Der scheiternde Held

Siegfried im Nibelungenlied
und in Wagners "Ring"


von Doris Schweitzer

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Color Illustrations for Wagner's Ring, Arthur Rackham, 1912..



Im Altgriechischen existiert in der Terminologie eine enge Beziehung des Heldischen zum mythisch-kultischen Bereich. Der "Heros" wird bei Hesiod ausdrücklich als "Halbgott" bezeichnet und in der "Ilias" ist von einem "Stamm halbgöttlicher Menschen" die Rede. Der Heros übernimmt eine Vermittlerrolle zwischen Menschen- und Götterwelt. Die Germanen kennen einen vergleichbaren Heroenkult nicht. Im Deutschen spricht man von der "Heldensage" ein vergleichsweise junges Kunstwort.
"Was ist ein Held, was zeichnet ihn aus? Eine eindeutige Definition ist nicht einfach und man tut besser daran, ihn zu beschreiben: der Held verfügt über Eigenschaften, die ihn dazu befähigen, sichtbar zu machen, was dem Menschen möglich ist. Da er größere körperliche und geistige Gaben besitzt, kann er Taten vollbringen, die jedem anderen verwehrt sind. Diese Kräfte hat er mitunter, weil er göttlicher Abstammung ist. Mehr als nach allem anderen strebt der Held nach Ehre, nicht nur nach seiner persönlichen, sondern auch nach der der Familie und der Nachkommen. Deswegen erwirbt er das Lob der nachfolgenden Generationen: den Ruhm. Der Held endet meist tragisch (eine Ausnahme ist z. B. Odysseus), da ihn sein heroisches Temperament darin hindert, sich freiwillig einer stärkeren Macht zu unterwerfen. Die Tragik seines Untergangs (häufig in jungen Jahren) wird durch seine Vorbildhaftigkeit gemildert." (Heiko Uecker: Germanische Heldensage 1972)

Die Heldensage hebt sich von den beiden anderen Erzählgattungen Mythos und Märchen dadurch ab, dass sie sich inhaltlich größtenteils auf historisch belegte Personen und Ereignisse bezieht. Der Fall Trojas, der Untergang der Burgunden, der Hunnenkönig Attila, den die Nibelungenüberlieferung als Etzel, bzw. Attli kennt, und der Gotenkönig Theoderich, der in Dietrich von Bern weiterlebt, sind die bekanntesten Beispiele. Die Heldensage enthält in ihrer literarisch fixierten Form stets mythische Elemente, ebenso kann der Heroenmythos seine Verwurzelung in der Heldensage nicht leugnen. Heldendichtungen, die epischen Charakter haben, werden mit dem Terminus relativer Heroenmythos bezeichnet. Dazu zählen "Beowulf, Nibelungenlied, Kudrun, Völsungasaga, Ring des Nibelungen, etc," wobei letzterer sich schon dem absoluten Heroenmythos annähert.
Mythos, Märchen und Sage fließen in der Siegfriedgestalt zusammen. Der Streit um die Priorität des Mythos vor der Geschichte wurde in der Germanistik ausgefochten zwischen Jacob Grimm und Karl Wilhelm Göttling. Grimm schrieb dazu: "Wir würden nicht über das geschichtliche im Nibelungenliede, sondern über das Nibelungische in der altdeutschen geschichte geschrieben haben." Der "Mythos Siegfried" hat seine Ursprünge in der kollektiven Erinnerung einer schriftlosen Gesellschaft. Auf seinem Weg in die Schrift und bis heute ist er dabei in den Dienst verschiedener Interpretationen und Interessen gestellt worden. Im 10./11. Jahrhundert entstand aus einem Kernbereich von festen Erzählelementen und Motiven das "Modell Siegfried" wie es uns in der "Edda", der "Thidrekssaga", und der "Völsungasaga" begegnet. Das fürstliche Elternhaus in einem "nordländischen" Königreich (eventuell Kind zweier Geschwister), Kindheit und frühe Jugend im Wald, Erwerb des fluchbeladenen Hortes, der Name Niflungar, der Kampf mit dem Drache, das Verstehen der Vögel nach dem Verzehr des Drachenherzes, der strahlende, unbesiegbare, gute Held (mit Wunderschwert und Wunderpferd, das Hornhaut-Motiv kennt nur die "Thidrekssaga), die Erweckung der Jungfrau, die Ehe mit einer "südländischen Prinzessin", die betrügerische Eroberung der Jungfrau für den Schwager, die hinterhältige Ermordung. Das Modell "Siegfried" folgt dem allgemeinen Modell eines Heldenlebens, zu dem Jan de Vries (Heldenlied und Heldensage, 1961) ein internationales Tableau (Mythem) erarbeitet hat. Auf "Siegfried" angewendet, beinhaltet es folgende Punkte:

1. Das Kind ist die Frucht einer Blutschande
2. Das Kind wird ausgesetzt,
das ausgesetzte Kind wird von Tieren gesäugt
3. Der Held offenbart schon sehr früh seine Kraft,
seinen Mut oder seine besonderen Eigenschaften
4. Der Held erwirbt manchmal Unverwundbarkeit
5. Eine der üblichsten Heldentaten ist der Kampf mit einem Drachen
oder einem anderen Ungeheuer
6. Der Held erwirbt eine Jungfrau,
gewöhnlich nachdem er große Gefahren überstanden hat
7. Der Held übernimmt eine Fahrt in die Unterwelt
8. Die Helden sterben oft jung

Der "Mythos Siegfried" ist als "Mythem Heldenleben" in den wichtigsten Punkten erfüllt. Der Nibelungendichter hat das heroische Modell weitgehend übernommen, bis auf Zeugung, Geburt, bedrohte Jugend. Die Fahrt in die Unterwelt könnte man motivlich mit der Fahrt ins Nibelungenland gleichsetzen. Die mythische Welt und die höfische Welt werden so zu einer Welt, eine gleichzeitige aber vergangene Welt.
"Die Ansicht, dass im Nibelungenlied mythische Welt (Sigfrid, Prünhilt) und höfische Welt (Worms, Gunther, Kriemhilt) aufeinanderprallen, und dass darin die Grundproblematik des Epos liegen sollte, wird dem Text nicht gerecht." (W. Schröder: Das Nibelungenlied) "Das Nibelungenlied sieht im Höfischen selbst die Problematik und das was genetisch dem Mythos zuzuordnen wäre, ist als solches nicht mehr wirksam, sondern wird auf das Nebengeleise des Märchenhaften, Abenteuerlichen, Burlesken abgeschoben oder von der realen mittelalterlichen Geographie absorbiert." (Wolf 1979)
Die mythischen Elemente wie Hornhaut, Hort, Drachenkampf bleiben für die Erzählung dennoch unverzichtbar weil sie Siegfrieds Persönlichkeit ausmachen. Der Dichter betont explizit das höfische Leben, indem er Siegfried als Prinz am elterlichen Hof aufwachsen lässt, wo er sich als Kämpfer bewährt und die Schwertleite empfängt. Durch Hagens Bericht holt er den Mythos – Drachenkampf und Hornhaut, Horterwerb, Kampf mit den Riesen, Alberich und die Tarnkappe, Wunderschwert - aber wieder zurück. Siegfried braucht den Drachenkampf, um seine Unverwundbarkeit zu begründen und er braucht seine übermenschliche Stärke, um Brünhild zu bezwingen. Die anderen mittelalterlichen Helden wie Parzival, Gawein, Iwein und Tristan könnten ohne Mythos existieren, Siegfried nicht.

