Waren die Burgunder
im Nibelungenlied
Heiden oder
Christen?

von Hans Müller



.....
Kriemhild an Siegfrieds Bahre, Gemälde v. E. Lauffer, 1879 .




1.

Heidentum und Christentum
bei den Burgundern am Rhein zur Zeit der Völkerwanderung
2.

Heidentum und Christentum
bei den Burgundern im Nibelungenlied nach Handschrift B
2.1 Das Gottesbild der Burgunder im Spiegel ihrer Kommunikation
2.2

Die kirchlichen Feste, der Sakramentenempfang und die Gottesdienste
bei den Burgundern
2.3
Die Vertreter der Kirche, kirchlichen Hierarchie bei den Burgundern
2.4
Die Beurteilung der Königsfamilie aus christlicher Sicht
2.4.1 Kriemhild
..
2.4.1.1 ihr Streit mit Brünhild
2.4.1.2 . ihr Totenkult
2.4.1.3 ihre Heirat mit Etzel und ihre Rache
2.4.2 Hagen
2.4.2.1 seine Rolle im 1. Teil des Nibelungenliedes (1. – 19. Aventiure)
2.4.2.2 . seine versuchte Ermordung des Hofkaplans
2.4.2.3 seine Rolle an Etzels Hof
3.

Kurzer Hinweis auf die Handschrift C und die „Klage“

4.
Mögliche Rezeption des Nibelungenliedes in seiner Zeit aus christlicher Sicht




1.

Heidentum und Christentum
bei den Burgundern am Rhein zur Zeit der Völkerwanderung

Die Entwicklung des Nibelungenstoffes bis hin zum Nibelungenlied liegt weitgehend im Dunkeln. Am Anfang müssen Lieder gestanden haben, die von den Göttern der Germanen und den Helden ihrer Stämme handelten. Auch verarbeiteten die Germanen traumatische Erlebnisse der Völkerwanderungszeit, wie den Burgunderuntergang am Rhein 435/36, bei dem König Gundahar, der König Gunther des Nibelungenliedes, umkam. Kaiser formuliert in seiner wissenschaftlichen Monographie über die Burgunder vorsichtig:„Das erste burgundische Reich auf römischem Boden lag höchstwahrscheinlich am Mittelrhein (bei Worms).“ (1)
Es war ganz offensichtlich nicht die Absicht des Nibelungenlieddichters, konnte es auch nicht sein, einen historisch zutreffenden Bericht vom Leben der Adelsgesellschaft am Burgunderhof in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts zu verfassen. Das zeigt schon am Anfang seiner Dichtung die Nennung der Ämter am Wormser Burgunderhof, die denen am Wormser Bischofshof um 1200, also der Zeit der Abfassung des Nibelungenliedes, entsprachen. (2) Es ist die 1. von vielen Anspielungen auf die politisch-historische Situation in dieser Zeit.
Dennoch erscheint es mir wichtig, bevor ich zum eigentlichen Thema komme, der Frage nachzugehen, inwieweit die Burgunder in ihrem Reich am Mittelrhein (bei Worms) in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts Heiden oder Christen waren, wobei ich – wie im Mittelalter üblich - als Heiden alle bezeichne, die weder Christen noch Juden sind.
Die Entwicklung des Christentums in der Wormser Region liegt im Dunkeln. Schork kommt in seinem Aufsatz über die Anfänge des Christentums im Raum Worms durch Analogievergleiche zu dem Schluss, man könne mit einem hohem Grad von Sicherheit annehmen, dass es in Worms bereits zu Beginn bzw. in der Mitte des 4. Jahrhunderts einen Bischof gegeben habe. (3)
Kaiser geht ausführlich in seiner Monographie auf die Christianisierung der Burgunder ein:„Kurz nach ihrer Niederlassung am Rhein (413) seien die Burgunder, so schreibt Orosius in seiner zwischen 416 und 417/18 [...] verfassten Universalgeschichte [...], Christen geworden, hätten den katholischen Glauben angenommen, [...] und lebten friedlich zusammen mit den Galliern [...] wie mit christlichen Brüdern.“ Der griechische Historiker Sokrates, so Kaiser, berichtet um 440, „die im Rechtsrheinischen verbliebenen Burgunder [...] hätten um 430 angesichts der Bedrängung durch die Hunnen Hilfe bei dem Christengott gesucht, seien in eine Stadt in Gallien gegangen und hätten von dem Bischof die christliche Taufe erbeten, die dieser ihnen auch nach siebentägigem Fasten und Unterweisung im Glauben gespendet habe. Dann hätten sie den Schlachtensieg errungen und seitdem sei dieses Volk christlich.“ (4) Albert Hauck in seiner Kirchengeschichte Deutschlands hält diese Quellen für zuverlässig. (5) Der Übertritt der Burgunder zum Christentum, wie ihn die zitierten Quellen schilderten, bedeutete, dass sie die Allmacht des Christengottes anerkannten, sich taufen ließen, wohl auch in die bestehende Kirchenstruktur eingegliedert wurden und am kirchlichen Leben teilnahmen. Man muss bezweifeln, dass sie zu einem tieferen Glaubensverständnis kamen. Möglicherweise gaben sie nicht den Glauben an ihre Götter und Naturgeister ganz auf, ordneten sie nur dem allmächtigen Christengott unter. Ein besonderes Problem war sicher die tiefere Aneignung des Evangeliums in ihrem Leben. Sie stand in krassem Widerspruch zu den Wertvorstellungen des germanischen Kriegeradels. Entscheidend war für ihn die Bindung in der Sippe und in der Gefolgschaft. Sie beruhte auf gegenseitiger Treue und musste sich im Ernstfall, z. B. bei kriegerischen Auseinandersetzungen, bei der Verteidigung der Ehre der Sippe, so bei der Blutrache, bis in den Tod bewähren. „Das Einzige, was ewig lebt,“ heißt es in einem alten Sittengedicht, „ist der Toten Tatenruhm.“ Radikale Nächstenliebe bis hin zur Feindesliebe, Verzicht auf Rache waren für sie umso schwieriger zu üben, als sie in dieser Epoche der Völkerwanderung in der ständigen Bedrohung lebten, ihr Leben bei kriegerischen Auseinandersetzungen um Land und Herrschaft zu verlieren.
Zusammenfassend wird man sagen können, dass sich die Burgunder in ihrem Reich am Mittelrhein in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts wahrscheinlich eher oberflächlich, äußerlich als Christen bekannten, aber wohl auch noch in ihren alten Glaubensvorstellungen verhaftet waren, sicherlich weitgehend nach den Idealen des germanischen Kriegeradels ihr Leben auszurichten versuchten. Sie waren dann nach mittelalterlichem Maßstab mehr Heiden als Christen.
Und wie schildert der Nibelungenlieddichter die Burgunder? Waren sie für ihn Heiden oder Christen?


2.

