Antike Medizin
Wer heute durch Bad Kissingen, Pyrmont oder Reichenhall geht, wird an die griechischen Asklepieien erinnert, die man in der römischen Kaiserzeit überall in Europa finden konnte. Dort standen Priester, Ärzte, Schauspieler, Gelehrte, Masseure, Vorleser und Bedienstete aller Art zur Verfügung. Man lebte für den Kranken und von ihm. Körperliche Krankheit galt bei den Griechen immer auch als seelische Krankheit und umgekehrt. Deshalb waren auch die Maßnahmen vielseitig und umfassend. Im Vordergrund stand die völlige Loslösung des Kranken aus seinem persönlichen Lebenskreis. Er hatte den Anweisungen von Priestern und Ärzten zu folgen, die Mahlzeiten wurden ebenso verordnet wie Heilschlaf, Trinkkuren, Theaterbesuch und Teilnahme an den kultischen Handlungen im Tempel. Die Asklepieien waren zwar in erster Linie Kultstätten, aber vieles spricht dafür, dass auch Ärzte dort eine wichtige Rolle gespielt haben. Zu den üblichen ärztlichen Behandlungen gehörten bereits chirurgische Eingriffe. Ärztliches Wissen wurde innerhalb der Asklepiadenfamilien weitergegeben, die ihren Stammbaum auf Asklepios (Heilgott der Griechen) zurückführten. Auf Abbildungen wird Asklepios mit einem Stab in der Hand dargestellt, um den sich eine Schlange windet. Dieser Asklepiosstab wurde zum Symbol der Heilkunde. Der bedeutendste Sproß des Asklepiadengeschlechts war Hippokrates, der um das Jahr 460 v. Chr. auf der Insel Kos zur Welt kam. Seinen Namen tragen mindestens 61 Schriften, die als Corpus Hippocraticum bekannt sind. Allen Texten gemein ist das allgemeine Bestreben um eine Medizin, die auf einer vernunftgemäßen Naturbeobachtung basiert. So verordnete Hippokrates einen Extrakt aus Weiden- oder Pappelrinde gegen rheumatische Beschwerden. Im 19. Jahrhundert entwickelten Chemiker aufgrund seiner Beobachtungen das erfolgreichste und meistverwendete Medikament unserer Zeit: Aspirin. Hippokrates ärztliches Können und Leistungen waren ausschlaggebend dafür, dass sich auf Kos eine empirische Heilkunde entwickeln konnte, dass man Aufzeichnungen gemacht hat - und somit die Medizin als Wissenschaft betrieben wurde.
Die antike Medizin im Römischen Reich erlebte ihre Blütezeit durch den Arzt Galen (129-199 n. Chr.). Er stammte wie viele andere namhafte Träger der antiken Medizin aus dem griechisch besiedelten Teil Kleinasiens. Galen war in Pergamon beheimatet, dessen Asklepieion sich als heilkräftiger Kurort zu dieser Zeit großer Beliebtheit erfreute. Sein Lebenslauf war der eines außergewöhnlich erfolgreichen Arztes, der Aufstieg zum Leibarzt des Kaisers Marc Aurel, die Krönung seiner Karriere. Dennoch wäre der Name Galen sicher schnell vergessen worden, hätte er nicht ein an Umfang und Inhalt einmaliges literarisches Werk hinterlassen, das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als tragfähige Grundlage der an den Universitäten gelehrten Medizin diente. Am bekanntesten ist seine Lehre der Temperamente, die auf hippokratischen Wurzeln beruht. Bei jedem Mensch überwiegt nach Galen einer der vier Grundsäfte: Blut, helle Galle, schwarze Galle und Phlegma. Daraus ergeben sich seine körperlichen und seelischen Besonderheiten, aber auch das Verhalten gegenüber krankmachenden Einflüssen. Die vier von Galen beschriebenen Temperamente des Sanguinikers, des Cholerikers, des Melancholikers und Phlegmatikers beruhen auf diesem Prinzip. Wie sehr hierbei die alltägliche Beobachtung diese Auffassung gestützt hat, bestätigt nichts besser als die noch heute in der Umgangssprache übliche Verwendung dieser Begriffe.
