grundlagen
liedzeit
Siegmund
und Sieglinde


Geschwisterpaar,
Liebespaar, Elternpaar



von Doris Schweitzer

Siegmund und Sieglinde.....
Color Illustrations for Wagner's Ring, A. Rackham, 1912 ..

Dem Mythos der Geschwisterliebe ist der Charakter des Außergewöhnlichen eigen, der sich unter anderem darin zeigt, dass diesem Mythos in seiner Geschichte immer wieder Götterattribute zugeschrieben wurden. Geschwisterliebe wurde in ihrer Geschichte mitunter verklärt und verherrlicht, aber auch verdammt und verteufelt. Beide Variationen des Mythos finden sich in der Literatur. Manche Schöpfungsmythen und Religionen beschreiben Bruder und Schwester als ursprüngliches Götterpaar und als Schöpfer der Menschen. Mehrere Völker kennen Sonne und Mond als Liebende, Gattin und Gatte, Schwester und Bruder. Ihre Nachkommen, die Sterne am Nachthimmel, zeugen von dieser Verbindung. Geschwister-Götterpaare ohne Schöpfungsfunktion sind in vielen Götterhimmeln anzutreffen. In Indien etwa kennt man Yama und Yami, in Japan Izanagi und Izanami und in der griechischen Mythologie Zeus und Hera. Das wohl bekannteste Geschwister – Götterpaar herrschte in der ägyptischen Götterwelt: Isis und Osiris. Ihre Liebe war so stark, dass sie die Kraft hatte, Leben und Tod zu überwinden. Nach der ägyptischen Sage tötete Seth seinen Bruder Osiris und zerstückelte ihn in vierzehn Teile und verstreute diese über das ganze Land. Isis sammelte die Teile auf und fügte sie wieder zusammen. Sie schwebte in Gestalt eines Vogels über dem noch nicht auferstandenen Osiris, paarte sich mit ihm und empfing so ihren Sohn Horus. Osiris konnte zum Leben erweckt werden, zwar nur als Geistperson, aber als solcher herrschte er im Totenreich als Fruchtbarkeitsgott. Auch unter königlichen Herrschern findet man Geschwisterverbindungen, so im alten Ägypten und in Altperu zur Zeit der Herrschaft der Inkas. Um allen Erbfolgestreitigkeiten vorzubeugen und die göttliche Abstammung der Dynastie rein zu erhalten, hatte Mank Kapek (ein König der Inka) angeordnet, dass der Thronfolger stets seine älteste leibliche Schwester heiraten sollte. Auch in späterer Zeit finden sich gelegentlich noch königliche Geschwisterehen. Diese Geschwister und ihre Nachkommen hatten aber keinen Anspruch mehr auf Göttlichkeit. In Hartmann von Aues "Gregorius" wird Inzest zwar ein Verbrechen genannt, aber mit Gedanken von Göttlichkeit in Verbindung gebracht. Dem weltlichen Volk war Inzest streng untersagt und wurde mit der Todesstrafe sanktioniert. Gregorius nun, Kind eines Geschwisterpaares, heiratet unwissentlich seine Mutter. Für die zweimalige Blutschande leistet er eine freiwillige Buße und wird von Gott selbst zu seinem Stellvertreter auf Erden ernannt: Gregorius wird Papst – aber nicht gottgleich.

