Die Nibelungen und ihre Frauen in den Wormser Festspielinszenierungen seit 2002

von Ellen Bender

Das Nibelungenlied zeigt Aufstieg und Tod Siegfrieds und den Untergang der Nibelungen. Der Dichter erklärt den Untergang aus dem Fehlverhalten der Helden und ihrer Frauen.

Und wie erzählen die Wormser Nibelungeninszenierungen von 2002 bis
2009 sowie von 2013 bis 2017 den Mythos der Nibelungen? Es geht um Interpretationen der Helden und ihrer Frauen in den Inszenierungen von Moritz Rinke/Dieter Wedel, Karin Beier, Gil Mehmert, Albert Ostermaier/Nico Hofmann.

Die beiden ersten Nibelungenfestspiele 2002 und 2003 wurden unter Dieter Wedels Regie nach der Fassung Die Nibelungen des Berliner Dramatikers Moritz Rinke vor dem Südportal des Domes aufgeführt. Rinke war von der Stadt Worms beauftragt worden1. Eines seiner Ziele war, das nationalsozialistische Vorurteil gegenüber den Nibelungen abzulegen. Rinke und Wedel projizierten ein Weltbild von heute auf die Heldensage. Sie verknüpften den Nibelungenstoff mit der Lebenswelt und Sprache der jungen Generation. Die Rollen waren mit hochrangigen Stars besetzt, allen voran Mario Adorf als Hagen, Maria Schrader als Kriemhild, Götz Schubert als Siegfried. –

Siegfried (2002)

Spannend ist die Darstellung der Figuren in aussagekräftigen Einzelszenen. Moritz Rinke interpretiert Siegfried in seiner dramatischen Bearbeitung als Großmaul, potent und dümmlich. Mit lässigem Spruch fordert er König Gunther zum Zweikampf um die Herrschaft über Burgund heraus. Hagen gelingt es, ihn zu beschwichtigen; er stellt ihm Kriemhilds Hand in Aussicht. Um sie zu gewinnen, leistet Siegfried Dienst für Gunther. Er hilft bei dessen eigener Brautwerbung: „König, ich mach das!“ sagt Siegfried. Für Gunther besiegt er Brünhild zweimal, unsichtbar, bei der Freierprobe auf Isenstein und bei der Brautnacht in Worms. Er täuscht Brünhild und gibt sich als rangniederer Vasall aus, indem er dem König die Zügel hält. Irritiert fragt Mutter Ute später: „Wieso hat denn Hagen nicht die Zügel auf Isenstein gehalten2?“

König Gunther will die schöne, kampfeslustige Brünhild zur Frau: „Eine Frau wie das Feuer selbst, ich muss sie kriegen.“ Da kommt ihm der starke Siegfried gerade recht. Gunther: „…Siegfried! Ich wünsch Euch schöne Nächte, Kriemhild, sie wird Euch gehören, wenn Brünhild nach Burgund kommt. Prost3!“ Gunther versagt als Mann. Siegfried muss ihm helfen – bei der Werbung und beim Ehevollzug in der Hochzeitsnacht.

Hagen ist der politische Berater und engste Vertraute der Burgundenkönige am Hof zu Worms: ein Taktiker mit Kalkül. Eine Paraderolle für Mario Adorf 2002 und Manfred Zapatka 2003 bis 2005. Für Moritz Rinke handelt Hagen aus Staatsräson. Hagen sieht in Siegfried den Keim allen Übels. „..Ihr seid alle Außenrechner, aber ich, ich bin ein Innenrechner und sage Euch: eine Frau zu viel und ein Mann zu wenig4.“ Er spielt damit auf die fatale Dreieckssituation von Siegfried und „seinen“ Frauen an. Hat sich Hagen vielleicht selbst Hoffnungen auf die schöne Burgundenprinzessin gemacht? Die Nähe zwischen Hagen und Kriemhild erklärt Rinke aus Kindertagen.- Nach dem Frauenstreit fordert Hagen Siegfrieds Tod. Hagens Handlungsmotive sind der Vorteil für Gunthers Hof und die Sicherung seiner Herrschaft im Familienclan der Burgunden.

Gunter und Brünhild (2003)

Brünhild stellt uns Rinke als kriegerische Königin vor, die auf Island in einer Flammenburg wohnt: „Eine Frau wie das Feuer selbst.“ Wer sie zur Frau gewinnen will, muss sie in drei Wettkämpfen besiegen. Wer unterliegt, ist tot.Brünhild wird von Gunther und Siegfried mit Hilfe der magischen Tarnkappe bei der Freierprobe getäuscht. Regisseur Dieter Wedel, seit 2004 auch Intendant, zeigt die Ankunft Brünhilds in Worms auf einem Eispferd. Siegfried soll die Zügel halten. Brünhild möchte Klarheit haben über Siegfrieds gesellschaftlichen Rang. Die Frage des Vorrangs steht auch im Mittelpunkt beim Frauenstreit vor dem Münster. Brünhild weist Kriemhild zurecht: „Hinter mir bitte. Weißt du, wer du bist? Du kannst doch nicht vor der Frau des Königs in die Messe gehen?“ Kriemhild: „Siegfried ist nicht Euer Diener.“ Als Brünhild darauf besteht, sagt sie: „Und wie wird dann die..die..Hure eines Dieners Königin? Wie5?“ Sie zeigt als Beweis Brünhilds Gürtel. Damit ist die Königin öffentlich entehrt und geschändet. Siegfried muss sterben. „Töten“ fordern die Mitglieder der burgundischen Königsfamilie. Und Hagen vollzieht die Tat.

