"Die Nibelungen"
in Hebbels Tagebüchern


von Gernot Schnellbacher


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Friedrich Hebbel, Lithographie von Kriehuber, 1858 ..



Der Dichter Friedrich Hebbel arbeitete etwa fünf Jahre, an seinem dreiteiligen Drama "Die Nibelungen", von deren Erfolg er selbst überrascht wurde.

I. Leben und Tagebücher


Friedrich Hebbel wurde am 18. März 1813 geboren. Er war Sohn eines armen Maurers in dem Marktflecken Wesselburen in Holstein, das damals noch mit dem Königreich Dänemark verbunden war. Schon in der Schulzeit fühlte er sich zur Dichtkunst hingezogen, und bei allen späteren Beschwernissen hielt er mit zähem Willen an seiner Berufung zum Dichter fest.

Bis zu seinem 22. Lebensjahr arbeitete er als Gemeindeschreiber in seinem Heimatort. Mit Hilfe der Hamburger Journalistin Amalie Schoppe, die sein Talent erkannt und einige seiner Gedichte publiziert hatte, konnte er 1835 in die Hansestadt übersiedeln. Damals begann er sein erstes Tagebuch mit dem Untertitel

Reflexionen über die Welt, Leben und Bücher, hauptsächlich aber über mich selbst.

Ohne systematische Gliederung entstanden bis zu seinem Tod im Dezember 1863 sechs Tagebücher auf weit über tausend Seiten. Diese enthalten biographische Zustandsschilderungen, Zitate, wichtige Briefe und Aphorismen. So endet z. B. der Eintrag vom 13. Dezember 1842 mit dem kürzlich [am 12. Juli 2004] in der Wormser Zeitung erschienenen Tagesspruch:

Jedenfalls ist es besser, ein eckiges Etwas gewesen zu sein als ein rundes Nichts.

In Hamburg lernte Hebbel Elise Lensing kennen, die ihn so sehr in ihr Herz schloss, dass sie ihm trotz eigener Notlage alles gab, was sie konnte. Unter anderem ermöglichte sie ihm ab 1836 ein Studium in Heidelberg und München. Hier geriet er in so bittere Not, dass er im März 1839 zu Fuß (die Eisenbahn war damals noch im Entstehen und Autos gab es sowieso noch nicht) den langen Weg nach Hamburg zurückwanderte. Hier kümmerte sich Elise Lensing liebevoll um ihn. Sie war ihm auch nicht böse, dass er sie nicht heiraten wollte, obwohl er mit ihr zwei Kinder hatte. Seine ab 1841 erscheinenden Dramen, z. B. Judith, brachten keine materielle Besserung seiner Lage. Immerhin erlangte er 1843 ein zweijähriges Reisestipendium des Dänenkönigs. So gelangte er u. a. nach Paris und Rom.

Die große Wende in seinem Leben brachte (so sein Biograf Hayo Matthiesen) das „Wunder von Wien“. Dort war er ziemlich hoffnungslos und gesundheitlich angeschlagen Ende 1845 angekommen. In der Wiener Presse wurde er als geistvoller Dichter des Dramas Judith begrüßt. Er erfuhr Aufmerksamkeit und materielle Zuwendung. Von der Schauspielerin Christine Enghaus, die eine lebenslange Anstellung am Burgtheater hatte, war er so fasziniert, dass er schon bei der vierten Begegnung mit ihr um ihre Hand anhielt. Sie heirateten im Mai 1846; Hebbel war damals 33 Jahre; es wurde eine glückliche Ehe. Seine Ehefrau wurde so etwas wie die Hebamme seiner Nibelungen.

II. Die Idee zum Nibelungendrama


Am 18. Februar 1857 schreibt Hebbel in sein Tagebuch nach gerade abgeschlossener Arbeit an Siegfrieds Tod:

Hierbei fällt mir der Moment ein, wo ich das Nibelungenepos zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Es war in Hamburg, als ich Amalie Schoppe zum ersten Mal ... besuchte und bei der ich zu Tisch gewesen war; sie schlief nach dem Essen und ich unterhielt mich mit Büchern in ihrem Garten. Unter diesen befand sich ... das alte Lied, und ich las den Gesang, der Siegfrieds Tod erzählt.

Demnach wäre Hebbel erst mit 22 Jahren mit dem Nibelungenlied bekannt geworden. In der Widmung an seine Frau im Vorspann zum Text der Nibelungen steht jedoch:

Ich war an einem schönen Maientag

Ein halber Knabe noch, in einem Garten

Und fand auf einem Tisch ein altes Buch.

Ich schlug es auf und wie der Höllenzwang ...