In der nordischen Mythologie spielen die Erzählungen um die Entstehung der Welt, der Götter und der Menschen, die Konflikte innerhalb der Götterwelt und die Kämpfe der Götter gegen ihre Widersacher eine große Rolle. Diese Überlieferungen wurden im 13. und 14. Jahrhundert in Island verschriftlicht. Eine dieser Vorzeit-Sagas ist die "Völsunga saga", die ihren Ursprung in der Völkerwanderungszeit im 4. bis zum 6. Jahrhundert hat und die Auseinandersetzungen zwischen Burgunden, Hunnen und Goten reflektiert.
Die Völsunga saga beginnt mit der Erzählung von einem König namens Völsung, der in dritter Generation vom Gott Odin abstammte, und seinen Kindern, insbesondere von seinem Sohn Sigmund und dessen Zwillingsschwester Signy. Völsung baute für seine Familie ein großes Haus, in dessen Mitte sich ein großer Baum befand. Während der Hochzeit von Signy mit Siggeir, dem König von Gautland, betrat ein alter, einäugiger Mann die Halle, zog ein Schwert und rammte es in den Baum. Er forderte alle Männer auf es herauszuziehen, doch nur Sigmund gelang es. Siggeir war sehr erbost darüber, dass sein Schwager sich weigerte, ihm das Schwert zu übergeben, auch nicht für viel Geld, und beschloss sich für die Zurückweisung zu rächen. Vor der Abfahrt in seine Heimat lud er seine neuen Verwandten zu einem Besuch in drei Monaten ein. Als die Verwandten abends an der Küste von Gautland eintrafen, lief Signy zu ihnen, um sie vor ihrem Mann zu warnen. Der hatte bereits ein großes Heer zusammen gerufen, um den Vater und die Brüder seiner Frau zu töten. König Völsung und seine zehn Söhne weigerten sich jedoch umzukehren. Am kommenden Tag erwartete sie bereits das Heer und es kam zu einer Schlacht in der Völsung und sein Gefolge getötet wurden. Seine Söhne wurden gefangen genommen. Siggeir wollte sie gleich töten, aber Signy bat ihn, ihre Brüder in den Wald zu bringen und dort festzubinden. So geschah es. In der ersten Nacht erschien eine riesige Wölfin und biss den ersten der Brüder tot und fraß ihn auf. Signy schickte einen Vertrauten in den Wald, um ihr zu berichten. Die weiteren Nächte wiederholte sich dieses Schauspiel bis nur noch Sigmund am Leben war. Da befahl Signy ihrem Vertrauten Sigmund das Gesicht und die Zunge dick mit Honig zu bestreichen. Nachts kam wieder die Wölfin. Als sie den Honig roch, leckte sie Sigmund das Gesicht ab und steckte ihm ihre Zunge in den Mund. Sigmund biss ihr mit aller Kraft hinein und ließ nicht los. Bei dem Versuch sich zu befreien, zerriss die Wölfin die Fessel, aber Sigmund ließ nicht los und riss ihr die Zunge aus dem Maul, worauf sie verendete. Er war nun frei. Signy erschien am nächsten Tag im Wald und half ihm ein Erdhaus zu bauen, wo er auf die Gelegenheit ihren Vater und die Brüder rächen zu können, warten sollte. Siggeir hielt inzwischen alle Brüder Signys für tot. Einige Jahre vergingen, da schickte Signy ihren ältesten Sohn zu Sigmund. Dieser sollte ihm bei der Rache helfen, doch er bestand die Mutprobe, die ihm Sigmund stellte, nicht, und Signy befahl Sigmund ihn zu töten. So erging es auch ihrem zweiten Sohn. Nun kannte Signy ein altes Zauberweib, das sie bat, mit ihr die Gestalt zu tauschen. Während sich Signy in anderer Gestalt zu Sigmund begab, blieb das Zauberweib bei Siggeir, der von dem Tausch nichts merkte. Auch Sigmund war ahnungslos, lud die unbekannte Frau in sein Erdhaus ein und teilte mit ihr das Lager. Signy blieb drei Tage bei Sigmund und empfing Sinfjötli. Als er zehn Jahre alt war, wurde er von seiner Mutter, wie seine beiden Halbbrüder vor ihm, zu Sigmund geschickt. Im Gegensatz zu diesen, bestand er die Probe. Beide streiften fortan im Wolfsgewand durch die Wälder, raubten und töteten. Bei einem ihrer Streifzüge wurden sie gefangen genommen und vor König Siggeir geschleppt, der sie in einen Grabhügel werfen ließ. Dank Signys Hilfe konnten sie sich befreien und schlichen sich nachts zu der Halle, in der der König und sein Gefolge schliefen. Sie trugen Holz hinein und steckten es an. Sigmund rief Signy nach draußen. Sie antwortete: "Nun sollst du werden gewahr, ob ich dem König Siggeir den Mord König Völsungs nachgetragen habe. Ich ließ unsere Kinder töten, weil die mir zu träge zur Vaterrache schienen. Ich kam zu dir in den Wald, in der Gestalt einer Völva, und Sinfjötli ist unser Sohn. Davon hat er so hohen Heldenmut, dass er beides, Sohnes-Sohn und Tochter-Sohn König Völsungen ist. Ich habe alles dazu getan, dass König Siggeir den Tod empfangen sollte. Aber was ich getan habe, um der Rache willen, ist derart, das ich auf keine Weise länger leben darf, und freiwillig werde ich mit ihm sterben, obwohl ich ihn wider Willen zum Manne hatte." Sie küsste Sigmund, ihren Bruder, und Sinfjötli, ging wieder hinein ins Feuer und alle in der Halle starben.

Signy büßte mit dem Tod für ihren doppelten Tabubruch: Sie hat um der Rache willen, ihre Söhne geopfert und mit ihrem Bruder geschlafen. Der Inzest erfolgte nicht aufgrund einer großen erotischen Anziehungskraft zwischen den Geschwistern, sondern allein aus Signys Racheplänen. Zudem spielt hier die göttliche Abstammung eine Rolle, denn nur die reinen genetischen Erbanlagen schaffen einen körperlich wie moralisch geeigneten Helden für die Ausübung der Vaterrache. Signys Söhne mit Siggeir waren dazu nicht in der Lage.
Sigmunds Ende:
Sigmund und Sinfjötli kehrten heim ins Land König Völsungs. Dort heiratete Sigmund Borghild, mit der er zwei Söhne bekam. Aus Rache vergiftete Borghild Sinfjötli, der ihren Bruder erschlagen hatte, und starb bald darauf. Sigmund heiratete Hjördis. Als er an der Seite seines Schwiegervaters König Eylimi in einer Schlacht kämpfte, erschien ein Mann auf dem Schlachtfeld" mit langherabhängendem Hut und blauem Mantel, er hatte nur ein Auge und trug einen Speer in der Hand. Dieser Mann trat König Sigmund entgegen und hob den Speer gegen ihn empor und als König Sigmund kräftig zuhieb, traf das Schwert auf den Speer und zerbrach in zwei Stücke. König Sigmunds Glück war gewichen." In der Nacht schlich sich Hjördis aufs Schlachtfeld und traf Sigmund noch lebend an. Der König sagte: Odin will nicht, dass ich fürder das Schwert schwinge, da es zerbrach; ich habe Schlachten geschlagen, so lange es ihm gefiel." Sie sprach: "Nichts dünkte mir zu fehlen, wenn du geheilt würdest und meinen Vater rächtest." Er antwortete: "Einem anderen ist das bestimmt. Du gehst mit einem Kinde, pflege dessen wohl und sorgfältig, dieser Knabe wird der berühmteste und vortrefflichste von unserem Geschlechte werden. Verwahre ihm die Schwertstücke wohl, daraus kann ein gutes Schwert geschmiedet werden, das Gram heißen soll. Unser Sohn soll es tragen und damit manche Heldentat vollbringen, die nimmer wird vergessen werden, und sein Name wird im Gedächtnis fortleben, solange die Welt besteht."
(zitiert nach der Übersetzung von Felix Niedner von 1923)

