen dieses Bewusstsein im Bild eines Schiffs auf hoher See aus:

Von allen zweiunddreißig Winden dient

Uns keiner mehr, ringsum die wilde See

Und über uns die rote Wetterwolke.

Was kümmert’s dich, ob dich der Hai verschlingt,

Ob dich der Blitz erschlägt? Das gilt ja gleich,

Und etwas Bess‘res sagt dir kein Prophet!

Drum stopfe dir die Ohren zu wie ich,

Und lass dein innerstes Gelüsten los,

Das ist der Todgeweihten letztes Recht.

Kriemhilds Rache, 3. Akt, 11. Szene


Heroisch sind diese Nihilisten, weil sie ihre illusionslose, realistische Haltung mit dem Mut der Verzweiflung bis zum Ende bewahren und dem Tod ins Auge sehen, ohne zu klagen. Da es für sie kein Darüberhinaus gibt, bleibt ihnen nur der heldenhafte Untergang.

Ein Problempunkt darf am Ende dieser Ausführungen nicht unberücksichtigt bleiben, die Frage nämlich, ob Hebbels Nibelungen-Tragödie im Hinblick auf den Untertitel „ein deutsches Trauerspiel“ einen nationalistischen Touch hat.

Als sich am Hofe Etzels die Hunnen im Auftrag Kriemhilds den Burgundern in feindlicher Absicht nähern, führen Rumolt und Dankwart folgendes Gespräch:


RUMOLT

Ich guckt‘ einmal in eine finstr’re Höhle

Durch einen Felsenspalt hinein . Da glühten

Wohl dreißig Augenräder mir entgegen.

Grün, blau und feuergelb, aus allen Ecken

Und Winkeln,, wo die Tiere kauerten,

Die Katzen und die Schlangen, die sie zwinkernd

In ihren Kreisen drehten. Schauerlich

Sah’s aus, es kam mir vor, als hätt‘ sich eine

Gestirnte Hölle tief im Mittelpunkt

Der Erde aufgetan, wie all die Funken

So durcheinander tanzten, und ich fuhr

Zurück, weil ich nicht wusste, was es war.

Das kommt mir in den Sinn, nun ich dies Volk

So tückisch glupen sehe, und je dunkler

Der Abend wird, je besser trifft’s.

DANKWART

An Schlangen

Und Katzen fehlt’s gewiss nicht. Ob auch Löwen

Darunter sind?

RUMOLT

Die Probe muss es lehren,

In meiner Höhle fehlten sie. Ich suchte

Den Eingang auf, sobald ich mich besann,

Denn draußen war es hell, und schoss hinein.

Auch traf gar mancher Pfeil, wie das Geächz

Mir meldete, doch hört‘ich kein Gebrüll

Und ke in Gebrumm, es war die Brut der Nacht,

Die dort beisammen saß, die feige Schar,

Die kratzt und sticht, anstatt zu off’nem Kampf

Mit Tatze, Klau‘ und Horn hervorzuspringen,

Und ebenso erscheinen mir auch die.

Gib Acht, wenn sie uns nicht beschleichen können,

So hat’s noch keine Not.

DANKWART

Verachten möcht‘ ich

Sie nicht, denn Etzel hat die Welt mit ihnen

Erobert.

RUMOLT

Hat er’s auch bei uns versucht?

Er mähte G r a s und ließ die Arme sinken,

Als er auf d e u t s c h e Ei c h e n stieß!

Kriemhilds Rache, 3. Akt, 8. Szene


Mit diesen Sprachbildern geschieht etwas Bedenkliches. Die bisherigen Gegner der Hunnen werden im Gegensatz zu den „deutschen Eichen“ als „Gras“ bezeichnet, weitere Metaphern reichen ins Tierische hinein: Rumolt vergleicht die im Hinterhalt liegenden Hunnen mit der „Brut der Nacht“, die er einmal in einer Höhle mit Schaudern wahrgenommen hat, er sieht sie als „Katzen und Schlangen“, als eine „feige Schar, die kratzt und sticht, anstatt zu off‘nem Kampf mit Tatze, Klau‘ und Horn hervorzuspringen“. Als Hagen und Volker den Hunnen verachtungsvoll den Rücken zukehren, lässt der Tronjer die Bemerkung fallen:


Fängt’s hinter dir zu trippeln an, so huste,


Dann wirst du’s laufen hören, denn sie werden

Als Mäuse kommen und als Ratten geh’n.