Der Dichter des Nibelungenliedes versuchte, den germanischen Helden Siegfried in einen höfischen Ritter umzuwandeln, um ihn so den Vorstellungen und Erfahrungen seiner Zeitgenossen anzupassen. Der Epos soll die Gültigkeit der Regeln der Ständegesellschaft sowie die Gültigkeit der christlichen Morallehre beweisen. Siegfried ist daher ein Königssohn mit höfischer Erziehung und stammt nicht mehr von Odin ab. Er verkörpert ein Ideal männlicher und adliger Tugenden wie schön, kühn, stark und edel. Der Dichter rühmt ihn ob seiner Schönheit, seiner Würde, seinen Erfolgen in der Minne, seiner Furchtlosigkeit und seiner Kampfkraft. Doch Siegfried hat auch negative Seiten. Er weiß nicht Maß zu halten, er ist übermütig. Er nimmt Brünhildes Gürtel und Ring ohne Zweck und Sinn an sich und als er diese später Krimhild schenkt, handelt er ebenfalls unüberlegt. Auch die Herausforderung an Gunther bei seinem Einzug in Worms entspringt ebenfalls seinem Übermut. Siegfried denkt nie über sein Handeln nach. Sobald er in eine neue Situation gerät, will er sich zunächst kämpferisch beweisen, wie bei seiner Ankunft in Worms und im Nibelungenland, bei der Überwindung Brünhilds, bei der Jagd. Sein Machtanspruch beruht auf seiner Körperkraft. Er handelt daher eher wie ein germanischer Krieger als ein höfischer Ritter. Er zieht für die Burgunder in den Krieg gegen die Sachsen. Auf Hagens Anraten übernimmt er Führer- und Botenrollen. Bei der Ankunft in Island nimmt er die Rolle eines Vasallen an, indem er Gunther den Steigbügel hält. Der Konflikt entwickelt sich aus Siegfrieds vorgetäuschtem Vasallentum, einem Verstoß gegen die Ständeordnung. Siegfried denkt nie über die Konsequenzen seines Handelns nach. Nach keiner Seite hin vermag er seine Situation je zutreffend einzuschätzen. Sein Übermut (Überheblichkeit) und seine naive Arglosigkeit sind Wesenszüge, die Siegfried bis zu seinem Tod prägen, ja diesen erst ermöglichen. Im Hinblick auf die gesellschaftlich-politische Wirklichkeit, in der er sich im Nibelungenlied bewegt, " ist es die Klugheit der höheren Art, ist im tiefsten der Geist, woran es ihm gebricht". (Gottfried Weber). Ganz im Gegensatz zu Hagen, der Siegfried ja durch seine Ratschläge gewissermaßen lenkt. Man kann das Nibelungenlied nicht als psychologisches Epos verstehen, aber der Dichter bringt keine genormten Typen, sondern individualisierte Personen ins Spiel. "Jede Hauptfigur des Liedes erweist sich daher als ein Mensch mit seinem Widerspruch." Dieses Vielschichtige, unter Umständen, "Widersprüchliche", Zwielichtige" und "Ambivalente" der Menschen, auch Siegfrieds im Nibelungenlied erklärt sich aus dem offensichtlichen Interesse des Dichters am Menschen, das auch eine, an die Möglichkeiten und Voraussetzungen seiner Zeit gebundene, psychologische Aufgeschlossenheit einschließt. (Bert Nagel)

