Gunther und Gutrune – betrügerische und betrogene Geschwister

von Doris Schweitzer

Gunther und Gutrune nehmen unter den Figuren in Wagners „Ring“ eine Zwitterstellung ein. Sie entwickeln zu keiner Zeit ein eigenständisches dramatisches Profil sondern agieren von Anfang bis Ende als Hagens willenlose Werkzeuge und schließlich als Opfer seiner Intrige. Ihr fast ausschließlich gemeinsames Auftreten deutet auf ihre Unselbstständigkeit hin. Im strengsten Sinne des Wortes kann man sie nicht als „dramatis personae“ bezeichnen. Beide verbindet, dass sie im „Ring“ die einzigen Figuren, neben Hunding, menschlicher Abstammung sind, die namentlich genannt werden und dass beide unverheiratet sind. Der Wunsch, den Makel der Ehelosigkeit zu beheben, lässt sie betrügen und die von Hagen ins Kalkül gezogene Aufdeckung ihrer Täuschung führt zum Verlust ihrer Ehre. Am Ende stehen sie als betrogene Betrüger da, mit denen man kein Mitleid empfindet. Anders als Siegfried und Brünnhilde verleiht ihnen das Scheitern keine tragische Fallhöhe. Etwas Mittelmäßiges geht von ihnen aus, nur das Niedrige bleibt an ihnen haften. Eigentlich sind sie Anti-Helden.

Color Illustrations for Wagner‘s Ring, Arthur Rackham, 1912

Dieser Sicht entsprechen allerdings nicht die Rollenprofile. In der „Götterdämmerung“ und nur dort tritt das Paar auf, ist Gunther in vier der insgesamt sechs Bilder präsent, in einem weiteren als „Maske“ Siegfrieds, Gutrune tritt immerhin in drei Bildern auf. Beide sind wenn auch nicht handlungsbestimmend so doch zumindest handlungstragend, denn Hagens Intrige, von Beginn bis zu dem Moment, da sie diese durchschauen, verläuft über die Handlungen von Gunther und Gutrune. Mag man sie auch als dramaturgische Hilfspersonen bezeichnen, so schmälert dies nicht ihre Bedeutung. Sie sind konstitutiver Bestandteil einer neuen pluralistischen Dramaturgie, die den Werkstil der „Götterdämmerung“ im Unterschied zu den vorhergehenden Teilen der Tetralogie maßgeblich bestimmt. Auch die Tatsache, dass sie die einzigen Menschen im Ring sind, verleiht ihnen einen besonderen dramatischen Stellenwert. Das unterscheidet beide von ihrem Halbbruder Hagen, dessen Mutter ebenfalls Grimhild ist, der jedoch Alberich zum Vater hat. Wagner bezeichnet in seinem Prosaentwurf „Der Nibelungen-Mythus“ das Geschlecht der Gibichungen als „auch von Göttern entsprossenen Heldenstamm“, jedoch wird dieses Motiv weder in „Siegfrieds Tod“ noch in der „Götterdämmerung“ aufgegriffen, vielmehr wird die Fremdheit Hagens bedingt durch seine Abstammung immer wieder hervor gehoben. „Bleichfarbig, ernst und düster“ ist sein Aussehen, „frühzeitig sind seine Züge verhärtet, erscheint älter als er ist“. Hagen verfügt als einziger der Geschwister über Kenntnisse in schwarzer Magie. Er braut den Zaubertrank, den Gutrune Siegfried lediglich kredenzt und nur er verfügt über das Gegenmittel, das seine Wirkung aufheben kann. Für Alberich, seinen Vater, soll er den Ring und damit die Macht über die Welt gewinnen. Hier gibt es eine Parallele zu Wotan, der mit Siegmund, den er ebenfalls mit einer Menschenfrau gezeugt hat, seine eigenen Pläne umsetzen möchte. Auch das geht schief, weder Wotans noch Alberichs Pläne gelingen.