Auch der genealogische Aspekt der Völsunga saga verdient Beachtung: Völsung repräsentiert die dritte Generation nach Odin, Sigmund die vierte und Sinfjötli, der Inzestsohn, die fünfte. Er scheidet allerdings aus der weiteren Geschichte aus. Sigmunds Sohn mit Hjördis ist noch eine halbe Generation weiter von Odin entfernt. Odin schlägt seinen eigenen Ur-Ur-Ur-Enkel Sigmund auf dem Schlachtfeld und Sigurd tritt seine Herrschaft als unbesiegbarer Held an. Auch in diesem Fall regelt Odin ausschließlich die Geschlechter- bzw. Generationenfolge der Völsungen. Anschließend greift Odin nicht mehr in die weiteren Geschicke dieser Generation ein.

Obwohl die Völsunga saga und das Nibelungenlied einen Teil des Personals gemeinsam haben, unterscheiden sich beide Epen doch in großen Teilen.
Während in der Völsunga saga Siegfried göttlicher Abstammung ist, ist im Nibelungenlied davon keine Rede. Siegmund und Sieglinde sind das Königspaar der Niederlande und Siegfried ist ihr einziges Kind. Von einem Verwandtschaftsverhältnis zwischen Siegmund und Sieglinde ist nichts bekannt auch nicht von einer göttlichen Abstammung. Siegfried erhält eine ritterliche Erziehung wie es im Hochmittelalter in Adelshäusern üblich war. Zu seiner Schwertleite gaben seine Eltern ein großes Fest, zu dem sie jeden jungen Edelmann, den man ausfindig machte und der nach dem Stand seiner Familie Ritter werden sollte, einluden, damit sie mit dem jungen König gemeinsam das Schwert empfangen. Das Fest dauerte sieben Tage lang. Der König ließ den jungen Siegfried Länder und Burgen als Lehen verteilen, wie er es früher getan hatte. Die mächtige Königin Sieglinde teilte nach altem Brauch aus Liebe zu ihrem Sohn rotes Gold aus. Kein einziger Fahrender blieb unbeschenkt. (2. Aventiure) Der Dichter des Nibelungenliedes geht hier ausführlich auf die höfische Gesellschaft und die höfischen Bräuche ein und verortet damit die mythische Figur Siegfried als Teil der höfischen Welt.
Als Siegfried beschloss, um Kriemhild zu freien, da versuchten seine Eltern ihm diesen Plan auszureden. Da er sich aber nicht davon abbringen ließ, statteten sie ihn kostbar aus.
Nach der Hochzeit in Worms brachen Siegfried und Kriemhild auf nach Xanten. Siegmund und Sieglinde erwarteten sie bereits. "Lachend küssten Sieglinde und Siegmund viele Male Kriemhild und auch Siegfried liebevoll, denn ihnen war eine große Sorge genommen. Auch die gesamte Gefolgschaft war ihnen willkommen". (11. Aventiure, 709) Siegmund übergab seinem Sohn die Krone und Kriemhild gebar im zehnten Jahr ihrer Regentschaft einen Thronfolger. Bald darauf starb Königin Sieglinde. Auch Brünhild hatte inzwischen einen Sohn geboren. Brünhild, die immer noch der Meinung war, dass Siegfried Gunthers Vasall sei, bat ihren Mann, Siegfried und Kriemhild doch zu einem Fest einzuladen. Gunther ließ sich dazu überreden und Boten wurden zu Siegfried gesandt, die bis nach Norwegen mussten, um die Einladung zu überbringen. Obwohl die Reise nach Worms sehr weit sein würde, nahmen Siegfried und Kriemhild die Einladung an. Herr Siegmund von Niederland sagte: "Wenn Ihr zu diesem Fest reisen wollt, warum sagt ihr mir nichts davon? Falls Ihr nichts dagegen habt, so reite ich mit Euch. Ich führe hundert Ritter an, mit denen ich Eure Truppe vergrößere". (12. Aventuire, 761) Den kleinen Gunther ließen sie zu Hause. "Von ihrer Hofreise entstanden ihm große Schmerzen, denn Vater und Mutter sah das kleine Kind nie mehr wieder." (13. Aventiure, 780)