So hielt das Buch mich fest. Ich nahm es weg

Und schlich mich in die heimlichste der Lauben

Und las das Buch von Siegfried und Kriemhild ...

Erst spät am Abend trug ich starr und stumm

Das Buch zurück und viele Jahre flohn

An mir vorüber eh’ ich’s wiedersah.

Doch unvergesslich blieben die Gestalten

Mir eingeprägt und unauslöschlich war

Der stille Wunsch, sie einmal nachzubilden ...

Da trat ich einmal in den Musentempel ...

Ein Flüstern ging durchs Haus und heilges Schweigen

Entstand sogleich, wie sich der Vorhang hob,

Denn du erschienst als Rächerin Kriemhild.

Es war kein Sohn Apolls, der dir die Worte

Geliehen hatte, dennoch trafen sie ...

Und Hagen Tronje sprach das erste Wort

Dieser Text spielt auf das Drama Nibelungenhort von Ernst Raupach an - ein elendes Machwerk, wie Hebbel in einem Brief sagt, in dem seine Frau Christine 1853 die Kriemhild spielte. Ihre Schauspielkunst veranlasste ihn zu seiner dramatischen Gestaltung des Nibelungenliedes.

III. Die Entstehungsgeschichte der Nibelungen


Am 18. Oktober 1855 schrieb Hebbel in seinem gerade erworbenen Ferienhaus in Gmunden am Traunsee in sein Tagebuch:

Ich fange an, mich ernstlicher mit den Nibelungen zu befassen, mit denen ich bisher in Gedanken nur spielte.... Hagen und Siegfried stehen schon da, Kriemhild soll mir, wenn es ihr gefällt, heute das erste Wort anvertrauen.

Hebbel wartete also auf eine Intuition oder Bild aus dem Originaltext, der seine dichterische Ader anregte. Am 2. November 1855 berichtet er von abschließender Arbeit an Kriemhilds Leid, doch er bemerkt auch:

Das Nibelungenlied kommt mir jetzt, wo ich mich viel damit beschäftigen muss, wie ein taubstummes Gedicht vor, das nur durch Zeichen redet.

Wie schwer ihm die Arbeit damals fiel, macht auch die Notiz am Jahresende 1855 deutlich:

Gearbeitet zwei Akte an den Nibelungen, zufrieden mit dem Fertigen, jedoch ohne Vertrauen zu dem Ganzen und zweifelnd, ob ich fortfahren werde.

Nach mehrmonatiger Pause lesen wir am 3.Oktober 1856:

Gestern abend habe ich den ersten Akt der Nibelungen vollendet, wie er wahrscheinlich bleiben wird.

Hebbel hatte sein Konzept geändert: anstatt der anfangs vorgesehenen 10 kurzen Akte will er 5 lange machen mit dem Ziel, so wörtlich,

dramatische Vermittlung des Gedichts mit der Nation.

Am 27. Oktober konnte er trotz Unwohlseins gut arbeiten:

Nie blitzte das mir mehr als heut ... Eine Meisterszene geschrieben, mit der Hagen fertig ist.

Offenbar war er länger gesundheitlich angeschlagen. Kurz vor Jahresende, am 29. Dezember las er seiner Frau und dem Freund Emil Kuh zwei Nibelungenakte vor

so gut es bei Grippe und Schnupfen ging.

Die Wirkung sei betäubend gewesen. So vermutet er auch in seinem Jahresrückblick zwei Tage später, dass

schon etwas Zaubergold des versunkenen Horts

in diesen beiden Akten enthalten sei.

Im Februar 1857 schreibt er den dritten Akt von Siegfrieds Tod; am Ende des Jahres bemerkt er lakonisch:

die erste Abteilung der Nibelungen ist vollendet.

Nun bleibt das Tagebuch, was die Nibelungen angeht, fast zwei Jahre schweigsam, eine lange Pause. Am 26. Oktober 1859 heißt es dann:

Heute Abend den ersten Akt von “Kriemhilds Rache“ geschlossen. So gibt’s am Ende wirklich eine Trilogie. Ich glaube, das düstere Familiengemälde, womit die Tragödie wieder beginnt, ist mir nicht übel gelungen, wie es denn überhaupt bei diesem ungeheuren Stoff merkwürdig ist, dass alles, wenn der große Maßstab des Ganzen nicht außer Acht gelassen wird, aus den menschlichen Motiven hervorgeht... Ich fing vor drei Wochen an.

Anscheinend glaubt Hebbel, die Handlungsweise seiner Hauptpersonen verständlich gemacht zu haben, etwa dass Kriemhilds Treue sich auch in ihrem Verlangen nach Gerechtigkeit bzw. Rache äußert.