Als Wagners besonderes Interesse an der altdeutschen und vor allem altnordischen Literatur in seinen Dresdner Jahren von 1842-1849 erwachte, legte er sich eine entsprechende Bibliothek zu: Er besaß das Nibelungenlied in vier Ausgaben, die „Edda“ in zwei Editionen dazu Werke wie Jacob Grimms „Deutsche Mythologie“, außerdem war er regelmäßiger Nutzer der königlich-sächsischen Hofbibliothek. Die Beschäftigung mit dem Nibelungenstoff galt allerdings noch nicht dem Plan eines eigenen Bühnenwerks über diesen Stoff, sondern der Vorbereitung des „Lohengrin“. Erst 1848 schrieb er einen Text mit der Überschrift „Die Nibelungensage (Mythus)“.

„Siegfrieds Tod“ die Vorform der „Götterdämmerung“ entstand, was Konzept und Textbuch betrifft, als erstes Werk und vor allem als separates Stück. Eine große Heldenoper sollte es sein. Der Gedanke an eine Tetralogie lag noch in weiter Ferne. Robert Schumann, mit dem Wagner während seiner Jahre in Dresden Umgang pflegte, notierte in seinem Tagebuch am 2. Juni 1848 im Zusammenhang mit der Erwähnung eines Spazierganges mit Wagner: „sein Nibelungentext“. Im Mai 1851, nach seiner Flucht aus Dresden wegen seiner Beteiligung am Maiaufstand 1849, kam Wagner auf die Idee Siegfrieds Tod durch die Voranstellung einer weiteren Oper „Der junge Siegfried“ zum Doppeldrama zu erweitern. Im Februar 1853 erschien „Der Ring des Nibelungen“ als Privatdruck in 50 Exemplaren, und um dem Werk mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, veranstaltete Wagner eine Lesung der gesamten Tetralogie im Hotel Baur au lac in Zürich.

Wagner hat die Figuren Gunther und Gutrune sowie ihre Verknüpfung mit der Siegfried Geschichte der „Völsungasaga“ entnommen. Diese berichtet in den Abschnitten, die für die Handlung der „Götterdämmerung“ in Betracht kommen, folgendes: „Von dem Walkürenfelsen fährt Sigurd auf neue Taten aus und kommt zu Gjuki, einem König am Rhein: Des Königs Söhne, Gunnar und Högni, schließen Blutbrüderschaft mit Sigurd und er zieht mit ihnen auf Heerfahrten. Die Königin Grimhild, ihre Mutter, will den Helden für immer an die Gjukunge fesseln, und reicht ihm den zauberhaften Vergessenheitstrank, nach dessen Genuss ihm die Erinnerung an seine Braut schwindet; er heiratet nun die herrliche Tochter Gjukis, Gudrun. Gunnar will um die Walküre Brünnhild werben, und Sigurd reitet mit ihm. Brünnhilds Burg ist von Feuer umwallt und den allein will sie haben, der durch die Flamme reitet. Gunnar spornt sein Ross, doch es stutzt vor dem Feuer. Er bittet Sigurd, ihm den Grani zu leihen, aber auch dieser will nicht vorwärts. Da tauscht Sigurd mit Gunnar die Gestalt, Grani erkennt die Sporen seines Herrn; das Schwert in der Hand sprengt Sigurd durch die Flammen. Die Erde bebt, das Feuer wallt zum Himmel, dann erlischt es. In Gunnars Gestalt steht der Held, auf sein Schwert gestützt, vor Brünnhild, die gewappnet dasitzt. Zweifelmütig schwankt sie auf ihrem Sitze wie ein Schwan auf den Wogen. Doch er mahnt sie, dass sie dem zu folgen gelobt, der das Feuer durchschreiten würde. Drei Nächte bleibt er und teilt ihr Lager, aber sein Schwert liegt zwischen beiden. Sie wechseln die Ringe und bald wird Gunnars Hochzeit mit Brünnhild gefeiert. Einst gehen Brünnhild und Gudrun zum Rhein, ihre Haare zu waschen. Brünnhild tritt höher hinauf am Strome, sich rühmend, dass ihr Mann der bessere sei. Zank erhebt sich zwischen den Frauen über den Wert der Thaten ihrer Männer. Da sagt Gudrun, dass Sigurd es war, der durch das Feuer ritt, bei Brünnhild weilte, und ihren Ring empfing. Sie zeigt das Kleinod, Brünnhild aber wird todesblaß und geht schweigend heim. Kein Schlaf befällt sie, sie sinnt auf Unheil: Sigurds Tod verlangt sie von Gunnar, oder sie will nicht länger mit ihm leben. Zuletzt wird Guthorn, der Stiefbruder, der an der Blutbrüderschaft mit Sigurd nicht teilgenommen hatte, zum Morde gereizt. Schlange und Wolfsfleisch wird ihm zu essen gegeben, dass er grimmig werde. Er geht hinein zu Sigurd, morgens, als dieser im Bette ruht; doch als Sigurd mit seinen scharfen Augen ihn anblickt, entweicht er; so zum andern Mal; das drittemal aber ist Sigurd eingeschlafen, da durchsticht ihn Guthorn mit dem Schwerte. Sigurd erwacht und wirft dem Mörder das Schwert nach, das den Fliehenden in der Thüre so trifft, dass Haupt und Hände vorwärts, die Füße aber in die Kammer zurückfallen. Gudrun, die an Sigurd’s Seite schlief, erwacht, in seinem Blute schwimmend. Einen Seufzer stößt sie aus, Sigurd sein Leben. Angstvoll schlägt sie die Hände zusammen, dass die Rosse im Stall sich regen und das Geflügel auf dem Hofe kreischt. Da lacht Brünnhild einmal von ganzem Herzen, als Gudrun’s Schreien bis zu ihrem Bette schallt. Brünnhild aber will nicht länger leben, umsonst legt Gunnar seine Hände um ihren Hals. Sie sticht sich das Schwert ins Herz und bittet noch sterbend, mit Sigurd auf hochragendem Scheiterhaufen verbrannt zu werden, dem Geliebten zur Seite und das Schwert zwischen ihnen, wie vormals.“ (Zitiert nach Wolfgang Golther)