Nach Siegfrieds Ermordung hielt es Siegmund nicht mehr in Worms. Er ging zu seiner Schwiegertochter und sagte: "Wir werden in unser Land reisen, denn wir glauben, unwillkommene Gäste am Rhein zu sein. Kriemhild meine liebe Herrin, nun reist mit mir nach Hause. Auch sollt Ihr Herrin, über alle Macht verfügen, die Euch Siegfried, der kühne Ritter, zu seinen Lebzeiten übertragen hat. Das Land und auch die Krone sollen Euch untertan sein. Alle Lehnsleute Siegfrieds werden Euch gern dienen." Doch die Verwandten Kriemhilds wollten sie nicht gehen lassen. Giselher bat: "Meine liebe Schwester, bleib aus treuer Liebe hier bei deiner Mutter." Kriemhild ließ sich überreden und als Siegmund kam, um sie zu holen, sagte sie: "Meine Verwandten raten mir, bei allen Getreuen, die ich habe, hierzubleiben. Ich habe keine Verwandten im Nibelungenland." Für König Siegmund war das ein bitterer Schmerz, als er Kriemhilds Entschluss hörte. Er entgegnete: "Das lasst Euch von niemanden einreden, Ihr sollt vor allen meinen Verwandten die Krone ebenso machtbewußt tragen, wie Ihr es vorher getan habt, und nicht dafür büßen, dass wir den Helden verloren haben. Und reitet mit uns auch wegen Eures kleinen Kindes zurück. Das sollt Ihr, Herrin, nicht zur Waise werden lassen. Wenn euer Sohn heranwächst, wird er Euch ein Trost sein. Inzwischen werden Euch viele mutige und gute Helden dienen." Doch Kriemhild hatte ihren Entschluss bereits gefasst. "Als sie verstanden hatten, dass sie nicht mitreisen wollte, weinten alle Gefolgsleute Siegmunds. Wie gramgebeugt verabschiedete sich Siegmund von Frau Kriemhild! Er war tief bedrückt." Siegmund küsste Kriemhild: "So reiten wir denn ohne jede Freud heim in unser Land. Die Last meiner Sorgen wird mir erst jetzt bewußt." (18. Aventiure) Nur Gernot und Giselher verabschiedeten sich von Siegmund und versicherten ihm, an Siegfrieds Tod keine Schuld zu tragen. Der junge Giselher brachte den König mit seinen Kriegern aus dem Land der Burgunden heim nach Niederland.
Im weiteren Verlauf des Nibelungenliedes werden Siegmund und sein Enkel Gunther nicht mehr erwähnt.

Im Nibelungenlied spielt das Inzest-Motiv keine Rolle, dafür umso mehr in Richard Wagners dramatischem Werk. Da das Nibelungenlied stark seine Entstehungszeit im Hochmittelalter widerspiegelt, wandte Wagner sich den Helden- und Göttermythen in den skandinavischen Dichtungen zu, die er bereits als Gymnasiast in der Bibliothek seines Onkels mit Begeisterung verschlungen hatte. Besonders die Völsunga saga hatte es ihm angetan. Dem Komponisten Niels W. Gade teilte er 1846 mit "Ich muss nach ihren altnordischen Edda-Dichtungen greifen, die sind viel tiefsinniger als unser mittelalterlichen."