Heidentum und Christentum
bei den Burgundern im Nibelungenlied nach Handschrift B

Vorbemerkung:
Im Hauptteil meines Vortrags beziehe ich mich auf die Fassung B des Nibelungenliedes. Strophennummerierung und Zitate mit Übersetzung sind der im Anhang angegebenen Werkausgabe von Grosse entnommen. - Im 3. Teil meines Vortrags begnüge ich mich mit kurzen Hinweisen auf die Handschrift C und die „Klage“.
Um die Gestaltungsabsicht des Nibelungenlieddichters bei der Darstellung heidnischer und christlicher Elemente besser erkennen zu können, lohnt sich ein Blick auf die nordischen literarischen Zeugnisse des Nibelungenstoffes. Ich muss mich hier mit wenigen Andeutungen auf die untereinander und manchmal auch in sich widersprüchlichen Ausgestaltungen begnügen.
In der Wölsungensaga, die große Bedeutung für Wagners Ring hatte, stammt Sigurd/Siegfried aus einem halbgöttlichen Geschlecht, wiederholt greift Odin entscheidend in dessen Leben ein. Brünhild als Walküre, durch einen Feuerwall geschützt, steht Odin besonders nahe. Märchenhafte Elemente, wie Überwinden des Feuerwalls, Zaubertrank, Gestaltentausch, spielen in dieser ausschließlich heidnisch-germanischen Welt eine wichtige Rolle. - In der Thidrekssaga ist Högni/Hagen ein Sohn der Königinmutter Oda/Ute und eines Alben, also eines mythischen Wesens. Sonst aber verzichtet diese Saga auf die germanisch-nordische Mythologie und weitgehend auf märchenhafte Züge. Christlich ist allerdings nur, dass marginal in Gesprächen Gott und Teufel vorkommen.
Ganz anders im Nibelungenlied. Seine Gestalten mit Ausnahme der Hunnen leben in einem christlichen Milieu, in dem es für germanische Götter keinen Platz gibt. Brünhild ist keine Walküre, sondern nur eine Frau mit übernatürlicher Kraft. Die märchenhaften Elemente sind zurückgedrängt, spielen nur insoweit eine Rolle, als sie für die Siegfried-Handlung notwendig sind.

2.1
Das Gottesbild der Burgunder im Spiegel ihrer Kommunikation

Die Figuren des Nibelungenliedes offenbaren ihr Inneres vor allem in ihrer Kommunikation, so auch ihre religiösen Einstellungen. Es fällt auf, wie oft bei ihnen Gott in ihren Gesprächen vorkommt. So sagt z. B. Gernot zu Kriemhild, um die Wahrheit seiner Aussage zu beteuern:„«Got weiz daz wol von himele, an Sîfrides tôt / gewan ich nie die schulde.»“ („«Gott im Himmel weiß genau, an Siegfrieds Tod trage ich keine Schuld.»“) (1097). – Kriemhild wünscht ihrem Schwiegervater Sigmund nach Siegfrieds Tod, er solle „got bevolhen“ („Gott befohlen“) nach Xanten zurückkehren. (1090)
Häufig bitten Burgunder Gott, er möge jemanden für seine besondere Tat belohnen. (nu lôn’ iu/dir got) Auf diese Weise danken Gunther und Kriemhild Siegfried für seinen siegreichen Kampf gegen die Dänen und Sachsen (249, 302/03), Hagen Volker für seine Bereitschaft, mit ihm die Nachtwache zu halten (1831), Kriemhild Iring für seinen mutigen Kampf gegen die Burgunder (2055) und ein Burgunder Hagen, der ihm geraten hat, seinen Durst mit dem Blut der Toten zu löschen. (2116)
Besonders hervorzuheben ist das „lôn’ iu got“ Gernots und Hagens vor dem Kampf, zu dem sich Rüdiger gegen sie nach schwerem Seelenkampf verpflichtet fühlt. Auf diesen Seelenkampf, in dem Rüdiger mit Gott um die richtige Entscheidung ringt, gehe ich hier nicht ein, da ich mich auf den Gottesglauben der Burgunder beschränke. – Nur so viel zur Situation: Rüdiger hat in Bechelaren Gernot ein Schwert geschenkt, Hagen überlässt er vor dem Kampf auf dessen Bitte hin seinen Schild. - Gernot dankt Rüdiger vor dem bevorstehenden Kampf gegen ihn für sein Schwert. „« Nu lôn’ iu got, her Rüedegêr», sprach aber Gêrnôt, / «der vil rîchen gâbe, mich ruewet iuwer tôt, / sol an iu verderben sô tugentlîcher muot.»“ (2184) („«Gott belohne Euch, Herr Rüdiger», entgegnete Gernot, «für das kostbare Geschenk. Mir geht Euer Tod zu Herzen, wenn mit euch eine so vorbildliche Haltung zugrunde geht.»“) Hagen trägt Rüdiger seine Schildbitte mit folgenden Worten vor:„«Daz des got von himele geruochen wolde, / daz ich schilt sô guoten noch tragen solde, ...»“ (2195) („ «Wenn Gott im Himmel nur erlauben wollte, dass ich nochmal einen so guten Schild tragen dürfte ...»“) Und er dankt Rüdiger mit den Worten:„«Nu lôn’ iu got von himele, vil edel Rüedegêr. / ez wirt iuwer gelîche deheiner nimmer mêr, / der ellenden recken sô hêrliche gebe. / got sol daz gebieten, daz iuwer tugent immer lebe.»“ (2199) („«Das lohn euch Gott im Himmel, edler Rüdiger. Euch wird keiner mehr gleichkommen, der fremde Krieger so herrlich beschenkt. Gott gebe, dass Euer ritterliches Vorbild immer lebendig bleibe.»“) Und Hagen klagt Gott, dass sie gegen Freunde kämpfen sollen. (2200)
Schon in der Deutung des Falkentraums von Kriemhild durch ihre Mutter am Anfang des Nibelungenliedes wird deutlich, wie in Gott der Lenker der Geschicke der Menschen gesehen wird. Sie erklärt:„«der valke, den du ziuhest, daz ist ein edel man. / in welle got behüeten, du muost in sciere vloren hân.»“ (14) („«Der Falke, den du aufziehst, der ist ein Edelmann. Wenn Gott ihn nicht beschützt, wirst du ihn schnell verlieren.»“) Und weiter:„«du wirst ein scoene wîp, / ob dir noch got gefüeget eins rehte guoten riters lîp.»“ (16) („«Du wrst eine schöne Frau, wenn dir Gott einen vorzüglichen Ritter zum Mann bestimmt.»“
Dies sind nur wenige Stellen von vielen, in denen die Burgunder das Wort „Gott“ verwenden. Manchmal dürfte es sich um bloße Formeln handeln, so etwa, wenn der Heide Etzel Rüdiger für seine Fahrt nach Worms den Schutz Gottes wünscht (1154) und für seine Entscheidung, gegen die Burgunder zu kämpfen, Gottes Lohn. (2165) Aber es geht wohl bei den eben zitierten Worten Gernots und vielleicht auch Hagens und weiteren Aussprüchen Kriemhilds, auf die ich bei deren Charakteristik eingehen werde, um den Ausdruck eines tieferen christlichen Gottesglaubens.
Die Gottesbeziehung, wie sie aus der Kommunikation der Burgunder hervorgeht, bleibt jedoch – von Ausnahmen abgesehen - sehr blass. Christus kommt im ganzen Nibelungenlied nur einmal vor (6), und zwar ausgerechnet bei Hagen, der mit einem „wizze krist“ („wisse Christus“) seine Vermutung unterstreicht, Siegfried sei aus wichtigen Gründen nach Worms gekommen. (103) Möglicherweise hat der Dichter um des Reimes willen statt Gott Christus eingesetzt. (krist – ist)
Den spezifisch christlichen Glauben, wie er z. B. im apostolischen Glaubensbekenntnis zum Ausdruck kommt, findet man an keiner Stelle in der Kommunikation der Burgunder.