Arabische Medizin
Griechische Ärzte haben die Medizin nach Rom gebracht. Mit dem Ende des römischen Kaiserreichs ging auch das überlieferte medizinische Wissen in andere Hände über. Zentren griechischer Medizin und Wissenschaft bestanden in Syrien, Mesopotamien und in Persien. 628 wütete die Pest im byzantinischen Syrien und im sassanidischen Mesopotamien dermaßen, dass es den Arabern ohne besondere Schwierigkeiten gelang, das persische Kaiserreich im Osten und den Osten des byzantinischen Reiches zu erobern. 637 fiel dem Kalifen Omar das von der Pest verwüstete Damaskus kampflos zu. Infolge breitete sich das Arabische als Unterrichtssprache immer weiter aus. Nun erlebte die griechische Medizin - wie auch andere Wissenschaften - ihre erste große Renaissance in arabischem Gewand. Im Mittelpunkt der therapeutischen Ansätze stand auch in der arabischen Medizin die Einheit von Körper und Geist. So ist überliefert, dass Musik als therapeutisches Mittel zur besseren Genesung des Patienten eingesetzt wurde. In jedem Krankenhaus des arabischen Reiches im 10. Jahrhundert war die ärztliche Visite zentraler Ausgangspunkt für die Diagnose und der Patient wurde, fast im Sinne moderner ganzheitlicher Methoden, nicht nur nach seinem körperlichen, sondern auch nach seinem geistigen Wohlbefinden befragt. Darauf basierend wurde dann die individuelle Behandlung und Diät vom Visite führenden Arzt festgelegt. Der Einsatz einer Vielzahl von Pflanzen zur Heilung der Kranken spielte eine zentrale Rolle. Kaffee als Herzmittel, in Pulverform gegen Mandelentzündung, Ruhr und schwerheilende Wunden, Kampfer zur Herzbelebung oder Sennesblätter, Tamarinden, Aloe und Rhabarber als abführende Mittel sind nur einige Beispiele. Die bedeutesten Ärzte - auch später der abendländischen Medizin waren: der Perser Rhazes, der Andalusier Abulkasim und der Türke Avicenna.
Abu Bakr Muhammad ibn Zakariya ar-Razi
Al-Razi oder latinisiert Rhazes wurde um 864 in Ray in der Nähe des heutigen Teherans geboren und starb ebenda im Jahr 925. Erst im Alter von 30 Jahren begann er in Bagdad mit dem Studium der Medizin, vorher interessierte er sich für die Musik. Er war Alchemist, Arzt und Naturphilosoph. Als einer der ersten konzentrierte er sich auf die psychischen Seiten der Medizin und der Heilung und dachte sich das Verhältnis von Leib und Seele als von der Seele bestimmt. Nach seiner Meinung sollte ein Mediziner auch ein guter Seelenarzt sein. Rhazes war ein produktiver Schriftsteller, der 183 medizinische und naturphilosophische Schriften verfasste. Seine Werke wurden auch im Abendland in der medizinischen Lehre verwendet. Er strukturierte und übersetzte das riesige Werk Galens und schuf daraus einen Lehrplan für das Studium der Medizin, der über Jahrhunderte Gültigkeit hatte. Da er sehr viele Experimente machte und fast alle seine Aussagen, vor allem in der Medizin, selbst erprobte, gilt er als großer Empiriker. Rhazes dokumentierte Erkrankungen wie Blinddarmentzündung und Krämpfe während der Schwangerschaft und beschrieb detailliert die Pocken und die Masern. Ferner veröffentlichte er ein Verzeichnis der wichtigsten Heilmittel. Rhazes war einer der berühmtesten Ärzte in der arabischen Medizin, dem auf dem medizinischen Campus in Paris noch heute ein Denkmal gewidmet ist. Der 27. August jeden Jahres ist im Iran offizieller Gedenktag für Mohammad Zararia Razi.