Wagners Privatleben war in Bezug auf Frauen kompliziert. Ihm ging es nicht nur um die Eroberung einer Frau, sondern mehr noch um den Sieg über einen Nebenbuhler. Grund dafür war vermutlich eine starke Mutterbindung und ein Rivalitätsverhalten gegenüber dem Stiefvater. Sein leiblicher Vater starb sechs Monate nach seiner Geburt, wenige Monate später heiratete seine Mutter den Schauspieler Geyer. Als solchermaßen "geschädigter Dritter" neigte Wagner notorisch dazu, anderen Männern die Frauen wegzunehmen. Mit Erfolg, wie seine lebenslange Tour d`amour bewies. Seine erste Frau Minna Planer war bereits verlobt als sie Wagner im Juli 1834 kennen lernte. Er verführte und heiratete sie. Nach ihrer Flucht aus Dresden nach den 1848er Aufständen, lernte er in Zürich Mathilde Wesendonck kennen und verliebte sich unsterblich. Ihr Mann war ein spendabler Mäzen des immer von Geldsorgen geplagten Künstlers. Diese verbotene und schuldbeladene Liebe inspirierte ihn zu "Tristan und Isolde". 1858 kam es zum Eklat und Minna zog nach Dresden. Wesendonck verzieh seiner Frau. Wagner ging daraufhin nach Venedig und komponierte dort weiter am "Tristan". Seine zweite Ehefrau Cosima, die erst mit Wagners Freund Hans von Bülow verheiratet war, war neben Mathilde eine der wenigen Frauen, die nachhaltigen Einfluss auf sein Werk nahmen. Das Motiv der Nebenbuhlerschaft zieht sich von Anfang an durch Wagners Werk. Bereits in seinem ersten dramatischen Werk "Die Hochzeit", das er im Alter von 20 Jahren schrieb, bildete es die Grundlagen. "Ein wahnsinnig Liebender ersteigt das Fenster zum Schlafgemach der Braut seines Freundes, worin diese der Ankunft des Bräutigams harrt; die Braut ringt mit dem Rasenden und stürzt ihn in den Hof hinab, wo er zerschmettert seinen Geist aufgibt. Bei der Totenfeier sinkt die Braut mit einem Schrei entseelt über die Leiche hin." In ähnlicher Weise nimmt der Holländer dem jungen Jäger Erik Senta weg, Tannhäuser schlägt Wolfram von Eschenbach aus dem Feld, Lohengrin erobert Elsa im Zweikampf von Telramund, Tristan jagt Isolde erst ihrem Bräutigam Morold ab und nimmt sie dann ihrem Gatten Marke weg, Stolzing macht Hans Sachs Pläne sich mit Eva zu vermählen zunichte und schlägt dabei noch dem Bewerber Beckmesser ein Schnippchen, Siegmund raubt seinem Feind Hunding Sieglinde, Siegfried erkämpft sich Brünnhilde von Wotan und selbst Parsifal befreit Kundry von Klingsors Zauber. Den meisten seiner Helden stirbt der Vater bei oder vor der Geburt, am deutlichsten ausgeprägt ist das Motiv des bald nach der Zeugung sterbenden Vaters bei Tristan, Siegfried und Parsifal, denen auch bald die Mutter stirbt. Wo der Vater unerwähnt bleibt, ist mit der Vaterschaft immer etwas nicht ganz in Ordnung. Friedrich Nietzsche, der gelegentlich Anspielungen auf eine Vaterschaft Geyers im "Fall Wagner" gemacht hat, fragt daher ironisch Bezug nehmend auf das Keuschheitsgelübde der Gralsritter: "Parsifal ist der Vater Lohengrins. Wie hat er das gemacht?" In seiner Schulzeit hieß Wagner noch Richard Geyer, erst später nahm er wieder den Namen Wagner an. Neben der übergroßen Zuneigung zu seiner Mutter, hatte Wagner auch ein überzärtliches Verhältnis zu seinen Schwestern. Seine früh verstorbene Schwester Rosalie, der zu liebe er "Die Hochzeit" nicht nur dichtete, sondern später auch vernichtete, hat er zärtlich geliebt. Sie diente ihm auch als Vorlage in einem anderen seiner frühen Werke: dem nach Shakespeares "Maß für Maß" gedichteten "Liebesverbot", in dem die reine Isabella durch ihre Fürbitte den geliebten sündigen Bruder rettet. Von den übrigen Schwestern hat Wagner in späteren Jahren besonders Klara geschätzt, während er zu seinen Brüdern kaum Beziehungen unterhielt. Auch zu seiner Stiefschwester Cecilie hatte er ein inniges Verhältnis. Bald nach ihrer Hochzeit bittet er Cecilie zu ihm nach Töplitz zu kommen: "wir wirtschaften zusammen…..Ach, wie wäre das schön!" (Wagners Familienbriefe vom 3. Mai 1842) Wagners Fantasie dem Schwager die Frau wegzunehmen, findet in der "Walküre", wo Siegmund seinem Schwager Hunding die geliebte Schwester entführt, ihren künstlerischen Höhepunkt. Das Motiv der unbewussten Geschwisterliebe klingt auch im "Liebesverbot" wie im "Rienzi" an. In der "Walküre" nimmt Wagner die inzestuöse Liebe Siegmunds und Sieglindes aus der mythischen Überlieferung hinüber. Die Geschwister verlieben sich zuerst ineinander ohne ihre Verwandtschaft zu kennen, halten aber auch an ihrer Liebe fest, als sie feststellen, dass sie Zwillinge sind. Siegmund und Sieglinde sind im "Ring" göttlicher Abstammung, wie auch in der Völsunga saga, ihr Vater ist Wotan. Wagner setzte Odin und Völsung in eins und schuf in der neuen Figur Wotan einen facettenreichen Charakter, der die dramatische Handlung, anders als der Odin der Völsunga saga, bestimmend und mit genauer Zielvorstellung lenkt. So zeugte er die Zwillinge absichtlich mit einer Menschenfrau, damit sie nicht mehr göttlich und dadurch frei sind. Nicht die Götter werden schließlich überleben, nicht die Herrscher, sondern die Menschen, die bisher Unterdrückten. Der aus den Revolutionsschriften heraus sich formende "Ring" belegt das in seiner ganzen Handlungsstruktur. "Der Mensch ist die Vervollkommnung Gottes. Die ewigen Götter sind die Elemente, die erst den Menschen zeugen. In dem Menschen findet die Schöpfung somit ihren Abschluß. Achilleus ist höher und vollendeter als die elementare Thetis", schreibt Wagner. Wotans Hoffnung ruht daher auf dem Wälsungengeschlecht wie er Siegmund und Sieglinde nennt: "welches ist das Geschlecht, dem Wotan schlimm sich zeigte, und das doch das liebste ihm lebt?" (Siegfried, 1. Akt) Wotan kann sich nicht von seinen göttlichen Normen befreien, so setzt er seine Hoffnung ganz auf Siegmund.