2.2

Die kirchlichen Feste, der Sakramentenempfang und die Gottesdienste bei den Burgundern

Im Nibelungenlied werden weder Weihnachten noch Karfreitag und Ostern erwähnt, wohl aber Pfingsten, Letzteres nicht als christlicher Feiertag, sondern als weltliches Fest. In der 5. Aventiure findet an Pfingsten die Siegesfeier der Burgunder über Dänen und Sachsen statt, ebenso am Pfingstfest die Hochzeit Kriemhilds mit Etzel in Wien in der 22. Aventiure.
Es gibt keine Hinweise auf Beichte, Kommunionempfang und Firmung. Aber wir erfahren von der Taufe des Sohnes von Kriemhild und Siegfried (716) und von der des Sohnes von Kriemhild und Etzel auf Kriemhilds Drängen hin. (1388)
Nach dem Ehevollzug von Siegfried und Kriemhild und der missglückten Hochzeitsnacht von Gunther und Brünhild gehen die beiden Paare zur Messe, in der ihre Ehen in einer prunkvollen höfischen Inszenierung „gesegnet“ werden. Der Dichter betont, dass sie das tun „nâch sîten, der sî pflâgen unt man durch recht begie.“ (644/45) (nach Landesbrauch und wie es rechtens war)
Immer wieder werden Gottesdienste, meist Messen erwähnt, oft bei wichtigen Anlässen, so beim Siegesfest nach dem Sieg über Dänen und Sachsen (5. Aventiure), bei der gerade erwähnten Ehesegnung und nach der Ankunft der Xantener Gäste in Worms. (13. Aventiure) Da handelt es sich um eine Frühmesse in Abwesenheit der Hofgesellschaft zum Heil des Königs (807) und um eine Festmesse in Anwesenheit der beiden Königspaare in höfischer Pracht und vorausgehendem Glockengeläut. (811/12) – Auf den Streit der Königinnen 10 Tage später vor und nach der Vesper gehe ich später bei der Charakterisierung von Kriemhilds Frömmigkeit ein, ebenso auf die Messen im Zusammenhang mit den Trauerfeierlichkeiten nach Siegfrieds Tod und die letzte Messe der Burgunder an Etzels Hof vor ihrem Untergang.
Bei den Darstellungen der Messfeiern hat man den Eindruck, es gehe mehr um höfische Repräsentation als um Frömmigkeit, bei der letzten Messe an Etzels Hof um Demonstration von Kampfbereitschaft. – Das Verhalten der Gottesdienstbesucher wird stereotyp beschrieben:
- Sie hörten eine Messe: 813,1 + 1052,1
- Man diente Gott: 844,1
Der Nibelungenlieddichter berichtet, dass Siegfried ungeduldig das Ende der Messe abwartet, um Kriemhild wiederzusehen, als sie nach ihrer ersten Begegnung getrennt zum Festgottesdienst gegangen sind. (301,1)
Man darf jedoch aus all diesen Darstellungen nicht voreilig den Schluss ziehen, es werde ein scheinchristliches Heidentum geschildert. Es gilt zu bedenken, dass der Nibelungenlieddichter nur erzählt hat, was er für erzählenswert gehalten hat. So kann man aus der Tatsache, dass Weihnachten und Ostern nicht erwähnt werden, nicht schließen, dass die Burgunder diese Feste nicht feierten. Dass wir nichts über die Taufe des Sohnes von Brünhild und Gunther erfahren, ist kein Hinweis darauf, dass er nicht getauft worden ist. – Der häufige Kommunionempfang, die aktive Teilnahme an der Messfeier in der Muttersprache z. B. waren damals völlig unvorstellbar, die Praxis der Eheschließung vor dem Priester vor dem Ehevollzug wurde erst 1215 während des 4. Laterankonzils gefordert und setzte sich erst langsam durch. (7)
Zusammenfassend glaube ich dennoch sagen zu können, dass im Nibelungenlied der christliche Lebensvollzug hinter den Bedürfnissen der herrschenden Adelswelt deutlich zurücktritt.

2.3

Die Vertreter der Kirche,
kirchlichen Hierarchie bei den Burgundern

Wie schon dargestellt, werden im Nibelungenlied immer wieder Messfeiern erwähnt, was natürlich die Anwesenheit von Geistlichen voraussetzt. Im Zusammenhang mit den Trauerfeierlichkeiten nach Siegfrieds Tod singt man zahllose Messen, allein mehr als 100 unmittelbar vor der Beerdigung. (1054) Kriemhild bittet „pfaffen unde münche“ (Weltpriester und Mönche), mit ihr und der Dienerschaft 3 Tage und Nächte Totenwache zu halten (1056/57), was die Anwesenheit vieler Kleriker am Königshof voraussetzt. – Es werden auch Bischöfe erwähnt. So begleiten 2 Bischöfe Kriemhild und Brünhild nach der Ehesegnung zu Tisch. (658) Der Bischof von Speyer spricht gegenüber der Königinmutter Ute beim Aufbruch der Burgunder ins Hunnenland den Wunsch aus, Gott möge dort ihre „êre“ beschützen. (1508) Dass der Bischof von Speyer und nicht der von Worms bei der Verabschiedung der Burgunder anwesend ist, mag daran liegen, dass zur Zeit der Abfassung des Epos der Bischof von Worms exkommuniziert war. (8) – Häufig erwähnt wird der Bischof Pilgrim von Passau, der Bruder Utes und so der Onkel der Burgunderkönige und Kriemhilds. Es ist aber nur die Rede von seiner großen Gastfreundschaft, so gegenüber Kriemhild und den Burgundern auf ihrem Weg zu Etzel. (21. und 26. Aventiure)
Von den Geistlichen erfahren wir nur, dass sie Messen lesen. Keiner wird in seiner Funktion als Sakramentenspender, Prediger, Vermittler christlicher Werte erwähnt. Ebenso fehlt jeder Hinweis auf die kirchliche Funktion von Bischöfen. Alle sind als Nebenfiguren ohne Einfluss auf die Hauptpersonen. Man gewinnt den Eindruck, sie dienen nur zur Steigerung königlicher Repräsentanz. Eine Ausnahme bildet der Hofkaplan, auf den ich bei meinen Ausführungen zu Hagens Christlichkeit zu sprechen kommen werde.