Ein psychologisch orientierter Mensch war, wie viele Literaten seiner Zeit, auch Richard Wagner. Er hat sich in seinen Werken mit menschlicher Liebe und Machtwillen und deren Zusammenhänge und Motivationen für Beziehungen beschäftigt.
Richard Wagner, der sich bei der Konzeption seines "Ring des Nibelungen" weitgehend auf die "Edda" und "Völsungasaga" stützte, begann mit der Entwicklung der Siegfried Figur im Herbst 1848. Zwei Jahre vorher hatte er ein anderes dramatisches Projekt in Angriff genommen. Er wollte die Gestalt Kaiser Friedrich I. in den Mittelpunkt eines Schauspiels stellen. Im Winter 1848/49 griff er das Projekt wieder auf und erweiterte es. In seiner Abhandlung "Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage", die er zur gleichen Zeit schrieb, erläuterte er eingehend die vermeintlichen Zusammenhänge zwischen der Barbarossa- und der Nibelungensage. Wagner erkannte in Friedrich I. noch einen letzten König, der als Vollstrecker des mythischen Weltwillens die Wiedergeburt des altheidnischen Siegfried verkörpert. Der alte Kaiser, der im Kyffhäuser auf seine Wiederkehr wartet, war zu dieser Zeit die mythische Symbolfigur des nationalen Gedankens gewesen. Wagner strebt zu dieser Zeit noch die unmittelbare Verbindung von Mythos, Historie und politische Gegenwart an. In der ersten Drucklegung seiner Schrift (Leipzig 1850) schreibt er: "Dort, im Kyffhäuser sitzt er nun, der alte Rotbart Friedrich, um ihn die Schätze der Nibelungen, zur Seite ihm das scharfe Schwert, das einst den grimmigen Drachen erschlug. Wann kommst du wieder, Friedrich, du herrlicher Siegfried! Und schlägst den bösen nagenden Wurm der Menschheit?" Durch die Herauslösung Siegfrieds aus der Zeit wird dieser – etwa in den Taten Barbarossas- immer wieder sichtbar und lebendig. Sein Wesen kommt in allen natürlichen Erscheinungsformen zur Erscheinung. Der Nibelungenstoff wird so für Wagner zur entscheidenden Grundlage eines neuen Prinzips. Die Rückführung sagenhafter Figuren auf historische spielt nun keine Rolle mehr, ebenso wenig wie der Appell an die eigene Zeit, obwohl diese und die politischen Ansichten Wagners im Subtext des "Rings" sehr wohl vorkommen. Aus dem Text selber hat er die Historie gänzlich verbannt. Weder ist Siegfried ein verwaister Königssohn noch gibt es den Hunnenkönig Attli, der seinen Tod an den Burgunden rächt. Durch die radikale Enthistorisierung und Entpolitisierung der Sage kann Wagner diese zum "Bild der ganzen Geschichte der Menschheit vom Anfange der Gesellschaft bis zum notwenigen Untergang des Staates werden lassen." In "Mein Leben" schreibt er sein Interesse an der Ausführung des Barbarossas-Plans sei "durch die mächtigere Anziehungskraft, welche die mythische Behandlung des mir hierbei aufgehenden gleichgearteten Stoffes in der Nibelungen- und Siegfried-Sage auf mich ausübte, verdrängt worden." Der Urmythos entsteht nach Wagner durch die unmittelbare Naturanschauung. Seine Ausführungen über Licht, Tag und Sonne "…das ist das Licht, der Tag, die Sonne. Dank und endlich Anbetung, musste diesem Elemente sich zunächst zuwenden, um so mehr als sein Gegensatz, die Finsternis, die Nacht, unerfreulich, daher unfreundlich und grauenerregend erschien" lassen unmittelbar an den Lichtmythos der von Siegfried aus ihrem Zauberschlaf erweckten Brünnhilde denken. "Heil dir, Sonne/ Heil dir, Licht! / Heil dir, leuchtender Tag!" Sie rühmt Siegfried als "siegendes Licht" und "Wecker des Lebens". Der Sagenforscher Jan de Vries schreibt dazu: "Der junge Held, der die schlafende Walküre aus dem Zauberschlaf erweckt, ist er nicht der Sonnengott, der im Frühling die Erde aus dem langen Winterschlaf wieder auferstehen lässt?" Auch Wagner erkennt in der ältesten Bedeutung des Mythus Siegfried als Licht- und Sonnengott. In seiner Ursprungsgestalt ist er also der "individualisierte Licht- oder Sonnengott, wie er das Ungethüm der chaotischen Urnacht besiegt und erlegt. –dieß ist die ursprüngliche Bedeutung von Siegfried's Drachenkampf, einem Kampfe, wie ihn Apollon gegen den Drachen Python stritt." Der Urkampf zwischen Schöpfer-Gott und Chaos-Ungeheuer wird im Heldenmythos durch den Drachenkampf immer wieder neu ausgefochten. Dem Sieg des Lichtes über die Finsternis folgt im ewigen Kreislauf der Natur aber auch die Überwindung des Lichts durch die Finsternis: Siegfrieds Ermordung. Wagner schreibt: "Wie nun der Tag endlich doch der Nacht wieder erliegt, wie der Sommer endlich doch dem Winter wieder weichen muß, ist aber Siegfried endlich auch wieder erlegt worden; der Gott ward also Mensch, und als ein dahingeschiedener Mensch erfüllt er unser Gemüt mit neuer, gesteigerter Teilnahme, indem er, als ein Opfer seiner uns beseligenden Tat, namentlich auch das sittliche Motiv der Rache, d. h. das Verlangen nach Vergeltung seines Todes an seinem Mörder, somit nach Erneuerung seiner Tat erregt. Der uralte Kampf wird daher von uns fortgesetzt, und sein wechselvoller Erfolg ist gerade derselbe, wie der beständig wiederkehrende Wechsel des Tages und der Nacht, des Sommers und des Winters, - endlich des menschlichen Geschlechts selbst, welches von Leben zu Tod, von Sieg zu Niederlage, von Freud zu Leid sich fort und fort bewegt, und so in ständiger Verjüngung das ewige Wesen des Menschen und der Natur an sich und durch sich tatvoll sich zum Bewusstsein bringt." Auch "bei der Bekehrung zum Christentum" wurden, so Wagner, "jene uralten Vorstellungen nicht gänzlich aufgeopfert." An Siegfried "fand sich mit Christus, Gottes Sohn, selbst die entscheidende Ähnlichkeit vor, dass auch er gestorben war, beklagt und gerächt wurde." Im "Ring" ist Siegfried zwar nicht mehr selbst Licht- und Sonnengott, aber er setzt den Weltschöpfungsakt wieder in Gang. Seine "Lichtgottheit" wird aber entscheidend eingetrübt durch die finsteren Machenschaften, in die ihn die Gibichungen hineinziehen. Siegfried ist wie Parzival ein Tor, seine Torheit entsteht aus seiner archaischen Naivität, die den Gesetzen der höfischen Zivilisation nicht gewachsen ist. Unmittelbar nach der "Parsifal" Komposition sagte Wagner zu Cosima: " Eigentlich hätte Siegfried Parsifal werden sollen und Wotan erlösen, auf seinen Streifzügen auf den leidenden Wotan (für Amfortas) treffen – aber es fehlte der Vorbote und so musste das wohl so bleiben."