Kriemhilds tiefe Trauer nach dem Tod des geliebten Siegfried und der Raub ihres Besitzes werfen sie auf sich selbst zurück. Sie zieht zu Etzel. Die Ehe mit dem gewaltigen Hunnenkönig erweist sich als machtpolitisches Zweckbündnis. Kriemhild sichert den dynastischen Fortbestand mit der Geburt des gemeinsamen Sohnes Ortlieb und erhält dafür von Etzel uneingeschränkte Königinnenmacht, die ihr die Rache an den Burgunden ermöglicht. Als Hagen Ortlieb ermordet, wird der Hunnenkönig in den blutigen Konflikt involviert.Etzel, den Kopf seines toten Kindes in den Händen haltend, starrt auf den brennenden Saal: „Die sind nicht tot! Die trinken Blut! Weib! Wen hast du mir ins Land gebracht? Die trinken meine Armee6!“ Kriemhild fordert von Hagen den Schatz. Als Hagen den Hort verweigert, lässt sie Gunther töten.Auf ihre erneute Hortforderungantwortet Hagen: „Du Schlange. Nie! Nimm mein Schwert7!“ Kriemhild hebt Siegfrieds Schwert, mit der Schneide nach oben. Hagen: „Anders rum.“ Sie dreht das Schwert und tötet ihn.

Rinkes Neufassung der ‚Nibelungen’ folgt zwar in Grundzügen der story des mittelhochdeutschen Epos, will aber politisieren und psychologisieren: Brünhild und Kriemhild äußern Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Brünhild, die ihrer Kraft beraubt wird, sucht verzweifelt ihren Platz. Kriemhild will sich nicht mit dem selbstherrlichen Leben am burgundischen Hof zufrieden geben. Gemeinsam mit Giselher träumt sie die Utopie einer besseren Welt: „Giselher, sag mir, dass wir etwas Großes finden! Lass uns endlich ein Buch schreiben! Wir werden eine neue Staatsform gründen8!“

Brünhild im Feuerkreis (2004)

Während Rinke einen leichten Ton anschlägt, setzt die Beier-Regieder Jahre 2004 und 05 mit Die Nibelungen – Ein deutsches Trauerspiel’(‚deutsch’ durchgestrichen) die gewaltige, pathetische Sprache Hebbels ein. Karin Beier hat ‚Die Nibelungen’ auf eine Bühne mit Schachbrettmuster gestellt und formt das Hebbel-Drama zu einer Kolportage, in der sich Machtpolitisches und Erotisches mischen. Sie zeigt uns Hagen im Nadelstreifenanzug; im Stil eines aalglatten Politprofis trifft er alle Entscheidungen. Als Spielball der von den Männern dominierten Politik werden die Frauen benutzt. In den nordischen Heldenliedern ist Brünhild eine Walküre, von einer Feuerlohe umgeben, in tiefen Schlaf versenkt. Nur wer es wagt, diesen Feuerkreis zu durchschreiten, kann sie erwecken. Auf diese Mythentradition greift Hebbel zurück.Man hört die Zauber-Runen, die poetisches Gewicht haben:

„Im tiefen Norden, wo die Nacht nicht endet/
Und wo das Licht, bei dem man Bernstein fischt/
Und Robben schlägt, nicht von der Sonne kommt,/
Nein, von der Feuerkugel aus dem Sumpf – /
Dort wuchs ein Fürstenkind/
Von wunderbarer Schönheit auf…9

Vergewaltigung Brünhilds (2005)

Wiebke Puls ist als Brunhild unter Karin Beiers Regie eine schöne Wilde einer archaischen Kultur. Durch die List Siegfrieds unter der Tarnkappe wird sie getäuscht. Brutal führt man sie in ihre neue Heimat ein. „Ist sie getauft?“ fragt Giselher voller Verachtung. Und platsch, hat die so Gedemütigte zwei Schüsseln Wasser im Gesicht – Taufe auf burgundisch!In den Szenen der Überwältigung Brünhilds zeigt Karin Beier die Frau als Opfer im Machtspiel der Männer. – Gunther ist ein zaudernder, manchmal hilfloser Wormser König. In einem geglückten Bild lässt ihn die isländische Königin, in eine Einkaufstasche gepackt, über die Bühne hopsen. Nass wird es vor dem Nordportal, wenn Kriemhild ihren Streit mit Brunhild in einem Pool austrägt; der Charleston-Sound verleiht dem Stoff einen Schuss Komik. Ironisch wirkt auch die Musikuntermalung mit dem „Jäger aus Kurpfalz“, als der naive Held Siegfried zur Jagd ausreitet, bei der er selbst der Gejagte wird. Ein gigantisches Bild von beklemmender Atmosphäre zeigt Beier am Hunnenhof, als Etzel und Kriemhild in fremdartigen Gewändern die Männer aus Worms umzingeln. Wieder treffen zwei Kulturen aufeinander, doch diesmal sind es Etzels Hunnen, die die Burgunden auslöschen. Das Ende hat Karin Beier grauenvoll umgesetzt. Wie von Sinnen beginnt Kriemhild Braten in sich hineinzuschlingen, unersättlich, unerbittlich, während ihre Sippe abgeschlachtet wird. Speiend und torkelnd führt sie das blutige Finale herbei, in dem Hagen den eigenen Tod kalt lächelnd hinnimmt. Spektakulär ist ihr Ende. Dietrich von Bern greift zu Hermelin, Schwert und Krone Etzels und ersticht Kriemhild „im Namen dessen, der am Kreuz erblich10.“

Von 2006 bis 08 zeigt Dieter Wedel neue Fassungen der Sage, wieder von Moritz Rinke geschrieben: 2006 ist es das Nibelungendrama ‚Siegfrieds Frauen’, in dem es um Geschlechterrollen und -bilder geht. Wedel inszeniert das Beziehungsdrama als Kampf der Kulturen von Island und Burgund und als Kampf der Geschlechter. Rinke und Wedel erfinden eine neue Welt für Brünhild. Skizzieren wir einige Schlüsselszenen:

Wir befinden uns auf Island in einer Gesellschaft kriegerischer Frauen. Nebelschwaden ziehen auf. Bewaffnete Isländer ziehen ab. Ein Männeropfer hängt kopfunter im Rad.