Als die Handlung der "Walküre" einsetzt, kommt Siegmund auf der Flucht vor Feinden in das Haus, das Sieglinde mit ihrem Mann Hunding bewohnt. Bereits als Kind wurde sie geraubt und später zur Ehe mit Hunding gezwungen. Die Geschwister erkennen sich nicht. Siegmund bricht zusammen und Sieglinde fragt sich was ihm fehlt; "Müde liegt er, von Weges Mühn: - schwanden die Sinne ihm? Wäre er siech? – " Sieglinde kennt nur starke Männer und das heißt zugleich: brutale und grausame Männer. Vor ihnen hat sie sich längst verschlossen. Siegmunds Schwäche weckt in ihr nie gekannte Gefühle. Doch bereits bei der Antwort auf seine Frage wo er denn sei, kehrt ihre Starre wieder zurück: "Dies Haus und das Weib sind Hundings Eigen." Als Siegfried seine Wunden erwähnt, wird sie wieder zugänglicher. Sie möchte sie sehen, doch Siegmund springt auf: "Gering sind sie, der Rede nicht wert; noch fügen des Leibes Glieder sich fest." Als Siegmund sich nochmals aufrafft und gehen will, ruft im Sieglinde energisch zu: "So bleibe hier!" "In heftigem Selbstvergessen", sagt die Regieanweisung, ruft sie ihm das nach. Was sie hier vergisst, sind die moralischen Zwänge, denen sie unterliegt. Sie ist verheiratet, wenn auch nicht freiwillig, aber Recht muss Recht bleiben und sei es nur das Recht des Stärkeren. Es ist nicht Mitleid mit dem Verletzten, das sie die Initiative ergreifen lässt, sondern die Hoffnung, die Hoffnung auf Liebe. Als Hunding erscheint, erkennt er sofort die Situation, er sieht die Ähnlichkeit zwischen den Geschwistern und spürt die Feindschaft zwischen ihm und Siegmund. Er scheucht seine Ehefrau herum und droht dem Fremden. Daraufhin widerspricht Sieglinde zum ersten Mal ihrem Mann: "Feige nur fürchten den, der waffenlos einsam fährt!" Sie lässt auch gleich ihren Worten Taten folgen und verabreicht Hunding ein Schlafmittel. Wieder ergreift sie die Initiative. Sie weist Siegmund auf das Schwert hin, das Wotan bei ihrer Hochzeit mit Hunding in den Stamm gerammt hat, in sorgsamer Vorbereitung der kommenden Ereignisse. Nur Siegmund kann es herausziehen, wobei es hier nicht um die körperliche Kraft geht, sondern um die Legitimation. "Eine Waffe laß mich dir weisen - : O wenn du sie gewännst! Den hehrsten Helden dürft ich dich heißen: dem Stärksten allein ward sie bestimmt." Sie macht ihm ein Versprechen: "fänd ich den heiligen Freund, umfing' den Helden mein Arm!" Wieder ist sie es, die den aktiven Part spielt. Sie geht weit hinaus über die Konventionen und erschrickt als die Tür aufspringt und den Blick nach draußen freigibt und das Paar "so sich plötzlich in aller Deutlichkeit wahrnehmen kann", vor dem Ausmaß ihrer Tat. Doch die Tür ist geöffnet, die Enge des Raums der Konvention gesprengt, und Siegmunds Liebeslied bestimmt noch einmal den neuen Charakter, den diese Liebe annimmt. Von "zarter Waffen Zier" ist die Rede, mit der der "Lenz" die Welt bezwingt, dieser "starken Wehr" mussten "Winter und Sturm weichen". Mit Siegmunds Liebeslied "Winterstürme wichen dem Wonnemond" das gelegentlich auch als einzige Arie im "Ring" bezeichnet wird, öffnet sich plötzlich eine neue Welt, was sich schon im Vorspiel zum Gesang ankündigt. "Eine nie gehörte Dimension von Wohlklang, weil ihm auch der Stachel des Schmerzes eingefügt ist." (Schickling, S.251). Nur einmal noch erklingt das Motiv in der Walküre, wenn vom Ungehorsam gegenüber der göttlichen Vorschrift die Rede ist. Der folgende Dialog ist angefüllt mit Bezügen zu anderen Stellen des "Rings". Sogar das Motiv des Liebestods taucht schon auf, wenn Siegmund singt: "Heiligste Minne höchste Not, sehnender Liebe sehrende Not brennt mir hell in der Brust, drängt zu Tat und Tod!" Sieglinde und Siegmund sind aber ein anderes Paar als Brünnhilde und Siegfried, sie haben ihre halb göttliche Herkunft abgelegt und sind nur noch Kinder einer menschlichen Mutter und sie sind Mann und Frau, indem sie einander Bruder und Schwester sind. " Bist du Siegmund, den ich hier sehe – Sieglinde bin ich, die dich ersehnt: die eigene Schwester gewannst du zueins mit dem Schwert!" Siegmund antwortet: "Braut und Schwester bist du dem Bruder – so blühe denn Wälsungen-Blut!" "Er zieht sie mit wütender Glut an sich; sie sinkt mit einem Schrei an seine Brust. – Der Vorhang fällt schnell", so die Regieanweisung Ende des ersten Aufzugs.
Nach ihrer Flucht aus Hundings Haus wird sich Sieglinde der Ungeheuerlichkeit bewusst. Doch die besteht nicht im inzwischen vollzogenen Inzest und Ehebruch, dessen Frucht sie bereits in sich trägt, sondern in ihrer erzwungener Ehe: "Da er sie liebend umfing, da seligste Lust sie fand, da ganz sie minnte der Mann, der ganz ihr Minne geweckt – vor der süßesten Wonne heiligster Weihe, die ganz ihr Sinne und Seele durchdrang, Grauen und Schauder o grässlichster Schande musste mit Schreck die Schmähliche fassen, die je dem Manne gehorcht, der ohne Minne sie hielt" – Laß die Vefluchte, laß sie dich fliehn" –Verworfen bin ich, der Würde bar!---Schande bring ich dem Bruder, Schmach dem freienden Freund!" (Die Walküre, 2. Aufzug) Sieglindes Scham entsteht daraus, dass sie so spät erkennt, dass Liebe die Voraussetzung für körperliche Hingabe ist und dass sie sich zum Beischlaf mit ihrem gesetzlichen Ehemann zwingen ließ. Indem sie die eigene Schmach zum Anlass nimmt, die Trennung vom Geliebten zu fordern und anschließend in einer Art Mauerschau dessen Untergang voraussieht, zeigt sie typische antike Heldinnen-Muster, die sich im "Ring" nur bei Sieglinde finden.