Große Unterschiede zum „Ring“ springen hier ins Auge. Was sich in der Völsungasaga und im Nibelungenlied auf mehrere zeitlich getrennte Vorgänge verteilt, komprimiert Wagner zu einem Augenblick. Den berühmten Streit der Königinnen, der den Betrug offenbart, hat er aus zwei Gründen übergangen. Zum einen hätte Gudrun viel stärker herausgearbeitet werden müssen, und zum anderen wiederholt sich ein Meister nicht: Die Streitszene spielt sich bereits im „Lohengrin“ zwischen Ortrud und Elsa beim Gang zur Kirche ab. Im „Nibelungenlied“ wie auch im „Ring“ ist Hagen Siegfrieds Mörder und Siegfried wird draußen im Wald erschlagen. In der „Thidrekssaga“ ist Hagen ein Albensohn. Wagner macht ihn zu Alberichs Sohn. Zwischen Wotan und Alberich entstand der Streit, zwischen Siegfried und Hagen wird er ausgetragen. Siegfried, der Wälsung und Hagen, der Nibelung sind schon äußerlich verschieden wie Tag und Nacht. „Wie die Wünsche und Hoffnungen der Götter auf Siegfried beruhen, setzt Alberich seine Hoffnung der Wiedergewinnung des Ringes auf den von ihm erzeugten Hagen. Hagen soll Siegfrieds Verderben herbeiführen, um diesem in seinem Untergange den Ring abzugewinnen.“ Die Thidrekssaga“ schildert Gunnar und Hagen folgendermaßen: „König Gunnar hatte lichtes Haar, ein breites Antlitz, einen lichten und hellen Bart, war breitschultrig, hell von Farbe und hehr von ganzem Wuchse, adlig von Aussehen. Hagen, sein Bruder hatte schwarzes und langes Haar, ein langes Gesicht, eine lange und starke Nase, lange Brauen, einen dunkeln Bart und war überhaupt dunkelfarbig; er hatte ein hartes und grimmiges Antlitz.“ Siegfried und Hagen fungieren im „Ring“ als Repräsentanten konkurrierender Machtsphären. Wobei Wotan keinerlei Einfluss auf Siegfried nimmt, der ja nicht mal weiß, dass er von Wotan abstammt, während Alberich seinen Sohn direkt und eindringlich zur Tat drängt. Bereits im Prosaentwurf des „Nibelungen-Mythus“ hat Wagner die Umdeutung des Stoffes geleistet, sie ist allein sein Werk.