2.4
Die Beurteilung der Königsfamilie aus christlicher Sicht

Ich habe bereits auf den häufigen Gebrauch des Wortes „Gott“ bei der Königsfamilie hingewiesen, oft formelhaft, manchmal wohl auch als Zeichen christlichen Glaubens. Was der Glaube für einen Menschen wirklich bedeutet, erkennt man an seiner Lebensweise, insbesondere in Grenzsituationen.
König Gunther wirbt um eine Frau, die nach damaliger christlicher Vorstellung mit dem Teufel im Bunde stehen musste. In der Tat bezeichnet Hagen Brünhild auf Isenstein als „des tiuveles wîp“ („des Teufels Frau“) (438), ähnlich Gunther, wenn er sagt:„«der tiuvel ûz der helle wie kund’er dâ vor genesen?»“ (442) („«Wie könnte selbst der Teufel aus der Hölle hier heil davonkommen?»“) Und Hagen noch deutlicher:„«jâ sol si in der helle sîn des übeln tiuvels brût»“. („«Ja, sie sollte in der Hölle die Braut des bösen Teufels sein.»“) (450) Nach der missglückten Hochzeitsnacht klagt Gunther gegenüber Siegfried:„«ich han den übeln tiuvel heim ze hûse geladen.»“ („«Ich habe mir den bösen Teufel ins Haus geholt.»“) (649) Spätestens während des Wettkampfes auf Isenstein müsste Gunther erkennen, dass er auf die Hilfe Siegfrieds unter dem Tarnmantel angewiesen ist, aus christlicher Sicht auf heidnische Zauberkräfte. Ein 2. Mal greift Gunther bekanntlich auf diese Zauberkräfte zurück, um den Vollzug der Ehe mit Brünhild zu ermöglichen. (651 ff.)
An keiner Stelle wird eindeutig klar, ob Brünhild eine Christin oder Heidin ist. Die offensichtlich selbstverständliche Teilnahme an Messen und vor allem an der Ehesegnung lässt den Schluss zu, dass sie eher eine Christin ist. – Nach dem bekannten Rangstreit der Königinnen vor dem Wormser Münster mit der öffentlichen Entehrung Brünhilds, will Hagen aus Rache Siegfried töten. Zwar lehnen Gunther und Giselher Siegfrieds Ermordung ab, aber schließlich stimmt Gunther zu. (14. Aventiure) Nach dem Meuchelmord belügt er Kriemhild, Räuber hätten Siegfried erschlagen. (17. Aventiure) Indem er verhindert, dass Hagen zur Rechenschaft gezogen wird, ist er mitschuldig an Kriemhilds Rache. Er – wie alle anderen Helden des Nibelungenliedes – stirbt ohne Erwartung eines Weiterlebens nach dem Tod. Die Beurteilung Gunthers aus christlicher Sicht bedarf keiner weiteren Erklärungen.
Die Königsbrüder Gernot und Giselher werden nicht in die Ermordung Siegfrieds hineingezogen. Giselher rät – wie gerade erwähnt – davon ab. Aber sie tun auch nichts, um den Mord zu verhindern und später Kriemhild beizustehen. Am Schluss geraten sie mit allen Burgundern in den aussichtslosen Kampf gegen die Hunnen und finden dabei den Tod.
Die Beurteilung Hagens und mehr noch die Kriemhilds verlangt wegen ihrer Komplexität eine ausführlichere Untersuchung.

2.4.1. Kriemhild

2.4.1.1. ihr Streit mit Brünhild
Während des Besuchs von Kriemhild und Siegfried in Worms sehen Brünhild und Kriemhild bei einem Ritterspiel zu. Kriemhild sagt zu Brünhild:„«ich hân einen man, / daz elliu disiu rîche ze sînen handen solden stân.»“ (815) („«Ich habe einen solchen Mann, dass alle diese Reiche in seiner Macht stehen sollten.»“) Diese Bemerkung führt zu einem Vergleich ihrer Ehemänner und eskaliert schnell zum Rangstreit. Aus dem Kontext geht hervor, dass beiden Frauen die Rangprobe sehr gelegen kommt. Brünhild hat die Einladung der Xantener mit dem Ziel betrieben, herauszufinden, welche Stellung Siegfried am Burgunderhof wirklich hat, (12. Aventiure) und Kriemhild hat Ring und Gürtel als Beweisstücke aus Xanten mitgebracht. – Sie schlägt Brünhild eine Rangprobe vor, und zwar beim Gang zur Vesper vor dem Münster. (827) Dort treffen die beiden Königinnen mit Gefolge aufeinander. Der Streit wird also vor der Hoföffentlichkeit vor einem Gottesdienst ausgetragen. Kriemhild behauptet gegenüber Brünhild, Siegfried und nicht ihr Bruder habe ihr die Unschuld genommen. (840) Dann tritt Kriemhild vor Brünhild ins Münster ein. (843) Nach dem Gottesdienst geht vor dem Münster der Streit der Königinnen weiter. Kriemhild zeigt zum Beweis Brünhilds Ring und Gürtel. (847 - 850)
Ich gehe nicht auf den Rangstreit und seine Folgen im Einzelnen ein, sondern beschränke mich auf die Beurteilung aus christlicher Sicht. Während in der Wölsungensaga der Streit am Fluss stattfindet, streiten sich nach dem Nibelungenlieddichter die Königinnen vor dem Münster. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass im Mittelalter vor Domportalen oft Recht gesprochen wurde, so auch vor dem Nordportal des Wormser Domes. (9)
Dort könnte man der Streit der Königinnen verorten. Es scheint mir aber durchaus plausibel, dass der Dichter vor allem zeigen wollte, wie sich die Christlichkeit auf rituelle Handlungen beschränkt, hier eine Vesper, und keinerlei Auswirkungen auf Gesinnung und Verhalten hat. Kriemhild missbraucht den Kirchgang zu einer Machtdemonstration und setzt nach der Vesper den Streit bis zur todbringenden Entehrung Brünhilds fort. Deutlicher kann man die Wirkungslosigkeit eines Gottesdienstes nicht vor Augen führen.

2.4.1.2. ihr Totenkult
Hagen lässt Siegfrieds Leiche vor Kriemhilds Kemenate legen, damit sie ihn findet, wenn sie zur Frühmesse geht, die sie niemals versäumt, wie der Dichter anmerkt. (1004) Sie weiß sofort, dass der Tote Siegfried ist, den Hagen ermordet hat. In ihrem maßlosen Schmerz denkt sie an Rache. (1012,4 + 1024) Siegfrieds Vater Sigmund und die Mannen des Ermordeten aus dem Nibelungenland wollen seine Ermordung rächen. Aber Kriemhild hält sie davon ab, bis der Mörder überführt sei und Siegfrieds Mannen stark genug. (1033)
Während in der Wölsungensaga Sigurd mit der sterbenden Brynhild nach heidnischem Brauch auf einem Scheiterhaufen verbrannt wird, schildert der Nibelungenlieddichter ein aufwendiges christliches Totengedenken. Unter Glockenläuten und dem Gesang der Geistlichen lässt Kriemhild den Leichnam ins Münster tragen. (1040) In ihrer Trauer bekennt sie gegenüber Gunther:„«Wollte Gott, es wäre mir selbst geschehen.»“ (1042,4) Diesen Todeswunsch äußert sie auch nach der ersten Totenmesse. (1056,3) Um den Mörder zu überführen, lässt sie ihre Brüder und Hagen vor die Bahre treten. Als Letzterer vor dem Leichnam steht, beginnt die Wunde stark zu bluten. Damit ist er als Mörder überführt. (1043/44) Solche Gottesurteile wie diese Bahrprobe gehen auf vorchristliche Vorstellungen zurück, nach denen die Gottheit durch außerordentliche Zeichen Schuld oder Unschuld eines Angeklagten offenbart. Gottesurteile wurden aber trotz kritischer kirchlicher Stimmen im Mittelalter beibehalten. Es kamen sogar neue Gottesurteile unter Mitwirkung der Kirche hinzu. (10) Die im Nibelungenlied geschilderte Bahrprobe ist übrigens für Deutschland der erste Beleg für diese Art von Gottesurteil. (11) – Kriemhild will Gott selbst in den Dienst ihrer Rache stellen, wenn sie ausruft:„nu lâz ez got errechen noch sîner vriunde hant.“ („Nun möge Gott es fügen, dass sich seine (= Siegfrieds) Verwandten noch eigenhändig rächen können.“) (1046)
Unter großer Anteilnahme geht man zur Totenmesse und spendet Opfergaben für Siegfrieds Seelenheil. (1048) Mit Geistlichen und Mönchen hält Kriemhild 3 Tage und Nächte Totenwache. (1056/57) Sie verschenkt große Geldsummen an Klöster und Bedürftige, ebenfalls zu Siegfrieds Seelenheil. (1053 + 1061 + 1063)
Im Rahmen einer großen kirchlichen Zeremonie wird Siegfried vor dem Münster beerdigt. Kriemhilds Trauer ist so maßlos, dass sie ohnmächtig wird und fast stirbt. (1070)
Sie bleibt in Worms zurück und wohnt in der Nähe des Münsters. Der Dichter betont ihr kirchlich-christliches Verhalten als trauernde Witwe, die immer wieder für Siegfrieds Seelenheil betet, und zwar aus innerem Bedürfnis. „si was zer kirchen gerne und tet vil güetlîchen daz. / Dâ man begruob ir vriedel wie selten si daz lie / mit trûrigem muote si alle zît dar gie. / si bat got den guoten sîner sêle pflegen.“ (1102,4 – 1103,3) („Sie ging gern zur Kirche, und zwar mit ausgesprochener Hingabe. Sehr oft suchte sie voll Trauer das Grab ihres geliebten Mannes auf und bat den guten Gott, sich seiner Seele anzunehmen.“) - Nach dreieinhalb Jahren (1106) verzeiht sie allen außer Hagen. (1115) Dieser unstillbare Rachedurst steht natürlich im Gegensatz zu ihrem so betont christlichen Verhalten als trauernde Witwe. - Als daraufhin der Hort nach Worms kommt, beschenkt sie damit Arme und Reiche und lockt unbekannte Krieger ins Land. (1127/28) Hagen befürchtet sicher zu Recht, dass Kriemhild die Beschenkten zur Rache an ihm anstiftet und versenkt daher den verbliebenen Teil des Schatzes im Rhein. (1137)