Wotans Plan sich aus der inzestuösen Verbindung seiner beiden außerehelichen Kinder einen freien Helden zu erschaffen, geht nicht auf. Die von seiner Frau Fricka vertretenen Kategorien der bürgerlichen Moral- und Rechtsvorstellungen dominieren über die liberal-revolutionären Ansichten Wotans. Auch sein Einwurf: "Noth thut ein Held, der ledig göttlichen Schutzes, sich löse vom Göttergesetz…", verfängt bei ihr nicht. Fricka fürchtet den Untergang des Göttergeschlechts, wenn dem ehebrecherischen Treiben des Wälsungenpaars nicht Einhalt geboten wird: "Vom Menschen verlacht, verlustig der Macht, gingen wir Götter zugrund". Es gehe nicht an, dass sie als Göttin Siegmund, Wotans illegitimen Sohn, nun auf einmal gehorchen solle. Er muss im Namen der Ehre Frickas als höchster Göttin geopfert werden. Durch den scharfen moralischen Appell Frickas gerät Wotan in seiner, wie es nun scheinen will, absichtsvollen Planung des Inzestverhältnisses in schuldhafte Verstrickung, die schließlich direkt in den Untergang führt. Hier muss Wotan das Gesetz über seine Zuneigung zu Siegmund stellen: "In eigner Fessel fing ich mich, ich Unfreister Aller, der Traurigste bin ich von allen." Siegmund, der keine Götter mehr über sich weiß und den Traum von Freiheit träumt, muss fallen. In der dramatischen Opposition von Wotan und Fricka bringt Wagner auch die zu seiner Zeit heftig geführte Debatte zum Inzest, die Legalisierung in Befolgung des Naturrechts und die Strafverschärfung aus Gründen des Familienschutzes, ein.