Gunther und Gutrune und mit ihnen der gesamte Lebens- und Herrschaftsbereich der Gibichungen werden in der „Götterdämmerung“ gänzlich unvorbereitet eingeführt. Das ist höchst bemerkenswert, denn erst mit den Gibichungen erreicht die Handlung die Welt der Menschen. Erst jetzt hat man es mit der menschlichen Gesellschaft zu tun. Der einzige Mensch bisher im „Ring“ war Hunding, der als Einzelgänger aber nicht ausreichte, um Gesellschaft zu repräsentieren. Erstmals in der Tetralogie dominieren nun die Menschen auf der Bühne.

Die Expositionsdramaturgie, die Wagner hier benutzt ist für ihn eher ungewöhnlich, da sie stark zielorientiert und schnörkellos ist. Nur die wichtigsten Fakten zum Verstehen der Handlung werden genannt: die Beziehungen der Gibichungen-Geschwister untereinander – Gunther als Erstgeborener und Hagen als sein Halbbruder – sodann Gunther und Gutrunes Ehelosigkeit – Hagen: „In sommerlich reifer Stärke / sehe ich Gibichs Stamm, / dich, Gunther unbeweibt, / dich, Gutrun‘ ohne Mann“, – schließlich Hagens Vorschlag zur Abhilfe – Siegfried durch den Zaubertrank an Gutrune zu binden, so dass er aus Dankbarkeit für Gunther Brünnhilde gewinnt, wozu dieser allein nicht imstande wäre. Nachdem Hagen nun seine Intrige in Gang gesetzt hat, denn er hat ja nur ein Ziel: den Ring von Siegfried für seinen Vater Alberich zu gewinnen, ruft Gutrune: „Möcht‘ ich Siegfried je ersehn!“ Darauf Gunther: „Wie suchten wir ihn auf?“ Das prompte Erscheinen Siegfrieds nach dem Motto: kaum wird der Esel genannt, kommt er auch schon angerannt, verweist auf die Bezüge des „Rings“ zum Populartheater. Wie in der dritten Aventiure des Nibelungenlieds poltert Siegfried, nachdem er angelegt hat und Gunter zu Hagen an das Ufer getreten ist, gleich los: „Wer ist Gibichs Sohn?“ Gunther: „Gunther, ich, den du suchst.“ Siegfried: „Dich hört‘ ich rühmen / weit am Rhein: / nun ficht mit mir, / oder sei mein Freund!“ Gunther: „Lass den Kampf: / sei willkommen!“ Nachdem Siegfried mit Gunter in die Halle geschritten ist, kommt Hagen, der Siegfrieds Roß weg geführt hat, und sich nun zu den beiden gesellt, ziemlich schnell auf den Grund seiner Intrige zu sprechen. Hagen: “ Doch des Nibelungen-Hortes / nennt die Märe dich Herrn?“ Siegfried: “ Des Schatzes vergaß ich fast: / so schätz ich sein müß’ges Gut! / In einer Höhle ließ ich’s liegen, / wo ein Wurm es einst bewacht.“ Hagen: „Und nichts entnahmst du ihm?“ Siegfried auf das stählerne Netzgewirk deutend, das er im Gürtel hängen hat: „Dies Gewirk, unkund seiner Kraft.“ Hagen: „Den Tarnhelm kenn‘ ich, / der Nibelungen künstliches Werk: / er taugt, bedeckt er dein Haupt, / dir zu tauschen jede Gestalt; / verlangt dich’s an fernsten Ort, / er entführt flugs dich dahin. / Sonst nichts entnahmst du dem Hort?“ Siegfried: „Einen Ring.“ Hagen: „Den hütest du wohl?“ Siegfried: „Den hütet ein hehres Weib.“ Hagen, für sich, so die Regieanweisung: „Brünnhilde!“ (Götterdämmerung Erster Aufzug)