2.4.1.3. ihre Heirat mit Etzel und ihre Rache
13 Jahre nach Siegfrieds Tod (1142) kommt Rüdiger von Bechelaren als Brautwerber Etzels an den Burgunderhof. Zunächst lehnt Kriemhild jeden Gedanken an eine 2. Heirat entschieden ab. (1216 – 1220) Am nächsten Morgen nach der Messe empfängt sie in betont einfacher Kleidung Rüdiger. Der Dichter erwähnt, dass ihr Gewand von Tränen nass war. (1225 + 1228) Sie lehnt weiterhin kategorisch eine 2. Heirat ab (1238), erlaubt aber Rüdiger, am folgenden Morgen wiederzukommen. (1241) Ihr Bruder Giselher und ihre Mutter Ute raten zur Ehe mit Etzel. Der Dichter offenbart ihr Seelenleben. „Dô bat si got vil dicke füegen ir den rât, / daz si ze gebene hête golt, silber unde wât / sam ê bî ir manne, dô er noch was gesunt. [...] Si gedâhte in ir sinne: «und soll ich mînen lîp / geben einem heiden - ich bin ein kristen wîp -, / des muoz ich zer werlde immer schaden hân.»“ (1247/48) („Da bat sie Gott inständig, ihr zu ermöglichen, über Gold, Silber und kostbare Gewänder ebenso zu verfügen wie damals zu Lebzeiten ihres Mannes. [...] Sie dachte im Stillen:«Wenn ich mich einem Heiden vermählen soll, obwohl ich Christin bin, bleibt das vor der Welt für immer eine Schande.»“ Ihre Überlegungen und ihr Gebet verraten also eine gebrochene Gottesbeziehung. Sie lehnt eine Heirat mit einem Heiden nicht aus religiösen Gründen ab, sondern aus sozialen, weil es für sie eine Schande bleibe. Übrigens: die Burgunder, auch der Bischof von Passau, ihr Onkel, thematisieren an keiner Stelle dieses Ehehindernis; nur Etzel befürchtet, dass die Christin wohl kaum einen Heiden heiraten werde. (1145) - In ihrem Gebet bittet sie Gott nicht um Rat für ihre schwierigre Entscheidung, sondern um Gold, Silber und kostbare Gewänder. Am nächsten Morgen nach der Frühmesse, als Rüdiger ihr den Eid geleistet hat, ihr Leid zu rächen – auf die Einzelheiten und die Problematik dieses Eides kann ich hier nicht eingehen - stimmt Kriemhild der Ehe zu. In der Hoffnung auf die Möglichkeit der Rache an Hagen kümmert sie sich nicht mehr um das Gerede der Leute wegen ihrer Heirat mit einem Heiden. (1259) Wohl aus taktischen Gründen beklagt sie das Hindernis einer Ehe zwischen einer Christin und einem Heiden gegenüber Rüdiger, der aber ihren Einwand leicht entkräftet. „«Er hât sô vil der recken in kristenlîcher ê, / daz iu bî dem künige nimmer wirdet wê. / waz ob ir daz verdienet, daz er toufet sînen lîp? / des muget ir gerne werden des künic Etzelen wîp.»“ (1262) („«Es dienen ihm [ = Etzel]so viele Männer christlichen Glaubens, dass Euch in der Nähe des Königs niemals Heimweh überkommen wird. Vielleicht ereicht ihr, dass er sich taufen lässt? Deshalb könnt Ihr gern die Frau des Königs Etzel werden.»“) Kriemhild willigt in die Ehe ein.
In der Tat leben im Etzels Reich Christen und Heiden zusammen. Rüdiger ist ein prominentes Beispiel eines Christen an Etzels Hof. Kriemhild kann zwar Etzel nicht bekehren, setzt aber – wie schon erwähnt – die Taufe ihres Sohnes mit Etzel durch. (1388)
Am Morgen nach der Ankunft der Burgunder an Etzels Hof laden Glocken eines offensichtlich großen Gotteshauses zu einer Festmesse ein. „Si sungen ungelîche, daz dâ vil wol schein, / kristen und heiden, die wâren nicht enein.“ (1851) („Sie sangen die Messe verschiedenartig, denn es zeigte sich hierbei deutlich: Christen und Heiden stimmten nicht überein.“) Der Nibelungendichter – nebenbei angemerkt – hatte wohl keine rechte Vorstellung vom Heidentum. Auf Anraten Hagens besuchen die Burgunder mit Waffen und in Rüstung die Messe. Hagen lügt Etzel, der mit Kriemhild den Gottesdienst besucht, vor, das sei bei den Burgundern so Brauch. Sie schweigt, so dass Etzel keinen Verdacht schöpft. Der Dichter tadelt sie sehr scharf, wenn er betont, dass Etzel die Gewalteskalation verhindert hätte, hätte er die Wahrheit erfahren. „Swie grimme und swie starke si in vîent waere, / het iemen gesaget Etzeln diu rehte maere, / er het’ wol understanden, daz doch sît dâ geschach. / durch ir vil starken übermuot ir deheiner ims verjach.“ (1865) („Wie finster und wie feindlich sie ihnen gegenüberstand – wenn einer Etzel die Wahrheit gesagt hätte, so hätte dieser wohl verhindert, was doch später geschah. Wegen ihrer stark ausgeprägten Überheblichkeit hatte es ihm keiner von ihnen gesagt.“)
Kriemhild ist jetzt nur noch die kompromisslose Rächerin. Sie lässt durch Etzels Bruder die Knappen der Burgunder angreifen, die alle fallen. Daraufhin tötet Hagen den Sohn Etzels und Kriemhilds. (1961) Für den Dichter hat sie ihren Sohn mit Bedacht der Rache Hagens ausgesetzt, um Etzel in den blutigen Kampf hineinzuziehen. Der Erzählerkommentar ist eindeutig. „Dô der strît niht anders kunde sîn erhaben / (Kriemhilt ir leit daz alte in ir herzen was begraben), / dô hiez si tragen ze tische den Etzelen sun. / wie kunde ein wîp durch râche immer vreislîcher tuon?“ (1912) („Als der Kampf nicht anders begonnen werden konnte (das alte Leid Kriemhilds war in ihr Herz eingegraben), befahl sie, Etzels Sohn an die Tafel zu tragen. Wie hätte eine Frau aus Rache jemals schrecklicher handeln können?“)
Kriemhild wird zur Rachefurie. Es gelingt bekanntlich trotz der zahlreichen hunnischen Angriffe nicht, Hagen zu töten. Als sich die Burgunder weigern, Hagen auszuliefern, lässt sie die Halle über ihnen anzünden. Ein Teil von ihnen, so auch Hagen und ihre Brüder, überlebt. Da fleht Kriemhild mit Etzel Rüdiger an, die Burgunder mit seinen Mannen zu bezwingen. Rüdiger steht in einem tragischen Konflikt: er ist einerseits den Burgundern gegenüber verpflichtet, andererseits Etzel als Vasall und Kriemhild durch den ihr geleisteten Eid. Für Rüdigers Seelenkampf, in dem er mit Gott um die richtige Entscheidung ringt, bringt Kriemhild keinerlei Verständnis auf. Nur sein Eid, den sie als seine Verpflichtung auslegt, an Hagen Rache zu nehmen, zählt für sie.
Am Ende bleiben nur noch Gunther und Hagen als ihre Gefangenen am Leben. Sie fordert von Hagen die Rückgabe ihres Hortes. (2367) Als dieser auf seinen Eid hinweist, den Ort nicht zu Lebzeiten der Könige verraten zu dürfen, lässt sie Gunther töten und enthauptet eigenhändig Hagen, der ihr nach Gunthers Tod erst recht nicht den Ort angegeben hat, an dem der Schatz versteckt ist. (2369 – 2373) Daraufhin tötet Hildebrand Kriemhild, „zerhaut sie mit dem Schwert in Stücke“. (2375 + 2377)
Für unser Thema ist wichtig, dass Kriemhild im 2. Teil des Epos zweimal als Teuflin (vâlandinne) bezeichnet wird. Als sie sich beklagt, dass die Burgunder gewarnt worden sind, und den Tod dessen fordert, der sie gewarnt hat, bekennt sich Dietrich von Bern dazu, die Burgunder gewarnt zu haben und sagt:„... nu zuo, vâlandinne, du solt michs nicht geniezen lân.»“ (1748,4) („«Nun zu, Teuflin, du kannst mich ruhig dafür bestrafen.»“) - Die letzten Worte Hagens gegenüber Kriemhild lauten:„«... der sol dich, vâlandinne, immer wol verholn sîn.»“ (2371,4) („«... der [Schatz] soll dir, du Teuflin, für immer verborgen bleiben.»“