Abu I-Qasim Chalaf ibn al-Abbas az Zahrawi
Abulcasis oder Abulkasim, wie er im Westen genannt wurde, wurde 936 in El-Zahra in der Nähe von Córdoba in Spanien geboren. 1013 starb er ebenda. Er entstammte dem arabischen Ansar-Stamm, der sich einige Zeit vorher in Spanien angesiedelt hatte. Er studierte, lehrte und praktizierte Medizin und Chirurgie bis kurz vor seinem Tod in El-Zahra. Abulkasim war ein Hofarzt des Kalifen al-Hakam II. Er widmete sein gesamtes Leben und sein Genie dem Fortschritt der Medizin als Ganzes und der Chirurgie im Besonderen: Wer sie (die Chirurgie) ausüben will, muss sich daher zunächst mit der Anatomie vertraut machen, muss sich Kenntnis der Knochen, Nerven, Muskeln verschaffen (Chirurgie ed. Chaning 1778). Sein größtes Werk war At-Tasrif (Die Verordnung), eine medizinische Enzyklopädie in 30 Bänden mit Kapiteln über Chirurgie, Medizin, Augenheilkunde, Orthopädie, Pharmakologie, Ernährung und anderes. Er galt als der Meister aller Chirurgen. Für chirurgische Operationen beschreibt er unter Anderem den Gebrauch von Schwämmen zur Narkose, die mit Opium und Mandroga getränkt wurden. Er entwickelte einige chirurgische Instrumente, die man sich noch heute im Medizinmuseum in Damaskus anschauen kann. Die Bandbreite an medizinischem Wissen hat er in seiner 50-jährigen Laufbahn als Lehrer, Ausbilder und praktizierender Arzt gesammelt. Wichtig war ihm auch eine positive Arzt-Patient Beziehung und die Behandlung aller Patienten unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. At-Tasrif wurde im 12. Jahrhundert von Gerhard von Cremona in der Übersetzerschule von Toledo ins Lateinische übersetzt und illustriert. Etwa fünf Jahrhunderte lang war es die die Hauptquelle mittelalterlichen medizinischen Wissens in Europa und diente als Quelle für Ärzte und Chirurgen. Es war das erste überlieferte Buch, das verschiedene zahnärztliche Apparate dokumentierte, das Abbinden von Blutgefäßen beschrieb und die Erblichkeit von Hämophilie (Bluterkrankheit) erklärte.
Abu Ali al-Husayn ibn Abdullah ibn Sina
Ibn Sina oder Avicenna, wie er auf lateinisch hieß, wurde 980 in Afschana bei Buchara im persischen Samanidenreich, heute Usbekistan geboren. Er starb 1037 in Hamadan, heute Iran. Avicenna war Arzt, Physiker, Philosoph, Jurist, Mathematiker, Astronom und Alchemist. Er zählte zu den berühmtesten Persönlichkeiten seiner Zeit. Nach vielen Wanderungen und Diensten bei verschiedenen Herrschern ließ sich Avicenna in Hamadan nieder und wurde erst Leibarzt und medizinischer Berater des Emirs Shams-ud-Dawleh und stieg schließlich zu dessen Großwesir auf. Sein Leben in jener Zeit war äußerst anstrengend, tagsüber war er mit Diensten für den Emir beschäftigt, während er einen großen Teil der Nächte mit Vorlesungen und dem Diktieren von Notizen für seine Bücher verbrachte. Er war als Autor sehr produktiv. Man schreibt ihm 99 Bücher zu: 16 über Medizin, 68 über Theologie und Metaphysik, 11 über Astronomie und 4 über das Drama. Das bei weitem berühmteste Werk von Avicenna ist der Qanun al-Tibb (Kanon der Medizin). Er vereint griechische, römische und persische medizinische Traditionen. Im Qanun wird beschrieben, dass Tuberkulose ansteckend ist und dass Krankheiten von Wasser und Erde übertragen werden können. Man findet darin Kapitel über den Wurmbefall, Diäten, orale Anästhesie als auch über die chirurgische Behandlung von Krebs. Auch verschiedene Augenkrankheiten und Diabetes mellitus werden im Qanun beschrieben. Das Herz wird als Pumpe aufgefasst. Zu den vielen psychischen Störungen die Avicenna erwähnt, gehört auch die Liebeskrankheit. Wie es heißt, hat er die Krankheit des Prinzen von Gorgan diagnostiziert, der bettlägerig war und dessen Leiden die örtlichen Ärzte nicht erkannten. Avicenna bemerkte ein Flattern im Puls des Prinzen als er den Namen seiner Geliebten erwähnte. Daraufhin verordnete er ein einfaches Heilmittel: Der Kranke sollte mit seiner Geliebten vereint werden.