Was die Charaktere von Gunther und Gutrune angeht, so haben sie bis zum komponierten Text der „Götterdämmerung“ keine Änderung mehr erfahren. Wagner schreibt: „Gunther ist von Hagen darüber belehrt, dass Brünnhilde das begehrenswerteste Weib sei, und zu dem Verlangen nach ihrem Besitze von ihm angereizt, als Siegfried zu den Gibichungen an den Rhein kommt. Gudrun, durch das Lob, welches Hagen Siegfried spendet, in Liebe zu diesem entbrannt, reicht auf Hagen’s Rath Siegfried zum Willkommen einen Trank, durch Hagen’s Kunst bereitet und von der Wirksamkeit, dass er Siegfried seiner Erlebnisse mit Brünnhilde und seiner Vermählung mit ihr vergessen macht. Siegfried begehrt Gudrun zum Weibe: Gunther sagt die ihm zu, unter der Bedingung, dass er ihm zu Brünnhilde verhelfe. Siegfried geht darauf ein: sie schließen Blutsbrüderschaft und schwören sich Eide, von denen Hagen sich ausschließt.“ Hagen: „Mein Blut verdürb‘ euch den Trank; / nicht fließt mir’s echt und edel wie euch: / störrisch und kalt / stockt’s in mir, / nicht will’s die Wangen mir röthen: / drum bleib ich fern vom feurigen Bund.“

Weder Gunther noch Gutrune wissen um Hagens Pläne. Der, nach dem Aufbruch von Siegfried und Gunther zum Walkürenfelsen um Brünnhilde zu gewinnen, allein zurückgebliebene Hagen enthüllt nun in einem Monolog seine geschickt eingefädelte Intrige: „Hier sitz ich zur Wacht, / wahre den Hof, / wehre die Halle dem Feind: -/ Gibichs Sohne / wehet der Wind; / auf Werben fährt er dahin./ Ihm führt das Steuer / ein starker Held, / Gefahr ihm will er bestehn: / die eigene Braut / ihm bringt er zum Rhein: / mir aber bringt er – den Ring. – / Ihr freien Söhne, / frohen Gesellen, / segelt nur lustig dahin! / Dünkt er euch niedrig, / ihr dient ihm doch – / des Niblungen‘ Sohn.“ (Götterdämmerung Erster Aufzug)

Auch im Nibelungenlied hält Hagen Wacht. In der 30. Aventiure bewacht er mit Volker zusammen den Saal der Burgunden im Lager der Hunnen. Die Szene hat Wagner in einen völlig neuen Zusammenhang gerückt. Da der „Ring“ stellenweise durchaus eine gewisse Affinität zum populären Theater aufweist, fällt es nicht schwer, auch den Zaubertrank als magisches Motiv zu akzeptieren. Er hat jedoch auch eine verdeutlichende Funktion. Er soll, wie der Liebestrank in „Tristan und Isolde“ theatralisch-symbolisch sichtbar machen, was unausgesprochen der Fall ist. Siegfried, der reflexionslose Held, der nur seinen Impulsen folgt, ist eingeschlossen im Augenblick, im jeweiligen Jetzt und Hier. Durch den Zaubertrank verblasst ihm die Vergangenheit und als Gedächtnisloser fällt er der Hagen-Intrige zum Opfer. Den Gedächtnisverlust, den Siegfried durch den Zaubertrank erfährt, ist Ausdruck des Verhängnisses das nach Alberichs Fluch vom Ring für seine Besitzer ausgeht. Ein Verhängnis, dessen Darstellung durch magische Requisiten zu den legitimen Vermittlungsformen des Theaters gehört.