Man macht es sich zu einfach, wenn man Kriemhilds Frömmigkeit und ihren Kircheneifer als ein oberflächliches Befolgen von religiösen Verhaltensweisen abtut oder es damit erklärt, dass der Nibelungenlieddichter unkritisch religiöse Gewohnheiten seiner Zeit übernommen hat. Vielmehr weisen viele Stellen, insbesondere bei der Darstellung des Totenkultes, auf eine tiefere Frömmigkeit Kriemhilds hin. Allerdings gewinnt immer mehr ihr Bedürfnis nach Rache für die heimtückische Ermordung des geliebten Mannes überhand, zumal ihr die Sühne für die Tat eindeutig verweigert wird.

2.4.2. Hagen

2.4.2.1. seine Rolle im 1. Teil des Nibelungenliedes (1. – 19. Aventiure)
Hagen ist mit der Königsfamilie verwandt, allerdings bleibt offen, auf welche Weise. (898, 1133, 1925) Am Anfang des Epos wird er als erster Vasall genannt. Er spielt am Königshof als unentbehrlicher Ratgeber und Heerführer mit eiserner Einsatzbereitschaft die wichtigste Rolle. So ist es gerechtfertigt, ihn im Zusammenhang mit den anderen Gliedern der Königsfamilie aus christlicher Sicht zu beurteilen.
Er erscheint als besonnener, weitsichtiger Staatsmann, der entscheidend dazu beiträgt, dass Siegfried am Burgunderhof bleibt (3. Aventiure),der Gunther rät, Siegfried im Kampf gegen Dänen und Sachsen um Hilfe zu bitten (151), ebenso bei der Brautwerbung auf Isenstein. (331) Hagen kann nicht entgangen sein, dass Brünhild nur durch Siegfrieds Betrug besiegt wurde. – Als ihm Brünhild ihre Entehrung vor dem Münster klagt, gelobt er ihr sofort, Siegfried dafür zu bestrafen. (864) Er setzt seinen Mordplan gegenüber Gunther durch. Ich brauche nicht auf die Perfidie, mit der er Kriemhild dazu bringt, die verwundbare Stelle zu markieren, und auf die heimtückische Ermordung Siegfrieds einzugehen, sie sind bekannt genug. - Dreieinhalb Jahre danach rät Hagen Gunther, sich mit Kriemhild auszusöhnen, damit ihre Morgengabe, der Nibelungenhort, nach Worms kommt. (1107) Als sie damit Arme und Krieger beschenkt (1127/28), versenkt ihn Hagen im Rhein mit der Absicht, ihn später zu nutzen. (1137)
Es ist klar, dass Hagens Gesinnung und sein Handeln im 1. Teil des Epos weitgehend christlichen Moralvorstellungen Hohn spricht.

2.4.2.2. seine versuchte Ermordung des Hofkaplans
Hagen warnt vergeblich ahnungsvoll vor der Hochzeit Kriemhilds mit Etzel (1203), ebenso vor der Fahrt der Burgunder an Etzels Hof. (1461) Als aber die Könige seinen Rat missachten, veranlasst er, dass sie hochgerüstet unter seiner Leitung dorthin reisen. Unterwegs kommt es an der Donau zu einem schweren Zwischenfall, der ein bezeichnendes Licht auf Hagens Einstellung zum Christsein wirft. An einer Quelle trifft er zufällig auf 2 weissagende Frauen, mythische Wesen, Nixen. („wîsiu wîp“, „mêrewîp“) (1533 + 1535) Die eine prophezeit ihm:„«ez muoz alsô wesen / daz iuwêr deheiner kan dâ niht genesen / niwan des küneges kappelân, daz ist uns wol bekannt. / der kumet gesunder widere in daz Guntheres lant.»“ (1542) („«Es muss so sein, keiner von euch kommt mit dem Leben davon, bis auf den Kaplan des Königs, das wissen wir ganz genau. Nur der kehrt unversehrt in Gunthers Land zurück.»“) - Als Hagen die Burgunder mit einer Fähre über die Hochwasser führende Donau gesetzt hat, (1527 + 1570 – 1574) denkt er an die Prophezeiung der Meerjungfrau. „Bî dem kappelsoume er den pfaffen vant. / ob dem heilectuome er leinte an sîner hant. / des moht er niht geniezen, dô in Hagen sach, / der gotes arme priester muose lîden ungemach. / Er swang in ûz dem schiffe, dar zuo wart im gâch.“ (1575 – 1576,1) („Hagen fand den Priester bei seinem kirchlichen Reisegepäck, wie er die Hand auf das Kirchengerät stützte. Das aber sollte ihm nichts nützen. Als ihn Hagen gesehen hatte, da ging es dem armen Gottesmann schlecht. Er warf ihn über Bord; dazu trieb ihn die Eile an.“) Giselher und Gernot protestieren umsonst. Keiner kann dem Hofkaplan helfen. „des mohte dô niht wesen / wan der starke Hagene vil zornec was gemuot. / er stiez in zuo dem grunde.“ (1578) („Aber das war nicht möglich, weil der starke Hagen wütend war. Er stieß ihn sogar auf den Grund.“)
Hagen, der in der Thidrekssaga als Högni – wie erwähnt - ein Sohn der Königinmutter Oda und eines Alben, also eines mythischen Wesens ist, nimmt hier Kontakt zu solchen mythischen Gestalten auf, aus christlicher Sicht eine heidnische Praktik. Mehr noch: er hält ihre Prophezeiung für glaubwürdig und überprüft sie, indem er den Hofkaplan in der Donau brutal zu ertränken versucht. Der Kaplan wird allerdings nach Auffassung des Nibelungenlieddichters durch die helfende Hand Gottes gerettet und kann nach Worms zurückkehren, eine Stelle, an der der Dichter das Geschehen als Christ kommentiert.
Es handelt sich hier aus christlicher Sicht um eine heidnische, antichristliche Freveltat.