Mit Isolde, der Brünhild-Vertrauten, hat Rinke eine neue Frauenfigur in die Amazonenwelt eingeführt, die Brünhild von Island nach Burgund begleitet. Sie wirbelt den Hof in Worms durcheinander.

Das Treiben am burgundischen Hof und die Freier interessieren Kriemhild nicht. Sie ist launisch und rebelliert gegen die Heiratspolitik des Hofes Die widerspenstig hochgereckte Frisur zeigt ihre Verweigerungshaltung.Der Hof bereitet ihr schon längst Überdruss. Rinke sieht sie in der Attitüde der Weltverbesserin.

Gunther erwürgt Isolde und mordet mit ihr die Welt der starken, unabhängigen Frauen. Die Szene ist äußerst frauenfeindlich. Ebenso die Szene, die die Isländerinnen bei der Ankunft in Worms zeigt: zusammengepfercht, als Sklavinnen in Eisen und Ketten gelegt. Rinke und Wedel zeigen Powerfrauen, aber sie zeigen auch das Brechen und Vergewaltigen der Frauen.

Jasmin Tabatai und Ute Zehlen (2006)

Die Szene des Königinnenstreites ist gelungen. In den Farben rot (Brünhild) und schwarz (Kriemhild) gekleidet, bekriegen sich die Frauen gegenseitig auf hochhackigen Pumps und explodieren. Beide treibt die Wut. Kriemhild präsentiert den Gürtel der vergewaltigten Amazone. Nun wird der Betrug auch für Brünhild offenbar: Sie, die kühle und kampfeslustige Königin des Nordens, wurde zur unterworfenen Frau Gunthers. Mit Siegfrieds Sterben rücken der tote Held und Brünhild in einem Quadrat aus Flammen zusammen. Davon ist im Nibelungenlied natürlich nicht die Rede. Die Sichtweise Wedels von Helden und deren Frauen ist umstritten.

Unkonventionell ist auch der zweite Teil der Heldengeschichte:Die letzten Tage von Burgund’ 2007: eine ironische Version, aber doch zu leicht. Warum muss König Gunther ausgerechnet in der Badewanne planschen? Beim Staatsbegräbnis Siegfrieds entlädt sich Kriemhilds Schmerz in verzweifelter Wut. Sie schleppt Siegfrieds Sarg hinter sich her. Hagen raubt der Witwe den Nibelungenschatz, weil er fürchtet, sie würde sich mit dem Gold eine Streitmacht kaufen und einen Krieg beginnen. Kriemhild wäre lieber ein Mann, dann könnte sie ihre rechtlichen Ansprüche durchsetzen. „ob ich ein ritter waere“, sagt sie im Nibelungenlied11, und bei Rinkeführt sie das Heer an. Kriemhild heiratet aus Berechnung den mächtigsten Herrscher der Welt. Sie genießt ihr neues Leben an der Seite des Hunnenkönigs,der sich als treusorgender Familienvater gibt. Sie lädt ihre Verwandten ein. Die Nibelungen ziehen los – in der Hoffnung auf finanzielle Unterstützung. Das Familienbankett am Etzelhof gerät zum Schlachtfest. „Dass Hagen König Gunther umbringt, das hat Dieter Wedel erfunden“ sagt Autor Moritz Rinke bei der Premiere12. Dass Kriemhild sich aber in die liebende Ehefrau des charismatischen Hunnenkönigs verwandelt, die Siegfrieds Bild verbannt und ihn vergessen hat, kann man den „Machern“ nicht abnehmen. Diese Aussage ist weder sagengeschichtlich noch psychologisch fundiert.

Gunther planscht (2007)

2008 folgte dann eine Zusammenschau der beiden Teile von Moritz Rinke und Dieter Wedel im täglichen Wechsel: Die neuen Nibelungen – „Siegfrieds Frauen“ und „Die letzten Tage von Burgund. Dieter Wedel hat den Sänger Volker von Alzey, gespielt von Walter Plathe, als Chronist an den Burgundenhof geholt, Meret Becker übernimmt den Part der Brünhild. Sie ist jetzt keine kampfeslustige Heroin, sondern ein zartes Wesen, das sich der Liebe öffnet. Sie erklärt Siegfried die Liebe. Die kühle Frau des Nordens steht in Flammen. Aber der Drachentöter ist nicht interessiert. Den Jungfrauengürtel nimmt er nicht. Er fragt nur, ob der Gürtel schwer sei und geht wieder. „Brünhild?“ sagt er: „Sie rührte, als ich sie da oben sah, in aller ihrer Schönheit nicht mein Herz13.“

Beim zweiten Stück ist die Handlung dichter auf den Konflikt zwischen dem Dunkelmann Hagen und der Witwe Kriemhild hin komponiert. Als Hagen Etzels Sohn umbringt, peitschen die Maschinengewehr-Salven und lodern die Flammenwände turmhoch.