Um die Charaktere von Gunther und Gutrune verstehen zu können, muss man sich vergegenwärtigen auf welche Weise sie in Hagens Intrige eingebunden sind. Beide wissen nichts von Hagens Plan, den Ring in seinen Besitz zu bekommen und sie haben auch keine Kenntnis davon, dass Siegfried und Brünnhilde bereits ein Paar waren, bevor Siegfried an den Hof der Gibichungen kommt. Siegfried also für Gunther, wenn auch unwillentlich, die eigene Frau erobert und Gutrune seine Verbindung mit Brünnhilde verschweigt. Wäre ihnen dieser Umstand, der sie zu Betrügern werden lässt und ihnen die Ehre nimmt, bekannt gewesen, hätten sie sich sicher nicht auf Hagens Intrige eingelassen. Gunther kommt der Augenblick der Erkenntnis erst kurz vor Siegfrieds Ermordung als dieser bereits das Gegenmittel von Hagen getrunken hat und nun seine Liebesbeziehung zu Brünnhilde bekennt. Gunther – so die Regieanweisung – hört mit wachsendem Erstaunen zu und ruft: „Was hör ich!“

Im zweiten Aufzug, der die Peripetie des Dramas bildet, bleibt Gutrune passive Zuschauerin während sich der Konflikt zwischen Brünnhilde und Siegfried sowie Hagen und Gunther abspielt. Es kommt zwischen den beiden Frauen als sie sich bei der Begrüßung von Brünnhilde gegenüberstehen zu keinerlei Auseinandersetzung. Diese hat Wagner ausgespart. Da im „Ring“ anders als im „Nibelungenlied“ Brünnhilde die weibliche Hauptperson ist, kann er neben ihr keine zweite Heroine gebrauchen. Daher trägt Gunthers Schwester auch nicht den durch das „Nibelungenlied“ geprägten Namen Kriemhild sondern den neutraleren Gutrune. Diese Namensänderung ist Programm: Gutrune ist keine Persönlichkeit mit ausgeprägt-eigenem Charakter, sie erfüllt lediglich eine Funktion im Machtkalkül Hagens. Brünnhildes Augenmerk bleibt daher einzig und allein auf Siegfried gerichtet und Gutrune sieht in Brünnhilde nur die Gemahlin Gunthers und keine Rivalin. Am Ende des zweiten Aufzuges nachdem Siegfrieds Tod beschlossen wurde, kommt es erneut zu einer Begegnung der beiden Frauen. In „Siegfried’s Tod“, dem Prosaentwurf zur „Götterdämmerung“, spricht Gutrune Brünnhilde mit den Worten an: „Komm, schöne Schwester / kehre in Güte bei uns ein! / Littest durch Siegfried je du ein Leid, / ich laß es ihn büßen, / sühnt er’s in Liebe nicht hold!“ Brünnhildes „mit ruhiger Kälte“ gegebene Antwort „Er sühnt es bald!“ enthüllt die Doppelbödigkeit der Situation. In der „Götterdämmerung“ bleibt die Begegnung beim Brautzug zwischen Gutrune und Brünnhilde stumm. Gutrune winkt Brünnhilde freundlich zu, worauf diese heftig zurücktreten will, da tritt Hagen rasch dazwischen und drängt sie an Gunther, der ihre Hand von neuem erfasst, so die Regieanweisung. Der tödliche Konflikt, der in der Schwurszene erwächst, besteht darin, dass die beteiligten Personen zwar Gleiches sagen, aber Unterschiedliches meinen. Brünnhilde denkt, wenn sie Siegfried als ihren Gatten bezeichnet an ihre frühere Begegnung, die Siegfried aber aufgrund des Zaubertrankes vergessen hat. Er kann sich nur an die Begegnung erinnern als er in der Maske Gunthers Brünnhilde besiegt hat, sie dabei aber unberührt ließ. „Nothung, mein wertes Schwert, / wahrte der Treue Eid“. Gunther und Gutrune wissen überhaupt nichts von diesem ersten entscheidenden Zusammentreffen von Brünnhilde und Siegfried, worauf bei ihnen der Verdacht entsteht, dass Siegfried sie betrogen hat. Nur Hagen kennt alle Zusammenhänge und er versteht es, den Konflikt zu schüren und in seinem Sinn zu lenken. Gutrune zeigt nur kurz ihr Misstrauen: „Treulos, Siegfried, / sannest du Trug?/ Bezeuge, dass falsch / jene dich zeiht!“ Gunther hingegen sieht sich sofort als der betrogene Ehemann und ruft empört: „O Schmach! / O Schande! Wehe mir, / dem jammervollsten Manne!“ Hagen muss allerdings noch etwas Öl ins Feuer gießen, um Gunther zum Handeln zu bewegen. Auch Brünnhildes Worte, die Gunther der Feigheit bezichtigen, tragen ihren Teil dazu bei. „So soll es sein! / Siegfried falle: / sühn er die Schmach, / die er mir schuf!“ (Götterdämmerung Zweiter Aufzug)