2.4.2.3. seine Rolle an Etzels Hof
Die Burgunder müssen nun den Zug ins Hunnenland ohne Geistlichen fortsetzen, der sie zu christlichem Verhalten ermahnen könnte. Ihr Verhalten, insbesondere das Hagens, entspricht weitgehend dem Ethos des germanischen Kriegeradels: kämpferisches Einstehen füreinander in Gefolgschafts- und Sippentreue bis in den heldischen Tod als höchste Form der Selbstbehauptung, Herausforderung des Schicksals bei Untergangsgewissheit – ein zutiefst unchristliches Ethos.
Nach ihrer Ankunft an Etzels Hof provoziert Hagen Kriemhild. In der Nacht hält er mit Volker Schildwache, und sie verhindern einen Überfall der Hunnen. Am nächsten Morgen wecken Glocken die Burgunder. Sie wollen zur Messe gehen.
Hagen befiehlt ihnen, bewaffnet und in Rüstung zum Gottesdienst zu gehen. (1852 – 1854) Und er fügt hinzu: „ «Mîne lieben herren, dar zuo mâge und man, / ir sult vil willeclîchen zuo der kirchen gân, / unde klaget got dem rîchen sorge und iuwer nôt, / und wizzet sicherlîchen daz uns nahet der tôt. / Ir’n sult ouch niht vergezzen, swaz ir habet getân, / und sult vil vlîzeclîche dâ gein gote stân; / des will ich iuch warnen, recken vil hêr. / ez enwelle got von himele, ir vernemet messe nimmer mêr.»“ (1855/56) („«Meine lieben Herren, und ihr, Verwandte und Gefolgsleute, ihr sollt bereitwillig zur Kirche gehen und dort dem mächtigen Gott eure Sorge und Notlage klagen, und seid gewiss, uns naht der Tod. Ihr dürft auch nicht vergessen, was ihr alles getan habt. Tretet andächtig vor Gott. Denn ich will euch, ihr tüchtigen Krieger, warnen: wenn Gott im Himmel es nicht anders will, so werdet ihr nie mehr eine Messe hören.»“) Am Beginn der Messe wurden schon damals die Gläubigen aufgefordert, Gewissenserforschung zu halten und Gott still ihre Sünden zu bekennen. Anschließend bat der Priester Gott um die Lossprechung. - Eindringlich mahnt Hagen in der Befürchtung ihres baldigen Untergangs die Recken zu diesem Schuldbekenntnis, auch wenn er nicht ganz ausschließt, dass Gott den Untergang verhindern könnte. Hagen als „helflîcher trôst“ (1526) („Hilfe und Zuversicht“) übernimmt hier vielleicht die Rolle des fehlenden Hofkaplans, den er ja in die Donau geworfen hat. Man könnte hier von Etzels Seelsorgerrolle sprechen. Nagel vermutet, dass der Dichter auf diese Weise verhindern wollte, dass die Burgunder ohne kirchliche Absolution in den Tod gingen. (12) – Jedenfalls steht diese Seelsorgerrolle Hagens in krassem Gegensatz zu seinem ganz anderen Reden davor und seinem Handeln danach. Er befiehlt ja vorher den Burgundern, in Rüstung und Waffen zur Kirche zu gehen und lügt dem ahnungslosen Etzel vor, niemand habe ihnen etwas angetan, das sei bei den Burgundern so Brauch, was Kriemhild – wie schon dargestellt - durch ihr Schweigen bestätigt. (1863/64) Hagen und Volker behindern provokativ Kriemhild und ihr Gefolge beim Eintritt in die Kirche. (1866/67) Und nach dem Kirchgang beim Turnier sticht Volker absichtlich einen Hunnen nieder. (1886 ff.) Daraus, dass Hagen konsequent in der Ihr- und nicht in der Wir-Form spricht, kann man vermuten, dass er selbst gar nicht mit in die Kirche geht. Hagen, könnte ich mir vorstellen, betrachtet diese Messe wie ein heidnisches Ritual als Versuch, die Gottheit gnädig zu stimmen, ohne dass man sich zumindest bemüht, sein Leben zu ändern.
Am nächsten Morgen beginnt die Gewaltspirale mit dem Mord an den Knappen auf Betreiben Kriemhilds und der brutalen Enthauptung des Sohnes von Etzel und Kriemhild durch Hagen als Vergeltung.
Mit Ausnahme seiner Reaktion auf Rüdigers Schildgabe, dem er Gottes Lohn wünscht - ich habe diese Stelle bereits interpretiert - und den er nicht angreift, kämpft Hagen als Führer der Burgunder und als Vasall der Könige heldenhaft, bis nur noch er und Gunther am Leben sind. Man kann von einem Kampf Gottloser sprechen, für die christliche Werte keine Rolle spielen. Als Kriemhild nach der Ermordung Gunthers von ihm den Schatz verlangt, antwortet er trotzig:„«den schaz den weiz nu niemen wan got unde mîn: / der sol dich, vâlandinne, immer wol verholn sîn.»“ (2371) („«Den Schatz, den weiß jetzt niemand – außer mir und Gott. Der soll dir, du Teufelsweib, auf immer verborgen bleiben.»“) Daraufhin schlägt sie ihm den Kopf ab. Ist das „got unde mîn“ eine bloße Verstärkung im Sinne von „ich ganz allein“ oder macht Hagen hier Gott zum Komplizen seines Hortraubes? Er nennt jedenfalls zum Schluss Kriemhild Teufelsweib. Etzel dagegen bedauert seinen Tod und nennt ihn „den allerbesten Ritter.“ (2374)


3. Kurzer Hinweis auf die Handschrift C und die „Klage“

Es gibt über 30 Handschriften bzw. Fragmente des Nibelungenliedes. Neben der Handschrift B, auf die ich mich beschränkt habe, spielt die Handschrift C eine wichtige Rolle. In ihr werden neben Hagen auch Brünhild und den Burgunderkönigen Schuld am Tod Siegfrieds zugewiesen. Hagen wird am Ende des Epos unterstellt, als Gipfel von Treulosigkeit habe er Gunther dem Tod preisgegeben. (13) Kriemhild wird dagegen aufgewertet. Wiederholt wird in dieser Fassung betont, dass sie nur Hagen zur Rechenschaft habe ziehen wollen. Aber der böse Teufel habe bewirkt, dass es alle Burgunder getroffen habe, so ein Erzählerkommentar. (14) Auch fehlt die Stelle aus der C-Fassung, wo der Erzähler betont, dass Kriemhild bewusst ihr Kind opfert, um Etzel in ihre Rache an Hagen mit hineinzuziehen.
Das Nibelungenlied endet bekanntlich in einer Katastrophe. Offensichtlich bestand beim Publikum um 1200 das Bedürfnis, das Geschehen aus christlicher Sicht zu werten und zu erfahren, wie es nach der Katastrophe weiterging. Das versuchte die „Klage“ zu leisten, ein Epos, das fast allen Nibelungenhandschriften beigefügt ist. (15) Die Schuldzuweisung an Hagen wird weiter verstärkt, Kriemhild dagegen wird in Schutz genommen. Sie habe aus Liebe und Treue gehandelt, niemand habe das Recht, sie zu verurteilen. - Hier wird das Geschehen durch überirdische Mächte bestimmt, durch Gott und Teufel. Der „übermuot“ (der Hochmut) der Burgunder habe Gottes Zorn auf sie gezogen. Kriemhild sei nur Gottes Werkzeug gewesen. (16)
So viel als Hinweis auf die Handschrift C und die „Klage“.