Wagner sah sich als Siegmund, er verstand sein Schicksal als sein eigenes: im Widerspruch zur Welt stehen, ohne Glück leben, von den Herren der Welt gegebenenfalls geopfert werden. Er hat ihm Züge verliehen, die er selbst besaß. An Theodor Uhlig schreibt er: "Mit meiner neuen Konzeption trete ich gänzlich aus allem Bezug zu unserem heutigen Theater und Publikum heraus: ich breche bestimmt und für immer mit der formellen Gegenwart. An eine Aufführung kann ich erst nach der Revolution denken. (…) Am Rheine schlage ich dann ein Theater auf, und führe dann im Laufe von vier Tagen mein ganzes Werk auf. Mit ihm gebe ich den Menschen der Revolution dann die Bedeutung dieser Revolution, nach ihrem edelsten Sinne, zu erkennen. Dieses Publikum wird mich verstehen, das jetzige kann es nicht." (…)
An Wagners Stelle wird Siegmund zum utopischen Entwurf vom freien Menschen, vom emanzipierten Mann. Diese Utopie beschreibt Wagner im jenem ersten Akt der "Walküre" – die Insel der Liebe, auf der wenigstens kurzzeitig die Ekstase der Freiheit stattfinden kann. Selbst das Liebesduett zwischen Brünnhilde und Siegfried erreicht nicht mehr den hinreißenden Überschwang jenes Finales des ersten Aktes. Der zweite Akt beginnt da wo der erste aufgehört hat. Die Musik tut so, als bestehe die alte Situation weiter und Siegmund und Sieglinde befinden sich noch immer im Liebesakt. Mit dem ersten Auftreten Brünnhildes ändert sich die Musik. Die neu erscheinende Frau, die bis zum Ende des "Rings" im Zentrum stehen wird, ist die wahre Partnerin Siegmunds. Das Zusammentreffen mit dem einzigen emanzipierten Mann macht Brünnhilde zur einzigen emanzipierten Frau im "Ring". Sie sind Wagners "ideales Paar". Dass es zu einer Verbindung der beiden nicht kommen kann, dass Siegmund sterben und Brünnhilde sich mit dem durch seine Naivität nicht wirklich freien Siegfried begnügen muss, liegt im noch utopischen Charakter des Idealbilds. Als Brünnhilde Siegmund gegenüber tritt und ihm verkündet, dass sie ihn nach Walhall bringen muss, fragt Siegmund nur nach Sieglinde: "Hehr bist du; heilig gewahr' ich das Wotanskind: doch eines sag mir, du Ew'ge! Begleitet den Bruder die bräutliche Schwester? Umfängt Siegmund Sieglinde dort? Brünnhilde: "Erdenluft muß sie noch atmen: Siegmund sieht Sieglinde dort nicht!" Siegmund: "So grüße mir Walhall, grüße mir Wotan, grüße mir Wälse und alle Helden – grüß auch die holden Wunsches-Mädchen! – zu ihnen folg' ich dir nicht." Brünnhilde ist erschüttert: "So wenig achtest du ewige Wonne? Alles wär' dir das arme Weib, das müd' und harmvoll matt auf dem Schoße dir hängt? Nichts sonst hieltest du hehr?" Siegmund liebt und er liebt mehr als sein Sohn Siegfried später je dazu in der Lage sein wird. Eher wählt er für sich und Sieglinde den Tod als eine Entscheidung des Schicksals gegen seinen Willen zu akzeptieren. Damit zeigt er die charakteristische Haltung des antiken Helden, das ihm auferlegte Schicksal eigenhändig zu vollziehen. "So jung und schön erschimmerst du mir und doch wie kalt und hart kennt dich mein Herz!" …."Kein anderer als ich soll die Reine lebend berühren: verfiel ich dem Tod, die betäubte töt' ich zuvor!" Und Brünnhilde entscheidet sich gegen den Befehl Wotans: "Halt ein, Wälsung, höre mein Wort! Sieglinde lebt – und Siegmund lebe mit ihr! Beschlossen ist's, das Schlachtlos wend' ich: dir, Siegmund, schaff ich Segen und Sieg!" Das Unerhörte wird auch in der Musik deutlich: in höchstem Tempo jagen Streicher-Skalen auf und ab, tremolieren die Bläser. Zum ersten Mal widersteht Liebe offen dem Gesetz. Sieglinde ist inzwischen wieder erwacht und sieht Siegmund und Hundig miteinander kämpfen. Sie ruft: "Haltet ein, ihr Männer! Mordet erst mich!" Da ertönt Brünnhildes Stimme: "Triff ihn, Siegmund! Traue dem Siegschwert!" Wotan muss selbst eingreifen: "Zurück vor dem Speer! In Stücken das Schwert!" Siegmunds Schwert zerspringt an dem vorgestreckten Speer. Erst Siegfried wird später mit seinem Schwerthieb Wotans Speer zerbrechen. Hunding stößt dem Unbewaffneten sein Schwert in die Brust. Sieglinde sinkt mit einem Schrei leblos zusammen. Brünnhilde zieht sie auf ihr Pferd und flieht mit ihr zu ihren Schwestern, den Walküren. Dort verlangt Sieglinde den Tod, Brünnhilde soll sie mit dem Schwert erstechen. Doch Brünnhilde weigert sich: "Lebe, o Weib, um der Liebe willen! Rette das Pfand, das du von ihm empfingst: ein Wälsung wächst dir im Schoße!" Die Todessehnsucht weicht sofort dem Lebenswunsch: "Rette mich, Kühne! Rette mein Kind! Schirmt mich, ihr Mädchen, mit mächtigem Schutz!" (Die Walküre, 3.Aufzug)
Hier ertönt zum ersten und zum einzigen Mal im "Ring" das Erlösungsmotiv, bevor es am Schluss der "Götterdämmerung" die Befreiung der Welt verkünden wird. Es ist Sieglindes Vermächtnis. Sie hat das Prinzip Liebe in Gang gesetzt. Dass ihr Sohn Siegfried diese Hoffnung nicht erfüllen kann, daran trägt Sieglinde keine Schuld. Um den Sieg der Liebe über die alten Mächte durchzusetzen, dazu bedarf es Brünnhildes Liebestod. Aber Sieglinde hat gezeigt, dass es den Menschen möglich ist, sich von ihren Zwängen zu befreien. Sie ist Wagners menschlichste Frau.

Literatur
Udo Bermbach "Alles ist nach seiner Art. Figuren in Richard Wagners "Der Ring des Nibelungen"; Metzler, Stuttgart Weimar 2001
Martin Gregor-Dellin "Richard Wagner. Sein Leben - Sein Werk - Sein Jahrhundert"; Piper, München Zürich 2013
Paul Herrmann "Heldenepen"; Diederices, Düsseldorf 1978
Otto Rank "Das Inszest-Motiv in Dichtung und Sage"; Deuticke, Leipzig 1912
Dieter Schickling "Abschied von Walhall. Richard Wagners erotische Gesellschaft"; Knaur, Stuttgart 1983
Richard Wagner "Der Ring des Nibelungen. Erster Tag: Die Walküre"; Reclam, Stuttgart 1997
"Das Nibelungenlied" Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor, ins Neuhochdeutsche übersetzt von Siegfried Grosse; Reclam, Stuttgart 1999