Die Materia Medica (Medizinsches Material) des Qanun enthält 760 Heilmittel mit Angaben zu deren Anwendung und Wirksamkeit. So schrieb Avicenna über den Weihrauch: Er nützt dem Verstand und stärkt ihn. Im Qanun wird für eine vergleichbare Wirkung die Einnahme mit Honig empfohlen. Moderne Forschungen bestätigen seine Erkenntnis. Sowohl Weihrauch als auch Honig scheinen eine positive Wirkung auf die Gedächtnisleistung zu haben. Er war auch der Erste der Regeln aufstellte, wie ein neues Medikament zu prüfen sei, bevor es dem Patienten verabreicht wird. Neben dem Kanon gibt es noch 15 medizinische Werke Avicennas, von denen acht in Versen geschrieben sind. Sie enthalten unter anderem die 25 Zeichen der Erkennung von Krankheiten, hygienische Regeln, nachgewiesene Arzneien und anatomische Notizen. Unter seinen Prosa-Werken findet die Abhandlung über Herzmedikamente besondere Beachtung.
Im Iran lebt das Wissen des Avicenna in der Volksmedizin bis heute fort.
Der Qanun wurde um die Mitte des 12. Jahrhunderts von Gerhard von Cremona in Toledo ins Lateinische übersetzt. Er blieb bis ins 17. Jahrhundert eines der Hauptwerke der medizinischen Wissenschaft. Etwa zur gleichen Zeit wie Gerhards Übersetzung entstand in der Übersetzerschule in Toledo eine dem Erzbischof Johannes von Toledo gewidmete Übersetzung des Kitab al-Shifa (Buch der Heilung) von Avicenna. Das Buch behandelt Arithmetik, Astronomie, Geometrie, Logik, Musik, Naturwissenschaften, Philosophie und Psychologie. Eine selbstständige Übersetzung speziell des achten Buches über die Tiere wurde in der Zeit nach 1220 von Michael Scotus in Italien angefertigt und Kaiser Friedrich II. gewidmet. Ein in Melfi entstandenes, kaiserlich autorisiertes Exemplar ist auf den 9. August 1232 datiert.
Medizin im Abendland
Zur Zeit des Hippokrates von Kos wurde das heilkundliche Wissen innerhalb der Asklepiadenfamilie im Privatunterricht vom Lehrer zum Schüler weitergegeben. Der Arzt war Theoretiker und Praktiker in einem. Die Unfallchirurgie spielte bei den Hippokratikern eine besondere Rolle. In Alexandria wurde um 300 v. Chr. die operative Chirurgie auf akademischer Höhe entwickelt. Zusätzlich zu Alexandria entstanden verstreut medizinische Fachschulen, besonders viele zur römischen Kaiserzeit, so u. a. in Ravenna, Marseille und Bordeaux. Die Spezialisierung nahm immer mehr zu, besonders in der römischen Spätantike, als Fachärzte, meist Griechen, auch Ärztinnen, daneben Bader und Barbiere praktizierten. Der ärztliche Beruf und die Ausbildung waren und blieben Privatsache.
Die praktischen Ärzte schlossen sich zu Kollegien (Zünften) zusammen, und ihnen übergeordnet waren die öffentlich bestallten Gemeindeärzte, die wie die Leibärzte bei Hof seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. die Amtsbezeichnung „Archiater" führten. Archiater hießen auch die Leibärzte bei Hofe in den Germanenreichen des frühen Mittelalters. Vom spätlateinischen Archiater leitet sich über die Aussprache (arziäter) althochdeutsch arzät (seit dem 9. Jahrhundert), mittelhochdeutsch arzet, neuhochdeutsch Arzt ab. Doctor wurde schon im 6. Jahrhundert im Ostgotenreich der Lehrer der Medizin an Ärzteschulen genannt. Der Großteil der übrigen Ärzte neben Archiater und eventuell Doctor fiel im frühen Mittelalter unter die Berufsbezeichnung medicus. Den Berufsstand des Chirurgen gab es also in Weiterführung antiker Tradition zu dieser Zeit. Seine Tätigkeit wurde als Handwerk angesehen, als solches ausgeübt und das Wissen vor allem mündlich weitergegeben. In der medizinischen Literatur wird seit dem 8. Jahrhundert zwischen medicus - chirurgus unterschieden. Für den Wundarzt gab es auch die Bezeichnungen rasator oder sanguinator. Daneben gab es Quacksalber, Arzneimittelkrämer, marktschreierische Zahnbrecher und Starstecher.