Im Sommer 1851 als Wagner sich wieder mit dem jungen Siegfried befasst, schreibt er:" Meine Studien trugen mich so durch die Dichtungen des Mittelalters hindurch bis auf den Grund des alten urdeutschen Mythos, ein Gewand nach dem anderen, das ihm die spätere Dichtung entstellend umgeworfen hatte, vermochte ich von ihm abzulösen, um ihn endlich in seiner keuschesten Schönheit zu erblicken." Siegfried kennt keine der gesellschaftlichen Einengungen, er ist der freie Mensch. Es entsteht "Der junge Siegfried". Da aber auch dieser bald den Rahmen des Darzustellenden sprengt, folgen noch "Die Walküre" und "Der Raub des Rheingoldes" (später nur "Rheingold"). 1852 ist der Nibelungen-Zyklus abgeschlossen. In Wagners Darstellung entspricht Siegfrieds Lebens- und Todesweg genau dem was die moderne Sagenforschung als "hero-pattern" oder "Heldenschema" (Jan de Vries) bezeichnet.

1. eine die menschliche Normalität sprengende Herkunft, entweder die außereheliche Zeugung des Helden durch einen Gott (bei Wagner um eine Generation zurückgesetzt. Wotan zeugt mit einer Menschenfrau Siegmund und Sieglinde) oder durch eine inzestuöse Verbindung (Siegmund-Sieglinde)
2. die Geburt in der Verborgenheit
3. die Erziehung durch eine halbmenschliche mythische Gestalt (Mime)
4. die frühe Offenbarung außergewöhnlicher Kraft
5. der Kampf mit einem Untier, meist einem Drachen, als rituell-obligate heroische Initialisierung, welche
6. die Unverwundbarkeit oder den Gewinn eines unermesslichen Schatzes (Nibelungenhort) zur Folge hat.
7. die Befreiung und erotische Eroberung einer Jungfrau (Brünnhilde), welche mit der Überwindung einer außergewöhnlichen Gefahr (Durchschreiten der Waberlohe) einhergeht.

(siehe Udo Bermbach: Der Ring des Nibelungen. Ansichten eines Mythos 1995)