Die letzten Tage von Burgund, Annett_Renneberg und Uwe Bohm (2008, Foto: Rudolf Uhrig)

2009 gab es eine komödiantische Bearbeitung der Nibelungen durch John von Düffel:‚Das Leben des Siegfried’, ein Satirspiel. Regie führte Gil Mehmert. Es ist die Geschichte einer Verwechslung. Ein Gewürzhändlersohn aus Xanten mit Namen Seefred wird von Geburt an mit dem Xantener Königssohn und Drachentöter Siegfried verwechselt. Dieser Seefred ist in einer Jolle unterwegs, um den Seeweg nach Indien zu entdecken. Doch zwei Raben auf Schwingstelzen lotsen ihn im Eisnebel an das Gestade der sagenhaften Brünhild. Er schippert ahnungslos hinein ins Nibelungenabenteuer. Die starke Brünhild zeigt durchaus weibliche Schwächen: Sie scheint Seefred nicht abgeneigt und übt sich mit ihm auf Island im Eislaufen. Unterdessen eilen die Raben mit Siegfrieds Ruf voraus, rheinauf nach Worms. Dort regiert Gunther mit zwei mutierten Riesenpudeln Gernot und Giselher. Doch der Dänenkönigmacht Gunther und Hagen das Leben schwer; er hält sie gefesselt. Die Kunde von Siegfrieds Ankunft lässt die dänischen Besatzer Reißaus nehmen. Seefred wird als Held gefeiert. Er entdeckt seine Liebe zu Kriemhild -,und Brünhild kommt nach Worms. Die Komödie bietet eine köstliche Farce auf den Kampf der Kulturen Burgund versus Island. Nina Petri gibt die Speer schwingende und Ringe werfende Kämpferin im Paillettenlook.Christoph Maria Herbst fasziniert als „Hägar“ Hagen, der kühl seine Zyniker-Qualitäten ausspielt. Am Ende wird der tapsige Seefred auf Kriemhilds Hochzeitsbett hingemordet.- Gelungen ist die Szene gleich zu Beginn, als der echte Siegfried mit seiner „Teutonic“ einen Eisberg rammt in ironischer Anspielung auf den Untergang der „Titanic“. Und dieser echte Siegfried setzt auch den effektvollen Schlusspunkt: „Ich komm’ doch gerade erst. Ich war doch noch gar nicht dran. Hey, ich bin Siegfried – das Original!“ Hagen wirft den Speer. Spot aus.

König Gunther (Gustav Peter Woehler) (2009)

Vier Jahre später – 2013 – versucht sich Dieter Wedel an Hebbels Nibelungen – born to die auf der Grundlage des Hebbel-Dramas. Er psychologisiert das Verhalten der Figuren. Es geht um die brennende Liebe zweier Frauen zu einem Mann, den sie beide begehren: mit Cosma Shiva Hagen als mädchenhafter Kriemhild und mit Kathrin von Steinburg als wild-magischer Brünhild. Und es geht um Hass, um Brünhilds Rache für Siegfrieds Betrug. Dieter Wedel startet retrospektiv mit der heimtückischen Ermordung Siegfrieds. „What has happened?“ fragt Rüdiger von Bechelaren, der als Werber für Etzel an den trauernden Wormser Hof kommt. Hätten die dramatischen Ereignisse aufgehalten werden können? War der Mord zu verhindern? Im Rückblick betritt Siegfried die von Schlamm bedeckte Bühne, geleitet von seinen strahlenden Recken, dem „Chor der Nibelungen“, wie Schwanenritter in ihren goldenen Rüstungen mit weißen Federn auf den Helmen. Die Welt bescheinigt Vinzenz Kiefer „eine Mischung aus Achilles und Florian Silbereisen im hautengen Dress“ – Dann die Werbungsfahrt Siegfrieds und Gunthers nach Island. Der Werbungsbetrug wird nur angedeutet. Das schuldet man der Spielzeit. Die Aufführung des immensen Nibelungenstoffes war von Hebbel 1861 auf 6 Stunden konzipiert. Das konnte man hier natürlich nicht leisten. Die endgültige Bewältigung der Amazone durch Siegfried spart Wedel aus, er zeigt die Entdeckung des Betrugs: Kriemhild präsentiert Brünhilds Gürtel wie eine Trophäe. Brünhild wirft sich in den Schlamm, ist von Siegfried verschmäht und betrogen; dafür will sie Rache, die der sinistere Hagen vollzieht. -Intensiv und emotional ist das Stück, wenn es Hebbels Text folgt!Den Streit der Religionen zwischen dem germanischen Götterglauben und dem aufkommenden Christentum, dargestellt im Zusammenprall der Figuren Frigga (Brünhilds Amme) und Kaplan, behandelt Wedel eher am Rand. Zu oberflächlich ist dem Mannheimer Morgen die Inszenierung: Performance statt Theater, mit großen Effekten, Kostümrausch und Feuerzauber. Noch einmal: Siegfrieds Tod mit dem Feuerkreis, den Brünhild um sich und Siegfried legt. Rüdiger von Bechelaren wird dem Herrscher der Welt, Seiner Majestät Etzel, Bericht erstatten.