Die Klostermedizin nimmt im 6. Jahrhundert im Benediktinerorden ihren Anfang. Darin vermischt sich antikes Erbe mit keltischen und germanischen Einflüssen. Die Chirurgie blieb als Handwerkskunst ausgeschlossen. Dennoch wurde sie wohl in den Klöstern bis zu ihrem Verbot für Kleriker durch das 4. Laterankonzil 1215 ausgeübt. Verhängnisvoll war diese Entscheidung deshalb, weil die schon teilweise vollzogene Abtrennung der Chirurgie offiziell wurde und einen Zustand einleitete, der bis ins 19. Jahrhundert Bestand hatte. Nur in Italien und in manchen Teilen Frankreichs konnte sie in überlieferter Form weitergeführt und von Ärzten betrieben werden. Die Klostermedizin herrschte vor bis zur Gründung der nicht-klerikalen medizinischen Hochschule von Salerno im 10. Jahrhundert. Bekannteste Vertreterin der Klostermedizin ist Hildegard von Bingen.
Medizin in der Stauferzeit
Die medizinische einschließlich der wundärztlichen Kunst bilden um 1200 einen vielschichtigen Komplex. Die Hauptmasse des Wissens leitet sich aus dem antiken Erbe her, das in die wissenschaftliche und die abergläubische Ausrichtung zerfällt.
Die entscheidenden Impulse wissenschaftlichen Fortschritts erhält die abendländische Medizin durch die Rezeption hippokratisch-galenischer Heilkunst in arabischer Übersetzung seit dem 11. Jahrhundert mit ihren Zentren in Salerno und Toledo. Salerno übernahm die Führung in der medizinischen Wissenschaft aufgrund ihrer Übersetzungen aus dem Arabischen besonders durch Constantinus Africanus (1018-1087). Die Hochschule von Salerno war allen Konfessionen und beiden Geschlechtern zugänglich. Nicht das Geschlecht des Arztes , sondern sein fachliches Können und seine ethische Haltung spielten dort eine Rolle. Akademisch ausgebildete Ärztinnen meist aus Salernitaner Familien standen im 11.-14. Jahrhundert in hohem Ansehen. Die berühmteste Ärztin ist die Trota, die um 1150 eine allgemeinmedizinische Practica verfasste. An den klerikal geprägten Hochschulen in Frankreich waren Frauen nicht zum Studium zugelassen. Seit 1258 sind indes im wundärztlichen Bereich tätige Frauen in Paris nachgewiesen. Alles ärztlich wichtige Wissen wurde in Salerno gepflegt, auch Chirurgie und Geburtshilfe. Eine empirisch-klinische Grundhaltung war charakteristisch. In Salerno hatte die Chirurgie ihren Platz in der Hochschule. Weiterentwickelt wurde sie allerdings in der 1219 gegründeten Bologneser Chirurgenschule, die auf den Lehren des wundärztlich tätigen Langobarden Roger Frugardi und des Abulkasim fußte.
In den Konstitutionen von Melfi (1231) ordnete Kaiser Friedrich II. das gesamte Gesundheitswesen, so auch die Ausbildung von Ärzten, Wundärzten und Apothekern. Schon sein Großvater Roger II. von Sizilien hatte die Ausübung des Arztberufes von einem Examen vor königlichen Beamten abhängig gemacht. Zuwiderhandelnde wurden mit Kerkerhaft und Güterkonfiskation bedroht und seine harten Vorschriften ausdrücklich mit der schweren Gefahr begründet, die schlecht ausgebildete Ärzte für seine Untertanen darstellten. Der Enkel nahm die Bestimmung wörtlich in sein Konstitutionencorpus auf und fügte ihr eine Reihe ergänzender Regelungen an, nicht ohne auch seinerseits vor den irreparablen Schäden zu warnen, die unfähige Ärzte anrichteten. Um die notwendige berufliche Qualifikation der Ärzte zu gewähren, bestimmte er, künftig habe der am Hof von einem Vertreter des Königs auszusprechenden Zulassung als Arzt in Salerno eine öffentliche Prüfung der wissenschaftlichen Kenntnisse des Kandidaten durch die dort wirkenden Medizinprofessoren voranzugehen. Darüber sei ein Zeugnis auszustellen. Auch die angehenden Medizinprofessoren sollten ein Examen vor Kollegen und Beamten ablegen, die Lehre der Medizin und Chirurgie allein in Salerno erlaubt sein.