Bei Wagner spielt der Gegensatz zwischen natürlicher Welt (Rheintöchter, Waldvogel, Erda) und künstlicher Welt (Gibichungenhof) eine große Rolle. Die Ähnlichkeit der Hauptmelodie des Waldvogels mit der des Wellengesangs der Rheintöchter zeigt, dass seine Stimme die Stimme der unzerstörbaren Natur ist. Wagner nennt den Waldvogel "die mütterliche Seele der Sieglinde". Immer wenn der Waldvogel singt, vor und nach dem Drachenkampf, denkt Siegfried an seine unbekannte Mutter. "Gewiß sagt er mir was, - / vielleicht von der lieben Mutter?" Der Anblick der schlafenden Brünnhilde, zu der ihn der Waldvogel führt, lässt ihn daher gleich nach der Mutter rufen. Ja, er denkt zuerst, dass die erweckte Brünnhilde die Mutter selber ist. Brünnhilde muss ihn aufklären: "Du wonniges Kind, deine Mutter kehrt dir nicht wieder." Wotan versucht im letzten Moment Siegfried auf dem Weg zu Brünnhilde aufzuhalten: "den Weg, den es zeigte, / sollst du nicht zieh'n!" – denn, wer die "schlafende Maid" erweckte und gewänne, "machtlos macht' er mich ewig!" Obwohl er sich ja im Innersten nach dem Zerbrechen seiner Macht durch den freien Helden sehnt. Das Zerschlagen des Speers durch Siegfried ist demzufolge kein Akt der Zerstörung, sondern der Befreiung und Erlösung. Machtlos wird er nun durch Siegfried und Brünnhilde, die frei von den Vertragszwängen Wotans sind. "Eins steht über allem: Die Freiheit! schreibt Wagner und fragt sogleich: Was ist aber Freiheit? Wahrhaftigkeit. Wer wahrhaft, d. h. ganz seinem Wesen gemäss, vollkommen im Einklang mit seiner Natur ist, der ist frei; der äußere Zwang ist nur dann (seinem Sinne nach) erfolgreich, wenn er die Wahrhaftigkeit des Bezwungenen tödtet." Friedrich Nietzsche schreibt: "Wagner hat, sein halbes Leben lang, an die Revolution geglaubt, wie nur irgendein Franzose an sie geglaubt hat…Woher stammt alles Unheil in der Welt? fragte sich Wagner. Von alten Verträgen, antwortete er, gleich allen Revolutions-Ideologen. Auf deutsch: von Sitten, Gesetzen, Moralen, Institutionen, von alledem, worauf die alte Welt, die alte Gesellschaft ruht. Wie schafft man das Unheil aus der Welt? Wie schafft man die alte Gesellschaft ab? Nur dadurch, dass man den Verträgen (dem Herkommen, der Moral) den Krieg erklärt. Das tut Siegfried."

Drachenkampf und Liebesvereinigung gehören beim Mythos zusammen. Erst muss das Chaos, das vom Drachen verkörpert wird, wiederhergestellt sein und der Held muss durch den "Drachen" (Chaos) siegreich hindurchgehen, ehe eine neue Schöpfung sein wird. Diese Schöpfung drückt sich in der Liebesvereinigung aus. Wagner hat Drachenkampf und Liebeseroberung musikalisch gleichgesetzt wenn er bei Brünnhildes Worten in der Schlussszene des "Siegfried": "Wie mein Blick dich verzehrt/ Wie mein Arm dich presst" zweimal das Lindwurm-Motiv einsetzt. Auf die Unverwundbarkeit verzichtet Wagner in seiner Bearbeitung. Ihm genügt die Liebe zu Brünnhilde. In einem Brief an August Röckel vom 25.1.1854 schreibt er: "Die Liebe zu Brünnhilde ist Garantin dafür, dass der furchtlose, stets liebende Mensch Siegfried zum vollkommensten Menschen wird." Zum "hero-pattern" gehört auch, dass der Held nach der Liebeseroberung zu neuen Taten aufbricht und sich nicht "verliegt", wie Eric bei Enite. Zum Abschied tauschen Siegfried und Brünnhilde Geschenke – Ring und Ross – damit sie auch in der Trennung einander gegenwärtig sind. "Nicht Siegfried acht' ich mehr:/ ich bin nur Brünnhilde's Arm!" Siegfried will auch Brünnhilde, Brünnhilde auch Siegfried sein. Das in Brünnhildes Abschiedsworten mehrmals wiederholte "Gedenken" steht hier synonym für "Minne". Der Begriff "Minne" ist laut Jakob Grimms "Deutsche Mythologie" mit dem lateinischen "memori" und "memoria" bzw. dem englischen "mind" verwandt. Siegfried spendet den ersten Trunk, den er von Gutrune am Gibichungenhof empfängt, daher nicht den Gastgebern, wie es die Höflichkeit gebietet, sondern "zu treuer" Minne heimlich Brünnhilde. Das Tragische daran ist, dass ausgerechnet dieser heimliche "Minnetrunk" ein magischer Vergessenstrunk ist, der Siegfried Brünnhilde und alles was mit ihr zusammenhängt vergessen lässt. Siegfried wird so zum Opfer der Intrige Hagens. Aus Treue zu den vermeintlichen Freunden wird er zum Betrüger. In der "list'gen Welt" sind die mythischen Helden zum Scheitern verurteilt. Ihre Tragik gründet in ihrem Unvermögen, sich auf die Gesetze der Zivilisation einzustellen. Der fluchbeladene Ring, der das Unheil in die Welt brachte, bedeutet Siegfried nichts, ihm sind Macht und Besitz fremd. Siegfried und Brünnhilde befinden sich noch in jenem mythischen Urzustand, in dem Natur und Liebe alles – Macht und Besitz noch nichts sind. Inmitten einer korrumpierten Welt zeigt Siegfried seine Gleichgültigkeit gegenüber materiellen Dingen, selbst den Nibelungenhort vergisst er fast. Als Hagen ihn danach fragt, antwortet er: "Der Schatzes vergaß ich fast: / so schätz' ich sein müss'ges Gut!" Zu den Rheintöchtern sagt er später: "Der Welt Erbe / gewann mir ein Ring: / für der Minne Gunst/ miss' ich ihn gern." Da Siegfried an der Macht, die der Ring verlieht nicht interessiert ist, trifft ihn auch der Fluch nicht, wie Alberich wähnt: "an dem furchtlosen Helden erlahmt selbst mein Fluch: denn nicht weiß er des Ringes Werth, zu nichts nützt er die neidlichste Macht." Es ist die bedenkenlose, weil bewusstlose Geste des "was kostet die Welt", die das alles für Siegfried möglich werden lässt. Siegfried kennt keine Furcht, denn er hat ja nichts zu verlieren. Nur eines ist ihm wichtig, seine körperliche Kraft. Mime warnt ihn in der nicht vertonten Urfassung der Eingangszene des "Siegfried": "Wem die Furcht die Sinne nicht scharf gefegt/ blind und taub in der Welt/ schlingt ihn die Welle hinab." In der Welt der Gibichungen verliert das Naturkind Siegfried auch seine Fähigkeit, die Stimme der Vögel zu verstehen, die ihn vor einem weiteren Mordanschlag hätten warnen können. Auf Hagens Frage ob er denn "der Vögel Sanges-Sprache" verstehe, antwortet Siegfried: "Seit lange acht ich / des Lallens nicht mehr." Siegfried ist von Wagners Helden das traurigste Opfer, weil er es zwar spürt, aber doch nichts begreift. Selbst Wagner sah später ich ihm nicht mehr den einstigen Helden, sondern dachte ähnlich über Siegfried wie Thomas Mann, der ihn 1933 als "Hanswurst, Lichtgott und anarchistischer Sozialrevolutionär auf einmal" bezeichnet hatte. Für den Vortrag, in dem dieser Ausspruch stand, wurde Thomas Mann von den Nationalsozialisten ausgebürgert.