Siegfried in Worms (2013)

2014 inszeniert Dieter Wedel (in seinem 13. Sommer-Festspiel-Jahr) Hebbels Nibelungen – born this way, den Untergang der Nibelungen an Etzels Hof, seine letzte Bearbeitung des Sagenstoffes nach Friedrich Hebbels Drama. In einem starken Bild zeigt er Kriemhild, verheiratet mit Siegfrieds Sarg. Vor dem Nordportal des Doms fordert sie ihr Recht auf Sühne für den Mord an Siegfried. Doch Hagen steht unter dem Schutz der burgundischen Königsbrüder. –

Die Burgunden/Nibelungen sind es, die den Krieg ins Hunnenreich tragen. Wedel zeigt sie als überhebliche Herrenmenschen, die auf vermeintlich unzivilisierte Hunnen herabsehen. Sie werden als kriegswütige und fremdenfeindliche Teutonen in Tarnanzügen vorgeführt, die sich, operettenhaft inszeniert, nur bei Blasmusik, Schnitzel und Bier wohlfühlen. Schnell kippt Etzels großzügiges Willkommensfest, als Kriemhild, ungerührt, ihren Sohn Ortlieb von Hagen ermorden lässt. Eindringlich sind die Kriegs- und Häuserkampfszenen mit modernen Waffen. Wedel zieht drastisch noch einmal alle Register, von brennenden Öltonnen bis hin zu Maschinengewehr-Salven. Kriemhild, gespielt von Charlotte Puder, fordert Gerechtigkeit. Doch die verweigert man ihr. Und ihre Brüder decken den Mörder. Hagen hat sie fest im Griff. Lars Rudolph überzeugt eindrucksvoll als böser Schlächter. Die Gerechtigkeitskämpferin wird zur blutigen Brudermörderin. Kriemhild erschießt Gunther. Zum Schluss gilt ihr einziges Interesse ihrer Obsession von der Tötung Hagens. Sie ersticht ihn. Resignativ ist das Ende. Reglos beobachtet Etzel die Hinrichtung Kriemhilds durch Dietrich von Bern. Als der Mörder und die Rächerin tot sind, verlässt ein verstörter Etzel, der Dietrich von Bern mit der Nachfolge seines Reiches betraut, die Bühne mit den Worten: „Ihr widert mich.“

Hebbels Nibelungen (2014) – Charlotte Puder tötet

2015 nun ein vollkommen neues Stück von Albert Ostermaier: ‚GEMETZEL‘. Regie führt Thomas Schadt, Intendant ist ab 2015 Nico Hofmann. Zwei spektakuläre zehn Meter hohe Türme stehen vor der Nordseite des Domes. Der eine trägt einen Totenkopf mit Dornenkrone, der andere hat Mammutzähne und ist von Baldachinen bekrönt: Das christliche Europa begegnet Asien. Am Hof König Etzels erwartet man die Ankunft der Burgunden. Wir sehen Ortlieb, den Sohn Kriemhilds und Etzels, der das Blut der Burgunden und der Hunnen in sich trägt. Er hört aus dem Mund des Hofnarren die Nibelungensage.

Der Narr flattert wie eine Krähe um Jung-Ortlieb:

„…….dein Kindskopf, Kind, kräh, der springt, der springt,
wie ein Ball springt er do, ganz geschwind, Kind, springt er in
den Schoß, den blutigen Schoß deiner Mutter, der Kopf,
Kind, in ihren Schoß und blutet und die Krähen werden weinen,
kräh, aber Kriemhild weint nicht, die Krähe, die Küneginne14“.

Ein maskierter Ritter tritt auf, im Batman-Kostüm mit einem knatternden Quad. Es ist Hagen. Er versucht, in die Erzählung des Hofnarren seine Sicht der Dinge einfließen zu lassen. Dabei lenkt er die Aufmerksamkeit auf das Geschehen um Kriemhild. Auf dieser zweiten Ebene wird die Geschichte von Siegfrieds Tod in Rückblenden und Alptraum-Sequenzen Kriemhilds gezeigt. Auf einer dritten Ebene setzt ein Tanzensemble die Geschichte pantomimisch um. Der Tanz zeigt meisterhaft das Unheil bringende Rheingold, den Kampf mit dem siebenköpfigen Drachen und Siegfrieds Ermordung. Ostermaier stellt Kriemhild als psychisch labil dar. Sie scheint auf der luftigen Brücke zwischen den beiden Kulturtürmen zu schweben. In fiebrigen Rache-Träumen spürt sie, Nacht für Nacht, den heißen Atem Hagens. Hagen: „Der tote Siegfried ist unser Bett, auf dem wir uns lieben. Nur im Töten lieben wir uns, nur in der Rache, und wenn wir uns vernichten wollen, wollen wir uns in Wahrheit lieben15.“ Ihre Träume um Brünhild und Siegfried verschmelzen mit der Realität um Etzel. Über der Alpträumenden reichen sich Brünhild und Etzel die Hand. Irgendwann liegen sich auch die beiden rivalisierenden Frauen küssend in den Armen, alles sehr komplex und psychologisch, mit eigener Erotik!

Alina Levshin und Max Urlacher (2015)