Vom Beruf des Arztes unterschieden Friedrichs Gesetze bereits richtungsweisend für die Zukunft denjenigen des Apothekers. Die Herstellung und der Verkauf von Heilmitteln unterlagen nach seinem Willen der Kontrolle vereidigter und zuvor in Salerno geprüfter Aufsichtsbeamter. Jeder Apotheker musste geloben, dass er alle Arzneien gemäß den anerkannten Regeln und zum Nutzen der Patienten zubereiten werde. Den Ärzten verbot Friedrich ausdrücklich die gleichzeitige Führung einer Apotheke, den geschäftlichen Zusammenschluss mit einem Apotheker oder auch nur dessen Anstellung. Er erweiterte die von jedem Arzt zu schwörende Eidesformel um die Zusage, alle Apotheker anzuzeigen, die schlechte Heilmittel produzierten. Friedrich schrieb den Ärzten seines Reiches vor, wie oft sie tagsüber und bei Nacht ihre Kranken zu besuchen hätten, auch die von der Länge des Weges abhängige Höhe des Honorars legte er fest. Zudem mussten sie sich verpflichten, arme Patienten umsonst zu behandeln. In seiner Novelle legte der Kaiser die berühmte Ausbildungsordnung für in Salerno studierende Mediziner nieder. Als Voraussetzung zum Medizinstudium wurde ein dreijähriges Studium der scientia logicalis, also der Logik vorgeschrieben. Für das Medizinstudium selbst sah der kaiserliche Lehrplan eine Dauer von fünf Jahren vor. Während dieser Zeit mussten die Magister ihre Studenten anhand der Bücher Galens und des Hippokrates in Theorie und Praxis unterrichten. Dazu gehörte auch der Erwerb chirurgischer Kenntnisse. Dennoch ging Friedrichs Studienordnung von der eigenständigen Berufstätigkeit des Chirurgen aus und verlangte dafür eine spezielle, mindestens einjährige fachliche Unterweisung in Salerno mit besonders ausführlicher Behandlung der Anatomie des menschlichen Körpers.
Wie bei Friedrichs Gesetzgebung insgesamt lässt sich auch im Bereich seiner Gesundheitspolitik nur schwer sagen, ob und wie strikt seine Vorgaben umgesetzt wurden. Mit der Abfassung seiner Studienordnung versuchte Friedrich, ohne in kleinliche Gängelei zu verfallen oder Neuerungen zu verbieten, das in Salerno erprobte und bewährte Vorgehen von staatlicher Seite aus zu bestätigen und dauerhaft zu sichern. Friedrichs gesundheitspolitisches Gesetzgebungswerk ist als Ganzes im abendländischen Europa neu und ohne Vorbild. Zum ersten Mal verstand hier ein Herrscher die Gesundheitsfürsorge in einem sehr weiten Sinn als einen Bereich, für den er Verantwortung trug und zuständig war, als Aufgabe des Staates sozusagen. Er wollte damit nach seinen eigenen Worten dem Wohle seiner Untertanen dienen und voll des Lobes hoben noch die Kommentatoren der Anjou-Zeit den Nutzen seiner Medizinalgesetze für die Menschen hervor. Sie bedauerten lediglich die mangelhafte Umsetzung derselben. Marinus von Caramanico, Richter am königlichen Hof Karls von Anjou, vermerkt in seinen zwischen 1270 und 1280 niedergeschriebenen Glossen, die kaiserlichen Prüfungsbestimmungen für Ärzte würden schlecht befolgt und die vorgeschriebene Kontrolle von Apothekern habe er nirgends gesehen.
In der höfischen Literatur des Mittelalters spielt auch die Heilkunst eine Rolle. So stellt uns Hartmann von Aue im „Armen Heinrich" das Zerrbild eines salernitanischen Arztes vor. Wolfram von Eschenbach beschreibt im Parzival einen chirurgischen Eingriff nach der Lehre des Abulkasim. Im Frauendienst lobt Ulrich von Liechtenstein einen Chirurgen, der ihm die Hasenscharte operiert hat und das Nibelungenlied nennt in der 4. Aventiure Kriegschirurgen im Einsatz nach dem Sachsenkrieg, die reich entlohnt werden.