Siegfried und Brünnhilde sind frei, verlieren aber immer mehr von ihrem mythischen Wesen. Brünnhilde weigert sich, als Waltraute sie darum bittet, den Ring den Rheintöchtern zurück zu geben. Nie werde sie auf "Siegfrieds Liebespfand" verzichten. "Die Liebe ließe ich nie, mir nähmen sie nie die Liebe, stürzt' auch in Trümmern Walhalls strahlende Pracht!" "Dieser Eigennutz lässt sie endgültig mit ihrer göttlichen Vergangenheit brechen, entfremdet sie ihrer Bestimmung als Fluchlöserin – ebenso geschichtsvergessen und gegenwartsverfallen wie ihr neuer Abgott Siegfried – und verstrickt sie in eine Welt des Verrats, der Intrige und der Schuld". (Bermbach 2001) Mit den Rheintöchtern hat die Tragödie begonnen, mit ihnen beginnt der Kreis sich zu schließen. Als die Rheintöchter Siegfried vor dem Fluch warnen, den "nächtlich / webende Nornen / in des Urgesetzes / ewiges Seil" flechten, antwortet er: "Des Urgesetzes ewiges Seil / flochten sie wilde Flüche hinein, / Nothung zerhaut es den Nornen! / Wohl warnte mich einst / vor dem Fluch' ein Wurm, / doch das Fürchten lehrt er mich nicht." Er – der Tor – versteht nicht was die Rheintöchter ihm damit sagen wollen. Siegfried verweigert die Übergabe des Rings und schlägt erneut alle Warnungen vor seiner Fluchbeladenheit in den Wind. "So stark und weise / wähnt er sich, als gebunden und blind er ist. / Eide schwor er – und achtet sie nicht; / Runen weiß er - und räth sie nicht. / Leb wohl, Siegfried! Ein stolzes Weib / wird heut dich argen beerben: sie beut uns beßres Gehör." Die Rheintöchter haben als Naturwesen ein tieferes Wissen als die in eine korrupte Welt verstrickten Götter und Menschen. Sie setzen ihre Hoffnungen nun auf Brünnhilde, die Tochter Erdas.