Der zweite Teil der Aufführung beginnt mit der Ankunft der Burgunder am Etzelhof. Das Bühnenbild zeigt überdimensional den „Triumph des Todes“ von Pieter Bruegel d.Ä., hunderte Totenschädel kullern auf die Bühne; sie verweisen auf das Gemetzel am Hunnenhof. Man spielt das Spiel der Nibelungen in geheuchelten Versöhnungen an der Festtafel. Etzel: „Das Spielen befriedigt in uns das Tier…“ Darauf Dietrich: „Wir wollen nicht weiterspielen, lasst uns lieber Lieder hören und unsere Versöhnung anders feiern als mit gespieltem Mord und Totschlag allerorten16.“ Hagen: „Wir sollten gehen17.“ Gunther: Wir wollen bleiben und gute Gäste sein….“ Giselher: „Aber ich habe noch Durst.“ Kriemhild: „Ja, ihr müsst trinken. Ich habe den Saal angezündet.“ Der Tisch der Festtafel brennt. Sie berauschen sich an rotem Wein und dem Blut des jeweils anderen. Etzel: „Wir wollen unser Blut wie Brüder trinken.“ Kriemhild ritzt sich den Arm auf. Das Spiel wird blutiger Ernst. Die Mundschenke bringen Messer und erstechen auf ein Zeichen Etzels alle Burgunden außer Gunther und Hagen, der Ortlieb als Geisel nimmt, um freien Abzug zu erlangen.Hinter Gunther steht der Narr, der dem König die Klinge an die Kehle drückt. Kriemhild zu Hagen: „Ich will den Schatz in deinem Kopf. Gib ihn mir, dann könnt ihr gehen.“ Hagen: „Euer Schatz ist in meinem Arm hier.“ Bewusst setzt die von Rachsucht Getriebene das Leben ihres Kindes ein. Ortlieb stürzt sich mit den Worten „Ich bin Siegfried“ in Hagens Schwert. Er opfert sich für Kriemhilds Rache. Dietrich: „Warum müssen alle sterben, die Ihr liebt?“ „Gold stirbt nicht“, sagt sie. Sie mordet Gunther und Hagen. Gold ist ihr (und Etzel) wichtiger als das gemeinsame Kind. „Die Welt soll uns allein gehören und alles Gold18.“ Etzel diktiert dem Narren den Schluss der Geschichte ins große Sagenbuch: „Wie Kriemhild getötet und in Stücke gerissen wird.“ Tatsächlich jedoch bleibt sie am Leben. Etzel schickt die zunehmend wahnsinnige Frau fort: „Hier, nimm Hagens Kopf und such darin, wo er den Schatz verborgen hat. Und findest du im Rhein ihn dann, bist rein du aller Schuld gegen mich.“ Ostermaier demontiert in seinem Stück die Bilder vom ‚Helden Siegfried‘ und vom ‚finsteren Hagen‘, vor allem aber die von der ‚liebenden Kriemhild‘. Er rechnet mit Kriemhild ab. Das Ganze ist keine leichte Kost und muss hinterfragt werden. Die Dialoge und Wortspiele sind witzig und heftig zugleich, z.B. „Ihr verwechselt Achten mit Schlachten.“ oder Kriemhild:„Gebt mir Hagen“, darauf Gernot:“Wein, gebt mir Wein19.“ Manche Bilder sind sehr gewagt und schwer verständlich. Warum tritt Brünhild im zweiten Teil als Dschihad-Kämpferin mit explosiver Zündschnur auf?

2016 nun ein weiteres Stück in Albert OstermaiersG-Trilogie: GOLD. Der Film der Nibelungen‘. Regie führt Nuran David Calis. Das Stück erzählt von einem Filmdreh.Das Filmteam um den Produzenten Konstantin Trauer und den Regisseur Arsenij Kubik dreht am authentischen Ort in Worms die letzte Szene des Films ‚Gold‘, nämlich den Königinnenstreit, der ja Auslöser für den mörderischen Verlauf der Sage ist. Neben den Konflikten der alten Nibelungensage entspinnt sich hinter den Kulissen ein Netz aus Intrigen des Filmteams. Uwe Ochsenknecht spielt den todkranken Produzenten Trauer, der mit dem Nibelungen-Film sein Vermächtnis hinterlassen will. Ein enger Vertrauter des Produzenten ist der Society-Reporter Peter Scheumer, den Dominic Raacke gibt. Regisseur Kubik, eitel und überdreht dargestellt von Vladimir Burlakov, will die Intensität der Auseinandersetzung zwischen Kriemhild und Brünhild auf die Schauspielerinnen übertragen, und zwar durch Manipulation. Er stellt seinen beiden Hauptdarstellerinnen jeweils eine jüngere Zweitbesetzung zur Seite. Er will vier Frauen, die sich hassen und zerfleischen. In den beiden Kriemhild-Darstellerinnen, einer alten und einer jungen, spiegeln sich Rivalität und Eifersucht. Auch Brünhild gibt es zweimal. Das sich daraus entwickelnde Konfliktpotential sorgt für die stärksten Szenen des Stücks, wenn die älteren Darstellerinnen unter diesem Druck leiden: So, als die ältere Kriemhild, Karina Bergmann, die Katja Weitzenböck gibt, als „gebrochene Frau“ eine Klage über das Altern anstimmt und die Angst, nicht mehr geliebt zu werden:„Ich bin alt, und ich betete im Dom. Für Was? Für Liebe, dass mich jemand liebt…“Calis hat die Rolle des Siegfried mit einem türkischstämmigen Darsteller besetzt. Dieser verkörpert den Helden Siegfried als Karikatur eines türkischen Machos, kahlköpfig, mit Goldgebiss. Er gerät in einen Konflikt mit seinem ausländerfeindlichen Kollegen, einem Schweizer Nationalisten, der als Hagen athletisch so gut mithält, dass sich der Mord an Siegfried wie ein Catch-Kampf gestaltet. Nuran David Calis fordert von den Darstellern, die Konfrontation zu suchen und sich den Konflikten zu stellen. Es sind komplizierte Abläufe, die sich auf verschiedenen Ebenen abspielen. Albert Ostermaier – so Spiegel online – habe seinen Figuren manchmal zu viele Tragödien und Seelenabgründe angedichtet, wie die Angst, wegen verblassender Attraktivität nicht mehr geliebt zu werden. Sehr viel reizvoller als „diese Psychoexkurse“ seien die Momente, in denen Calis mit der Verfilmung des Nibelungenstoffes wirklich ernst mache. Etwa als Karina Bergmann im Bühnenteich steht und als Kriemhild in einem Monolog ihren Hass auf Hagen artikuliert.