Am 10. November 1859 vermerkt Hebbel von seiner Arbeit an den Nibelungen:

Der letzte und tiefste Brunnen hat(sic) gesprungen.

Haben Sie eine Idee, was Hebbel uns damit sagen möchte? Ich vermute, dass es heißen soll, dass die Vollendung des Dramas nicht mehr fern ist. Noch im gleichen Monat ist nach etwa dreiwöchiger Arbeit der zweite Akt von Kriemhilds Rache beendet, und am 17. Dezember heißt es:

Den 3. Akt von Kriemhilds Rache geschlossen. Nie arbeitete ich mehr in einem Zug, nie hat mich ein Werk auch so angegriffen, ich habe abends ordentlich Fieber.

Aus gesundheitlichen Gründen ging die Arbeit erst im Februar 1860 weiter, aber dann recht zügig, so dass Hebbel am 22. März schreiben konnte:

Eben, abends 7 Uhr, schreibe ich die letzten Verse des 5. Akts von Kriemhilds Rache nieder. Draußen tobt das erste Frühlingsgewitter sich aus, der Donner rollt und die blauen Blitze zucken durch das Fenster, vor dem mein Schreibtisch steht. Die Hauptszene fiel auf meinen Geburtstag (d. h. den 18. März), mir immer ein schönes Zeichen für’s ganze Jahr. Oktober 1855 begann ich.

IV. Die Uraufführung in Weimar


Durch Vermittlung des Weimarer Intendanten Franz von Dingelstedt kam es im Frühjahr 1861 am dortigen Hoftheater – d.h. am Theater Goethes und Schillers - zu erfolgreichen Premieren. Hebbel berichtet darüber in seinen Briefen, die aber nicht Gegenstand meines Vortages sind. In seinen Tagebüchern kommt er nur im ausführlichen Jahresrückblick an Silvester 1861 darauf zu sprechen. Hier erwähnt er die

größten Auszeichnungen vom Hof

und - angeblich nicht aus Eitelkeit - ein Kompliment des Goethe-Arztes Vogel:


Hier ist mehr als Goethe, er selber würde gesagt haben: Sie Vogel, das ist ein Kerl, der könnte einem die Rippen im Leibe entzwei drücken.

Dass seine Frau die Hauptrolle in Kriemhilds Rache spielte, machte Komplikationen, obwohl der Weimarer Großherzog auf Vorschlag von Franz Liszt extra dafür eine kaiserliche Erlaubnis aus Wien besorgt hatte. Der dortige Theaterdirektor Heinrich Laube – ein bekannter Vertreter des Jungen Deutschland – hatte ein gespanntes Verhältnis zu Hebbel und drohte seiner Frau mit Pensionierung. Eine deshalb in Aussicht genommene Übersiedlung der Familie Hebbel von Wien nach Weimar zerschlug sich aber.

V. Die Wiener Aufführungen 1863


Am Jahresende 1862 notiert Hebbel in sein Tagebuch:

Die Nibelungen haben mehr Erfolg als je ein Werk von mir, in der Presse, wie auf dem Theater. Ganz gegen meine Erwartung.

Diesem Erfolg konnte sich schließlich auch die Wiener Bühne nicht verschließen. Sie setzte die Nibelungen auf den Spielplan, wenn auch erst zwei Jahre nach den Weimarer Uraufführungen. Offenbar hatte Hebbel Lampenfieber, wenn er am 21. Februar 1863 schreibt :

Am 19. waren die Nibelungen. Ich ging nicht ins Theater ... Ich machte meinen gewöhnlichen Spaziergang und las und kramte dann bis halb elf, wo meine Frau und Glasers, die so freundlich gewesen waren, mein neugieriges Töchterlein in ihre Loge mitzunehmen, vom Schlachtfeld zurückkehrten und mir das Resultat mitteilten. Vollständiger Erfolg; neunmal gerufen und nicht einmal gekommen. Gestern sah ich mir das Stück selbst an; Laube hatte mich mit Titi (d.h. Hebbels Tochter Christine) in seine Loge eingeladen und ich sah sehr gut, ohne gesehen zu werden. Gesteckt voll, große Aufmerksamkeit, nicht einmal Gelächter bei der Nachahmung der Vogelstimmen ...

Und am 24. Februar schreibt er:

Gestern abend die dritte Vorstellung der Nibelungen. Das Haus so voll, dass kein Apfel zur Erde konnte, Aufmerksamkeit wie bei Messe und Predigt, am Schlusse abermaliger Hervorruf und für die vierte Wiederholung die Sitze schon alle verkauft ...