Kriemhilds Rache, 3. Akt, 13. Szene


Schließlich sinkt die Metapher für die Hunnen ins Materielle, auf die tiefste Wertstufe: Für Hagen sind sie

(...) ein Haufen Sand,

der freilich Stadt und Land verschütten kann,

doch nur, wenn ihn der Wind ins Fliegen bringt.“

Kriemhilds Rache, 4. Akt, 3. Szene


Wohin diese Metaphorik für menschliche Wesen im 20. Jahrhundert führte, hat uns die reale historische Erfahrung gelehrt. Von den zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Deutschland eingewanderten Ostjuden sagt Hilter 1922 in einer Rede, sie hätten „das Land, aus dem sie kamen, durch Jahrhunderte ratzekahl abgewüstet und abgefressen“, und ruft damit das biblische Bild der Heuschreckenplage vor Augen. Die inzwischen in Deutschland reich gewordenen „Orientalen“, fährt er weiter, hätten den Volkskörper als nichts weiter angesehen denn „als Mistbeet für sich selber“. Und in den Kurorten säßen sie heute herum „wie die Schmeißfliegen um einen Kadaver“. (E. Kloss, Reden des Führers, München, dtv 1967, Rede vom 12. 4. 1922). Später werden in einem Propagandafilm des Dritten Reiches die als Untermenschen deklarierten Juden, Zigeuner und Menschen Osteuropas mit ekel- und Angst erregenden Bildern von Ratten in Verbindung gebracht.

Solche Gleichsetzungen von Menschen mit Ungeziefer öffnete die Fantasie der Adressaten für den Gedanken der radikalen Schädlingsvertilgung als einer notwendigen Maßnahme, mit der sich ein gesundes, tüchtiges Volk wie die Deutschen gegen „rassisch minderwertige Elemente“ mit völkischem Sendungsbewusstsein wehren muss.

Für eine Aufführung lassen sich in die problematischen Stellen des Hebbelschen Textes streichen, zumal der ungeheure Umfang der Trilogie wie auch die oft schwer verständliche literarische Sprache auf jeden Fall Kürzungen nötig machen. Aber am ungekürzten Lesetext bietet sich Gelegenheit zu erkennen, dass in der spielerischen Fantasie des fiktionalen Werks die Anfänge zu katastrophalen Entwicklungen in der Realität liegen können.

Aufführungen der Hebbelschen Trilogie in Worms


Das Nibelungenlied hat seinen zentralen Schauplatz in Worms wie auch die Spielhandlung der Hebbelschen "Nibelungen". Worms wurde dann auch der bemerkenswerteste Aufführungsort von Hebbels Nibelungen-Trilogie. Wegen ihrer Aufführungsdauer von 6 bis 7 Stunden konnte sie in den konventionellen Theaterprogrammen kaum einen Platz finden, wohl aber war sie geeignet für Festspiele.

1889 wurde In Worms das Spiel- und Festhaus gebaut, das als Stätte des deutschsprachigen Volkstheaters geplant war. Die Einweihung fand in Anwesenheit Kaiser Wilhelm II. statt. 1906 kam es unter der Schirmherrschaft des hessischen Großherzogs Ernst Ludwig zu einer ersten Wormser Aufführung der Hebbelschen "Nibelungen". Die drei Teile wurden an einem Tag gespielt, verteilt auf den Nachmittag und den Abend.

Besondere Berühmtheit erlangten die Aufführungen des Werks in den Jahren 1937, 1938 und 1939 unter der offiziellen Ägide der damaligen Reichsregierung. Zur Eröffnung erschien Reichspropagandaminister Dr. Goebbels. Ausführende waren die Darmstädter Bühne und hochrangige Gastschauspieler. Nach dem Krieg gab es 1956 eine Reihe von Freilicht-Aufführungen vor dem Westchor des Doms.