Entscheidend für Gunthers Zustimmung zur Tötung Siegfrieds ist aber nicht der vermeintliche Betrug desselben sondern die Verlockung, die vom Ring ausgeht: Macht und Besitz. Hagen (zu Gunther): „Er (Siegfried) falle – dir zum Heile! / Ungeheure Macht wird dir, / gewinnst von ihm du den Ring, / den der Tod ihm nur entreißt.“ Leise fragt Gunther: „Brünnhildes Ring?“ und Hagen korrigiert: „Des Nibelungen Reif!“ Hagen weckt bei Gunther mit diesen Worten die Begehrlichkeit nach Macht und Reichtum und damit gerät auch er in den Kreislauf des Verhängnisses, der vom Ring ausgeht. Deshalb muss auch Gunther am Ende sterben als er nach Siegfrieds Tod den Ring als Gutrunes Erbe einfordert, woraufhin ihn Hagen nach kurzem Gefecht erschlägt.

Dass Gunther und Gutrune keine handlungsbestimmenden Figuren sind, zeigt sich auch musikalisch. Ihre Leitmotive sind eher nichtssagend. Am ehesten zeigt das Gutrune-Motiv noch eine individuelle Fraktur während das Gibichungen-Motiv, so wird das Gunther-Motiv manchmal auch genannt, eine unspezifische Folge aufsteigender Akkorde aufweist. Eine Ausnahme bildet Gutrunes Monolog. In den Tagebüchern Cosimas finden sich dazu zwei Bemerkungen: “ ….nach Siegfried’s Tod, während des Szenewechsels, es wird das Siegmund-Thema erklingen,— dann das Schwertmotiv, endlich sein eigenes Thema, da geht der Vorhang auf, Gutrune tritt auf, sie glaubt sein Horn vernommen zu haben…“: und: „vor einigen Tagen sagte er mir, daß das Schönste vielleicht in diesem Akt das Orchestervorspiel sein werde nach Siegfried’s Tod: wenn sein Thema ganz erklungen hätte, käme Gutrune heraus, meinend sie habe sein Horn gehört.“ Wagner sieht in Gutrunes Monolog eine eigenständige Szene, die ihre Bedeutung aus ihrer Stellung im musikdramatischen Kontext bezieht: Für einen Augenblick wird die Aufmerksamkeit auf das Gegenbild des Kriegshelden gelenkt– die verlassene Frau. Gutrune wird wie Kriemhild im „Nibelungenlied“ vor Siegfrieds Tod von schlimmen Träumen geplagt. „War das sein Horn? / Nein! – Noch / kehrt er nicht heim. – Schlimme Träume / stören mir den Schlaf!“

Gutrune erkennt den doppelten Betrug erst nach Siegfrieds Tod. In einer Begegnung mit Gutrune vor Siegfrieds Leichnam klagt Gunther Hagen an: „Nicht klage wider mich! / Dort klage wider Hagen: / er ist der verfluchte Eber, / der diesen Edlen zerfleischt‘.“ Jetzt erst erkennt auch Gutrune „in heftigster Verzweiflung“ den Betrug: „Verfluchter Hagen! / Weh, ach weh! / Daß du das Gift mir rietest, / das ihr (Brünnhilde) den Gatten entrückt! / O Jammer! Jammer! / Wie jäh nun weiß ich, / daß Brünnhild‘ die Traute war, / die durch den Trank er vergaß!“ (Götterdämmerung Dritter Aufzug)

Gutrunes letzten Worten folgt im Dramenentwurf wie im Operntext noch eine letzte Regieanweisung: „Sie hat sich voll Scheu von Siegfried abgewendet und beugt sich in Schmerz aufgelöst über Gunthers Leiche: so verbleibt sie regungslos bis an das Ende“. Gutrune bleibt also am Leben.