„Aufmerksam wie bei einer Predigt“ ist wohl als Lob gedacht: erinnern Sie sich noch an Predigten, die Sie gehört haben ?

Eine Madame Rettich überbrachte Hebbel das Lob der Kaiserinmutter Sophie, die über das Stück entzückt sei, was ihn zu dem Schluss veranlasste:

Also Publikum und Hof gewonnen, da darf man ja wohl an einen

Erfolg glauben! Nicht zu verachten

.



Aber dennoch blieb Hebbel misstrauisch gegenüber Heinrich Laube, weil er nicht genug Vorstellungen ansetzen würde und - so wörtlich am 28. Februar:

Zugleich geht der Theaterdirektor herum und erzählt Jedermann, der es hören will, die Nibelungen seien, trotz ihres Erfolgs kein Drama und würden nur durch die Darstellerin der Kriemhild gehalten. Möglicherweise will er dadurch die frühere Ablehnung maskieren ...

Aber Hebbel gibt auch zu, dass Laube sich bei den Proben viel Mühe gab und manche seiner Änderungen habe er nicht nur aus Höflichkeit gebilligt.

Am 6. März, nach der fünften ausverkauften Vorstellung, bekommt Hebbel seine wachsende Popularität zu spüren. Wörtlich:

Auch prangt meine Photographie ... am Graben, neben der des Grafen Rechtern, eines niederländischen Diplomaten, der im Duell um eine H__ (sic) gefallen ist; er und ich sind jetzt die Löwen des Tages, teilen die Ehre jedoch mit der Madame, die ihr eigener Mann, ein Jude, in seinem Interesse artistisch flüssig gemacht haben soll ... (Hat jemand von Ihnen eine Vermutung, was das bedeutet ?)

In der Folge fallen zu Hebbels Missfallen einige Vorstellungen infolge von Schauspielererkrankungen aus, doch er stellt am 14.März fest:

Einerlei, die Schlacht ist gewonnen und die Beute kann

ich entbehren, wenn ich muss.

Aus der Eintragung vom 14. April erfährt man, dass die Nibelungen in Mannheim aufgeführt wurden und dort habe, so wird von dort wörtlich berichtet, das riesige Werk einen riesigen Erfolg gehabt. Tantiemezahlungen seien eingegangen aus Berlin, wo es aber in der satirischen Zeitschrift Kladderadatsch offenbar auch Kritik geben hat.

In den folgenden Wochen werden die Nibelungen noch einige Male eher nebenbei erwähnt, zuletzt am 20. Juni 1863:

Die Nibelungen sind am 19. zum zehnten Mal gegeben, diesmal auf Befehl des Hofs zur Eröffnung des Reichsrats.

Kurz vor seinem Tod hat Hebbel also so etwas wie öffentliche Anerkennung in Österreich gefunden. Er starb ein knappes halbes Jahr später mit 50 Jahren im Dezember 1863. Sein markantes Grab befindet sich auf dem Evangelischen Friedhof in Wien-Matzleinsdorf.

VI. Hebbel zur Autorenfrage des Nibelungenliedes


Ich wurde den ganzen Abend den Gedanken nicht los, dass

der Schöpfer eines solchen Gedichts bis auf den Namen

vergessen werden konnte.

So heißt es im Eintrag vom 21. Februar 1863. Also plagte auch Hebbel die Frage nach dem Dichter des Nibelungenliedes. Noch zu Beginn dieses Monats hatte er einen Zuordnungsversuch so abgelehnt:

Prof. Pfeiffer hat den Verfasser des Nibelungenliedes entdeckt. Es ist ein gewisser Kürenberger, von dem man noch ein paar Strophen hat, die im Nibelungenversmaß gedichtet sind. Dass der Mann Eigentümer dieser Strophen ist, steht (..) fest; dass ihm auch das Nibelungenlied gehört, weiß man nicht, aber Professor Pfeiffer schreibt es ihm im Germanisten-Grundbuch zu, weil das Versmaß übereinstimmt. Napoleons sämtliche Schlachten werden nach dieser Analogie vergessen sein, aber der graue Rock und der dreieckige Hut werden leben.

Hebbel meint also sinngemäß, wer nur einen grauen Rock und einen dreieckigen Hut trage, sei deshalb noch lange nicht Napoleon, beziehungsweise: nur weil jemand das gleiche Versmaß wie der Autor des Nibelungenliedes benutzt, muss er nicht zugleich der Autor des Nibelungenliedes sein, jedenfalls nicht zwingend.