GOLD (2016)

Susanne Schul (Kassel) interpretiert Albert Ostermaiers Komödie aus einer intersektionalen Perspektive: Die Darsteller seien Opfer von Diskriminierung. Sie würden an ihre psychischen und physischen Grenzen geführt und zum Scheitern gebracht. Sie würden als Opfer psychologisiert, wie Karina Bergmann als ältere Kriemhild oder wie die Wodka-Trinkerin Lotte Jünger als ältere Brünhild. Und immer ist die Kamera dabei. Sie projiziert das Bühnengeschehen auf eine große Leinwand und nimmt den Schauspielern in ihren gläsernen Garderoben den letzten Rest an Privatsphäre. Gegen Ende ergeht sich der Produzent Konstantin Trauer, eine schillernde Figur wie Colonel Kurtz in ‚Apocalypse Now‘, in irren Weltuntergangsfantasien.Er thront als Dschungel-König und zitiert Etzel-Verse verfremdet aus Hebbels ‚Nibelungen‘. Dann gibt es eine Bombendrohung, die den Dreh gefährdet. Man ist plötzlich nur noch zu dritt. Scheumer zu Trauer: Bin ich schuld an deinem Tod, am Tod dieses Films? Bin ich an allem schuld20?“ Scheumer ersticht – als Hagen – alle Schauspieler in ihren gläsernen Trailern: „…Wir haben die Frauen missbraucht, beschmutzt und in den Wahnsinn getrieben. Alles für die Macht, den Ruhm, das Geld, das Gold. Aber die Macht hat uns ohnmächtig gemacht.“ Das alte Lied schlägt in seiner Unerbittlichkeit zurück: Die Szene eskaliert im apokalyptischen Blutrausch. Eingeblendet wird ein Video des Wormser Bürgermeisters Koppoler (in Anspielung auf Francis Coppola, den Regisseur von ‚Apocalypse Now‘) mit einem abgewandelten Zitat aus der Antike. Das soll dem Ostermaier-Stück eine besondere politische Aktualität verleihen: „Wanderer, kommst du nach Worms, berichte, du habest mich hier liegen sehen, wie das Gesetz es befahl.“ Das Zitat meint die Selbstaufopferung des spartanischen Königs Leonidas in der Schlacht bei den Thermopylen gegen die überlegenen Perser. Das Sparta-Zitat hatte auch Hermann Göring in der „Leichenrede“ von Stalingrad zitiert, doch auch in jüngster Zeit sprach der IS-Führer Abu Bakr al-Baghdati vom Kampf bis zum letzten Mann.

Die Inszenierung endet als Komödie. Kubik: „Ach, Freunde, vertraut mir, heulen können wir später, jetzt heißt es: kämpfen!“ Alle stehen von den Toten auf und tanzen21. Der Schluss geht in den Anfang über, leicht und beschwingt. Kubik: „Was wollen denn die ganzen Zuschauer hier?Habe ich gesagt, dass ich Zuschauer haben möchte? Wer hat sich denn diesen Schwachsinn ausgedacht?“ Drehbuchautor Charlie P. Weide: „Du“. – Ostermaiers Stück ist letzten Endes eine schrille Satire auf die gegenwärtige Film- und Theaterwelt.

Politisch wird Albert Ostermaier dann in seinem letzten Stück 2017, GLUT. Siegfried von Arabien‘, mit dem er seine Nibelungentrilogie beschließt22. Regisseur ist Nuran David Calis. Es geht um einen Zug des deutschen Hauptmanns Fritz Klein während des Ersten Weltkriegs durch die Wüste im mittleren Orient zu den sich in englischer Hand befindlichen persischen Ölquellen. In einem Extra-Waggon ist ein Wanderzirkus namens „Notung“ untergebracht. Die Zirkustruppe, Artisten, Feuerschlucker, Sänger, Musiker spielen die Geschichte der Nibelungen und reisen als Nibelungengestalten wie Siegfried, Gunther, Hagen, Brünhild, Wotan, Walküre. Diese Nibelungenhelden, vermeintliche Gaukler, sind getarnte deutsche Agenten und Offiziere im Jahr 1915, mitten im Krieg. Und verborgen unter ihren Koffern mit Kostümen befinden sich Waffen und Sprengstoff. Unter Führung des Hauptmanns Klein (alias Heio von Stetten) haben die falschen Helden den Auftrag, die Perserstämme aufzurufen, einen Heiligen Krieg gegen die Kolonialmächte England und Frankreich zu führen, die britischen Ölfelder zu attackieren, die Pipelines zu sprengen und die Entente aus England und Frankreich zu schwächen. Im Geheimen natürlich. Umtriebig, gauklerhaft-laut ist der Einzug der Akteure vor dem Wormser Dom, die in ihren Monologen eine Handkamera an sich reißen. Für diesen Kniff gibt es eine weitere Handlungsebene: Die Doppelagentin Lady Adler zu Stahl dreht einen Film namens ‚Glut‘ über diese Orientexpedition. Die facettenreiche Lady trägt deutliche Züge von Leni Riefenstahl.