Gutrune ist mir gelungen, sie ist kindlich heidnisch“, wobei diese Aussage später von Wagner relativiert wurde, indem er auch Brünnhildes Schlussworte das Attribut „heidnisch“ zuerkannte. Jedenfalls bekam Gutrune anders als Gunther eine Soloszene, die wenn auch mit Brünnhildes Monolog nicht zu vergleichen, individuelles Profil zeigt.

Die letzte Aktion, die Rückgewinnung des Rings, ist den Rheintöchtern vorbehalten. Die „Götterdämmerung“ ist nicht nur Fortsetzung und Schluss der Tetralogie sondern auch Rückkehr zum Anfang. „Walküre“ und „Siegfried“ spielen fern vom Rhein, in der „Götterdämmerung“ wie im „Rheingold“ ist er von zentraler Bedeutung. Das Reich der Gibichungen liegt am Rhein, Siegfried gelangt auf dem Rhein zu ihnen, an seinem Ufer wird er erschlagen. So schließt sich der Kreis. Und da auch Alberich am Leben bleibt, könnte die Geschichte nun von vorn beginnen.

Gutrune lebt, aber sie ist verstummt und Teil der Menschenmenge, die sich den Brand Walhalls und damit den Untergang der Götterwelt anschauen. „Aus den Trümmern der zusammengestürzten Halle sehen die Männer und Frauen in höchster Ergriffenheit, dem wachsenden Feuerschein am Himmel zu.“ Wagner vollendete die „Götterdämmerung“ am 21. November 1874. Im Prosaentwurf von 1848 heißt es „Die Absicht der Götter würde erreicht sein, wenn sie in dieser Menschenschöpfung, sich selbst vernichteten, nämlich in der Freiheit des menschlichen Bewusstseins ihres unmittelbaren Einflusses sich begeben müssten.“ Aus einer Welt trüber Verträge geht ein Reich der Freiheit hervor. In der Textfassung von 1852 standen in Brünnhildes Schlussworte folgende Strophen:

„…..Nicht Gut, nicht Gold,
noch göttliche Pracht:
nicht Haus, nicht Hof,
noch herrischer Prunk:
nicht trüber Verträge
trügender Bund.
nicht heuchelnder Sitte
hartes Gesetz:
selig in Lust und Leid
läßt – die Liebe nur sein.“

Obwohl Wagner diese Strophen später gestrichen hat, ist das Instrumentalthema, mit dem die „Götterdämmerung“ schließt, nicht musikalische Metapher von Entsagung und Verneinung des Willens sondern Ausdruck der seligen Liebe, die der Schluss von 1852 rühmt. Nichts anderes besagt die Musik, die Wagner komponierte.

Literatur

Udo Bermbach (Hrsg.) „Alles ist nach seiner Art“, Metzler, Stuttgart 2001

Udo Bermbach, Dieter Borchmeyer (Hrsg) „Der Ring des Nibelungen. Ansichten des Mythos“, Metzler, Stuttgart 1995

Carl Dahlhaus „Richard Wagners Musikdramen“, Reclam Stuttgart 1996

Martin Geck „Wagner“, Siedler Verlag, München 2012

Wolfgang Golther „Die sagengeschichtlichen Grundlagen der Ringdichtung Richard Wagners“, Ulan Press 2012

Martin Gregor-Dellin „Richard Wagner“, Piper, München 1980

Barry Millington „Der Magier von Bayreuth“ Primus Verlag, Darmstadt 2012

Richard Wagner „Götterdämmerung“, Reclam, Stuttgart 1997

Peter Wapnewski „Der Ring des Nibelungen. Richard Wagners Weltendrama“, Piper, München 1998