Bucharzt versus Wundarzt
Die Geschichte des Chirurgen im Abendland bis um 1200 lässt sich wie folgt umreißen: Die aristotelische Dreiteilung des Arzt-Seins in 1. Praktiker, 2. Theoretiker und 3. medizinisch gebildeter Laie hat im Mittelalter ihre Entsprechung in 1. Wundarzt/Chirurgicus, 2. Physicus, Doctor medicinae/Magister und 3. der medizinisch gebildete Laie. Trotz des akademischen Niveaus, das die operative Chirurgie erreicht hatte, vertiefte sich der Gegensatz zwischen Medicus bzw. Physicus und Chirurg/Wundarzt im Hochmittelalter. Der Doktor- bzw. Magistertitel der Universitäten blieb dem Physicus vorbehalten und stellte den Inhaber juristisch dem niederen Adel gleich. Der Physicus war der Bucharzt, der Chirurg der Praktiker, der allerdings mehr zur medizinischen Wissenschaft auf empirischen Gebiet beigetragen hat als der Physicus. Im universitätslosen deutschsprachigen Gebiet des 13. Jahrhunderts hatte der Wundarzt eine handwerkliche Ausbildung. Oft schlossen sich Chirurgen mit Badern und Barbieren in Zünften zusammen, obwohl die Bader, gelegentlich auch die Barbiere als unehrlich galten. Einige wenige deutsche Wundärzte des 13. Jahrhunderts ließen sich in Italien oder Frankreich ausbilden und praktizierten anschließend in Deutschland.
Der Dualismus in der Heilkunde hielt sich bis ins 19 Jahrhundert. Im Theatrum Anatomicum in Berlin, das 1713 eröffnet wurde und in dem dreimal wöchentlich öffentliche Sektionen stattfanden, gab es bald eine feste Sitzordnung. In der ersten Reihe saßen die Professoren und Doktoren der Medizin, dahinter platzierten sich die Chirurgen. In der dritten Reihe saßen die Feldschere der Berliner Garnison, hinter diesen die Barbiere und schließlich in der letzten Reihe neugierige Berliner Laien. Die Armeechirurgen mussten auf Befehl des Königs an den Vorführungen teilnehmen, standen aber dem Bestreben, das Wissen der Mediziner und das Handwerk des Chirurgen zu einem Beruf zu vereinigen, verständnislos gegenüber. Um 1817 gab es im Königreich Württemberg noch zwei gut abgegrenzte Gruppen von Heilpersonen, einmal die auf der Universität ausgebildeten Ärzte sowie die Gruppe der Wundärzte, die sich mittlerweile in verschiedene Klassen aufteilte. Es gab sowohl graduierte Wundärzte als auch solche, die aus der alten Barbierchirurgenlaufbahn kamen. Für die Landbevölkerung spielten die Wundärzte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine große Rolle. Ihnen oblag die gesamte Versorgung der Bevölkerung außerhalb der Städte. In den größeren Städten entwickelte sich in dieser Zeit das Hausarztsystem. Während der Badisch/Pfälzischen Revolution 1848 wurde der Ruf nach einer Medizinalreform lauter. Im Jahr 1852 ist in Preußen mit der Aufhebung der ärztlichen Klassen und der Schaffung eines einzigen Ausbildungsganges für Ärzte schließlich der entscheidende Schritt zum einheitlichen Arztberuf gelungen. Die übrigen deutschen Staaten folgten bald diesem Vorbild. Mit der Gründung des Deutschen Reiches sind dann rechtseinheitliche gesetzliche Regelungen im ärztlichen Ausbildungs- und Prüfungswesen eingeführt worden. Die letzten verbliebenen Wundärzte alter Art haben noch bis zur Wende zum 20. Jahrhundert ihren Beruf ausgeübt. In der Zwischenzeit war aus dem vielklassig gegliederten uneinheitlichen Beruf der einheitlich auf der Universität ausgebildete Arzt geworden.
Literatur
Fischer-Homberger: Geschichte der Medizin. Heidelberger Taschenbücher Band 165.
1975 Springer Verlag Heidelberg
Heinz Goerke: Arzt und Heilkunde. 1998 Parkland Verlag Köln
Bernhard D. Haage: Studien zur Heilkunde im Parzival Wolfram von Eschenbach. 1992 Kümmerle Verlag Göppingen
Wolfgang Stürner: Friedrich II. Teil 2: Der Kaiser 1220-1250. 2000 WBG Darmstadt
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