Mehrfach geht es in den Tagebüchern um die Frage, ob das Nibelungenlied einen oder mehrere Dichter habe. Hebbel bezieht eindeutig Position für einen Autor, der mehrere Quellen verarbeitet haben mag. Er argumentiert bildhaft, was an drei Auszügen aus seinen Tagebüchern verdeutlicht werden soll:

7. April 1857: Die Nibelungen auf viele Dichter zurückzuführen heißt behaupten, ein Apfel sei nicht das Produkt eines Baumes, sondern eines Waldes.

19. Oktober 1859: Es gibt Kinder, die in mehrere Familien hinein schielen und Weiber, die mit mehreren Männern zu tun haben. Wenn man daraus schließen wollte, dass solche Kinder auch mehrere Väter hätten, würde der Physiolog nicht lachen ?

25. Oktober 1862: Kennst du das lebendige Wesen, das aus anderen lebendigen Wesen zusammengesetzt ist? Gewiss nicht. Aber das lebendige Wesen, das davon lebt, dass es andere lebendige Wesen verzehrt hat und verzehrt, brauchst du nicht lange zu suchen.

VII. Hebbels Drama im Spiegel seiner Zeit


Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hatte sich kaum jemand um das Nibelungenlied gekümmert. 1784 verehrte ein Professor Müller aus Berlin seine gerade erschiene erste Textausgabe des Liedes dem etwa 100 Jahre vor Hebbel geborenen Friedrich dem Großen. Dessen Geringschätzung zitiert Hebbel - aus einer Potsdamer Zeitung übernehmend - in seinem Tagebuch an Neujahr 1855 :

„Hochgelahrter, Lieber, Getreuer !

Ihr urteilt viel zu vorteilhaft von denen (sic) Gedichten aus dem 12., 13. und 14. Seculo, deren Druck Ihr befördert habet und zur Bereicherung der deutschen Sprache so brauchbar haltet. Meiner Einsicht nach sind solche (er meint wohl Gedichte wie das Nibelungenlied) nicht einen Schuss Pulver wert und verdienen nicht, aus dem Staube der Vergessenheit gezogen zu werden. In meiner Büchersammlung wenigstens würde ich dergleichen elendes Zeug nicht dulden, sondern herausschmeißen. Das mir davon eingesandte Exemplar mag dahero sein Schicksal in der dortigen großen Bibliothek abwarten. Viele Nachfragen verspricht aber demselben nicht euer sonst gnädiger König Friedrich.

Diese Einschätzung hatte sich im 19. Jahrhundert gründlich geändert. Neben anderen Autoren –Raupach wurde vorhin genannt – sah auch Hebbel im Nibelungenlied den

Stoff zu einer größeren Darstellung,

um den er zu Beginn des Jahres 1837 in seinen Tagebüchern gebeten hatte. Sein Nibelungen-Drama, das nach den Worten des Herausgebers Richard Maria Werner seine nationale Stellung begründete, brachte ihm noch kurz vor seinem Tod den Schillerpreis ein. Zu diesem Erfolg hat sicher der damalige Zeitgeist beigetragen, d. h. die romantische Vergangenheitsforschung und die Sehnsucht der Deutschen des 19. Jahrhunderts nach einem Nationalstaat, der erst acht Jahre nach Hebbels Tod 1871 von Bismarck geschaffen wurde. Hebbel schreibt dazu in einem Brief an seinen Freund Sigmund Engländer vom 23. Februar 1863:

Mir sind die Nibelungen nicht der „Aberglaube der Deutschen Nation“ wie Ihnen, sondern, wenn Sie mir einen Ausdruck gestatten wollen, den ich nur Ihnen gegenüber zu gebrauchen wage, ein Sternbild, das nur zufällig nicht am Sternenhimmel funkelt ... ich beschränke mich darauf, die wunderbaren Lichter und Farben aufzufangen, welche unsere wirklich bestehende Welt in einen neuen Glanz tauchen, ohne sie zu verändern ...

Wenn Hebbel die wirklich bestehende Welt ohne Veränderung glanzvoll darstellen wollte, meint das doch wohl, dass er das Nibelungenthema für überzeitlich oder zeitlos einschätzte, etwa in dem Sinne: das Leben des einzelnen ist in oft tragischer Weise geschichtlich bedingt. Beim Kampf um die Macht droht den Völkern die Selbstvernichtung. Vielleicht setzt Hebbel eine gewisse Hoffnung auf das Christentum, denn am Ende seines Dramas übergibt der heidnische Hunnenkönig Etzel – anders als im Nibelungenlied – dem Christen Dietrich von Bern die Macht. Dieser übernimmt die Herrschaft – so die letzen Worte des Dramas - „im Namen dessen, der am Kreuz erblich“.