GLUT (2017)

Wie schon beim Auftakt seiner Nibelungen-Trilogie setzt Ostermaier viel Hintergrundwissen voraus. Um die Anspielungen einzuordnen, sollte der Zuschauer um das Engagement Kaiser Wilhelms II. im Orient wissen, mit dem er den Einfluss Englands und Frankreichs zurückzudrängen hoffte. Enver Pascha hieß der Kriegsminister, der 1914 das deutsch-türkische Waffenbündnis unterschrieb, mit dem Zwietracht zwischen dem Osmanischen Reich und den Arabern gesät werden sollte. Enver Sahin heißt bei Ostermaier der despotische türkische Polizeichef, dessen Tirade über die Säuberung seines Landes an Erdogan denken lässt. – Es sind viele Figuren, die mit ihren Machtfantasien in langen Monologen bei diesem Spiel im Spiel zu Wort kommen. Offiziell reist man in das südirakische Basra, um den Scheich zur Wagner-Oper zu bekehren. Deshalb hat Klein auch die getarnte Theatertruppe im Gepäck. Erstmals wird auf der Bühne vor dem Dom die Musik Richard Wagners gesungen. Ostermaiers ‚Glut verknüpft geschickt die historische Mission deutscher Offiziere mit der Nibelungensage und mit Richard Wagners ‚Ring‘.Die Sängerin Nadja Michael tritt als Walküre der „Götterdämmerung“ auf, der Tenor Bassem Alkhouri als Alberich, dann als Siegfried. Das Musikerensembleverfremdet Wagner in orientalischem Sound zu „Wagner auf Arabisch“23.

Verwirren können die vielen Ebenen des Stücks. Dass Ostermaier seinen mehrdimensionalen Figuren die Rollen wechseln lässt, ist ein Gestaltungsprinzip, das in Mode gekommen ist.Die meisten Figuren haben einen doppelten, wenn nicht dreifachen Boden, sind gleichzeitig Offiziere und Gestalten der Sage. Ähnlich wie die Wormser Königssippe auf dem Weg zu König Etzel, treten auch die Agenten eine Reise in den Untergang an. Der Orient-Express ist die Parallele zum Zug der Burgunden an Etzels Hof. So ist der einflussreiche persische Scheich Omar (alias Mehmet Kurtulus), den man als Verbündeten zu gewinnen hofft, zugleich der Etzel des Orients. Auf einer dritten Ebene hat er etwas von dem poetisch-weisen Nathan oder von Hafis, dem persischen Dichter und Mystiker des 14. Jhs., der über die Unvermeidbarkeit des Schicksals meditierte. Die Sand-Wüste erinnert im zweiten Teil an eine Bunkerlandschaft.Etzels deutsche Frau, Gräfin Falke (!), erklärt sich offiziell zur „Kriemhild des Reiches“. Gnadenlos will sie Rache. Dafür wird sie am Ende ihren Sohn Faisal opfern, wenn er im Spiel den Siegfried gibt. Die deutschen Offiziere spielen nicht nur, sie sind die Nibelungen: Hauptmann Klein ist Hagen. Gräfin Falkes Sohn stürzt sich als Siegfried in Hagens Speer; er entzündet damit den alles verschlingenden Weltenbrand.Als den Agenten an Omars Hof ihre Götterdämmerung ereilt, intoniert dieWalküre Brünnhildes Schlussgesang. -Ostermaier lässt keinen Bezug auf das Hier und Jetzt aus. Die historischen Figuren wie der persische Scheich oder der türkische Polizeichef werden durch aktuelle Identitäten angereichert und die politische Brisanz, wie z.B. des Dschihad, ins Heute übertragbar gemacht. Das ist im Detail spannend, aber es verwirrt. Es gibt viel zu viele Bezüge und Anspielungen, so auf Lawrence von Arabien, Wagner, Hebbel, Lessing, Hafis, Schillers Spieltheorie und auf den Irrsinn nibelungischer Weltuntergangssucht. Die Anspielungen lassen neue Facetten des Nibelungenmythos und seiner Wirkungsgeschichte aufblitzen, auch der Weltlage von einst. Ob die beabsichtigte Wirkung, geschichtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge aufzuzeigen, erreicht wird, bleibt zweifelhaft.

Warum immer wieder die Nibelungen? Die Inszenierungen bei den Wormser Nibelungenfestspielen haben sich dem Zeitgeist verpflichtet. Die Neuerfindungen bei den Festspielensind psychologisierende und politisierende Spekulationen. Die unterschiedlichen Perspektiven der Deutung stellen eine Bereicherungdar, führen zu neuen Deutungshorizonten.- Die großen Themen der Menschheit bleiben: Liebe, Hass, Vergeltung.

1 „Als ich hörte, ich soll die Nibelungen neu schreiben, habe ich mir vorgestellt: Du bist jetzt so eine Art Schliemann, und nun grab mal schön mit deinen Geräten Troja wieder aus!“ In: Moritz Rinke, Die Nibelungen, Hamburg 2002, S. 112
2 ebenda, S. 44
3 ebenda, S. 33 f.
4 ebenda, S. 38
5 ebenda, S. 63
6 ebenda, S. 97
7 ebenda, S. 101
8 ebenda, S. 18
9 Friedrich Hebbel, Die Nibelungen. Ein deutsches Trauerspiel in drei Abteilungen, 1995, Der gehörnte Siegfried, 1. Szene, S. 23
10 Friedrich Hebbel: Die Nibelungen, 1995, Kriemhilds Rache, 5. Akt, 14. Szene, S. 250
11 Nibelungenlied, B, 1416,4
12 23.07.2007
13 Hebbel, ebenda, S. 41
14 Albert Ostermaier, Gemetzel, Frankfurt a. Main, 2015, S. 14
15 ebenda, S. 23
16 ebenda, S. 86
17 ebenda, S. 92
18 ebenda, S. 102
19 ebenda, S. 95
20 Albert Ostermaier, Gold. Der Film der Nibelungen. Eine Komödie, Frankfurt a. Main, 2016, S. 180 f.
21 In Ostermaiers Textbuch hingegen sprengt sich Hagen mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft! (Albert Ostermaier, Gold. Der Film der Nibelungen, Frankfurt a. Main, 2016, S. 192)
22 Albert Ostermaier, Glut. Siegfried von Arabien, Frankfurt a. Main, 2017
23 Mannheimer Morgen, 07.08.2017