Im Nibelungenlied ist Siegfrieds Durstgefühl beim Jagdausflug nur Mittel zum Zweck. Er muss sich zur Quelle hinabbeugen und damit seine einzige verwundbare Stelle preisgeben. Wagner benutzt das Durstgefühl, damit Hagen, der den Mord an Siegfried von Beginn an als notwendigen Teil seiner Ring-Eroberungsstrategie geplant hat, Siegfried den Erinnerungstrank reichen kann. Siegfrieds Erinnerung an Brünnhilde kehrt zurück. Hagen hat damit sein Ziel erreicht und stößt Siegfried den Speer in den Rücken, um Rache für den Bruch eines geleisteten Schwurs zu nehmen. Der sterbende Siegfried rafft sich zu einem letzten entscheidenden Bekenntnis zu Brünnhilde auf. "Wagner braucht diese Szene um der Rettung seines Helden willen. Siegfried soll wissend (christlich gesprochen: bereuend und damit entsühnt) sterben." (Wapnewski: Der traurige Gott)
"Sein Sterben rettet Siegfried. Denn er stirbt nun nicht als der Weltmann, als der bewusstlose Draufgänger, als der manipulierte Spieler, der gewissenlose Kumpan, der immerfrohe Tor. Sondern in seiner Eigentlichkeit, wie sie ihm – zwischen der Waldbubenexistenz und der des Hofmanns – durch die Liebe Brünnhildes für einen Schicksalsatemzuges geschenkt wurde. Da hatte er die Chance, erlöst zu sich selbst, Erlöser der Welt zu werden. … Sterbend erlebt Siegfried sein Erwachen." (Wapnewski: Weltendrama)

Die Macht der Götter ist gebrochen. Aber nicht die Macht des Rings und Alberichs Liebesfluch. In einer Welt, in der das Böse dominiert, kann der freie Mensch nicht zum Zuge kommen. "Der Siegfried des Nibelungenliedes stirbt in schrecklicher Sinnlosigkeit, tödlich bestraft für ein Bubenstück, tödlich bestraft für blinden Knabenmut …Siegfrieds Tod in Wagners Konzept ist Teil des großen Weltenplans, Teil von Wotans Heilplan. Der Gott, der um die Ordnung der Welt willen Schuld auf sich lud, der Gott, der selber brüchig wird, wenn er vertragsbrüchig wird; der Gott, der auch den Vertrag mit dem Bösen einhalten muss, wenn er sich nicht selber aufheben will; dieser Gott, gebunden in seinem eigenen System, braucht den freien Menschen, der frei die Götter befreit, somit ihre Funktion aufhebt, die ja darin bestand, zu herrschen und sich damit dem Zwang der eigenen Aufgabe auszuliefern." (Wapnewski: Der traurige Gott)

Erst mit der Rückgabe des Rings an die Rheintöchter wird der Fluch gelöst und der freie Mensch und das von ihm bestimmte Liebesideal leuchten als Hoffnung in Brünnhildes Schlussgesang auf. Mit ihrem Tod kehren Brünnhilde und Siegfried zu ihrer mythischen Integrität zurück und setzen so das Zeichen für eine bessere Welt.

 

Literatur

Udo Bermbach (Hrsg) "Alles ist nach seiner Art" Figuren in Richard Wagners "Der Ring des Nibelungen" Verlag J.B. Metzler, Stuttgart 2001

Werner Hoffmann "Das Siegfriedbild in der Forschung" WBG Darmstadt 1979

Ulrich Müller "Herrscher, Helden, Heilige" UVK St.Gallen1996

Matthias Teichert "Von der Heldensage zum Heroenmythos" Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2008

Richard Wagner "Mein Leben" Jazzybee Verlag, Altenmünster 2015

Richard Wagner "Der Ring des Nibelungen, eine Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend" Reclam Verlag, Stuttgart 1998

Peter Wapnewski "Der Ring des Nibelungen, Richard Wagners Weltendrama" Piper Taschenbuch Verlag 1998

Peter Wapnewski "Der traurige Gott" Verlag Beck, München 1980