4.

Mögliche Rezeption des Nibelungenliedes in seiner Zeit aus christlicher Sicht

Schon der bekannte Nibelungenliedforscher Andreas Heusler verspottete um 1920 die Versuche, im Nibelungenlied eine beherrschende Idee zu finden. Immer wieder wurden das Epos als Ganzes oder einzelne Personen einseitig gedeutet. Bekannt ist die Verherrlichung Hagens als unübertroffenes Beispiel für Gefolgschaftstreue bis in den Tod oder seine Dämonisierung, Hagen als Sinnbild des hinterhältigen Verrats in der Dolchstoßlegende. Heute umstellt mittlerweile ein Gebirge von Interpretationen den Text. Immer wieder haben Interpreten versucht, die widerständige Textstruktur zu harmonisieren oder zu funktionalisieren. Sie haben sich nicht eingestehen wollen, dass es im Nibelungenlied Motivationsdefizite gibt, dass das Epos sich bemüht, divergente mündliche Überlieferungen eines Sagenstoffes im kulturellen Horizont seiner Zeit, d. h. um 1200, darzustellen, was nicht ohne Brüche möglich war. (17) - Es kann von mir daher keine Gesamtdeutung des Epos erwartet werden. Im Anschluss an meine Ausführungen im Hauptteil will ich lediglich darzustellen versuchen, wie möglicherweise Christen um 1200 das Nibelungenlied verstanden haben.
Wenn man auf diese Zeit zurückblickt, darf man hinter den hohen Idealen höfischer Gesittung, dem Leitbild des christlichen Ritters, der Prägung durch das Christentum und seine Reformbewegungen die Wirklichkeit nicht aus dem Blick verlieren. Wem um 1200 Unrecht zugefügt wurde, konnte nur in den wenigsten Fällen damit rechnen, dass ihm eine höhere Instanz zu seinem Recht verhelfen konnte. In der Regel mussten er und seine Sippe selbst eine Wiedergutmachung bzw. Sühne fordern, notfalls mit Gewalt ihr Recht erzwingen. So war das Fehdewesen entstanden, das in dieser Zeit immer wieder zu Kleinkriegen führte. Die fehdeartige Selbsthilfe störte den Frieden in der politischen Gemeinschaft. Daher versuchten die Herrscher durch Landfriedensgesetze, die Kirche durch Anordnung von Gottesfrieden immer wieder, wenigstens bestimmte Orte, bestimmte Personengruppen, bestimmte Zeiträume, insbesondere kirchliche Feiertage vor Fehdehandlungen zu schützen. Die Wirkung dieser Maßnahmen war allerdings eher begrenzt. (18)
Als Spezialfall muss die Blutrache erwähnt werden z. B. als Reaktion auf die Tötung eines Familienangehörigen, die im Mittelalter in weitem Umfang als Rechtseinrichtung anerkannt war. Das Königtum, unterstützt von der Kirche, suchte sie durch zu leistende Sühne zu ersetzen. Doch erst mit dem allmählichen Ausbau der öffentlichen Gewalt und dem Aufkommen amtlicher Verbrechensverfolgung konnte die Blutrache als Rechtseinrichtung beseitigt werden. (19)
Bittere Realität für die Menschen um 1200 waren die immer wieder aufflammenden Streitigkeiten zwischen Papsttum und Kaisertum, zwischen Staufern und Welfen bis zu blutigen Auseinandersetzungen, die Thronwirren nach dem plötzlichen Tod Heinrichs VI. 1197 bis zu ihrem vorläufigen Ende 1208, die in Deutschland zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führten. - Die Erfolge der Kreuzfahrer standen in keinem Verhältnis zu den Blutopfern, die sie in den eignen Reihen forderten. Möglicherweise wussten viele um 1200 von unvorstellbaren Grausamkeiten wie denen der christliche Ritter nach der Eroberung Jerusalems 1099 oder wie denen von Kaiser Heinrich VI. gegenüber aufständischen Adligen in Sizilien.
Walther von der Vogelweide beklagt in seinem bekannten Spruchgedicht „Ich saz ûf eime steine“, das in der Zeit der Thronwirren nach 1197 entstanden ist, diese Situation. Dort heißt es:
„jâ leider desn mac niht gesîn,
daz guot und weltlich êre
und gotes hulde mêre
zesamene in ein herze komen.
stîg und wege sint in benommen:
untriuwe ist in der sâze,
gewalt vert ûf der strâze,
fride unde reht sint sêre wunt.
die driu enhabent geleites niht, diu zwei enwerden ê gesunt.“

„Aber zu unserem Leid kann das nicht sein,
dass Besitz und Ehre in der Welt
und dazu Gottes Gnade
zusammen in ein Herz kommen.
Weg und Steg ist ihnen verbaut,
Verrat lauert im Hinterhalt,
Gewalttat zieht auf der Straße,
Friede und Recht sind todwund;
bevor diese beiden nicht gesunden, haben die Drei keine
Sicherheit.“

Um 1200 sind bekanntlich die Länder Europas christianisiert. 1181 war der Neubau des Wormser Doms vollendet, der weitgehend der heutigen Gestalt entsprach, mächtiges Zeichen christlichen Glaubens, christlichen Lebens. Konnte man damals die von mir geschilderten Missstände dagegen nicht als Folgen einer Missachtung christlicher Wertvorstellungen beklagen? Das Neue Testament fordert ja bekanntlich nachdrücklich zur Nächstenliebe, ja sogar zur Feindesliebe (u.a. Matthäus 5,43 – 48), zum Verzicht auf Rache auf (u.a. Matthäus 5,38 – 42, Paulusbrief an die Römer 12,17 – 19) und verurteilt damit die maßlose Durchsetzung eigener Interessen (z.B. Macht, Besitz, Ehre). Schauten die Menschen um 1200 im Nibelungenlied vielleicht wie in einen Spiegel und erkannten, wohin es führt, wenn man zwar seinen religiösen Pflichten gewissenhaft nachkommt (z.B. Kriemhilds christliches Totengedenken), aber christliche Wertvorstellungen grob missachtet, wenn es um politische Notwendigkeiten, die eigene Ehre und Rache geht?
Auf die Themafrage, ob die Burgunder im Nibelungenlied Heiden oder Christen sind, gibt es – wie meine Ausführungen gezeigt haben - keine einfache Antwort. Ich würde sagen, sie sind äußerlich durchaus Christen, aber im Innern eher Heiden.
Und spiegelt das Nibelungenlied vielleicht nicht auch – sicher, ohne es zu beabsichtigen – die Burgunder der kriegerischen Auseinandersetzungen zur Zeit der Völkerwanderung wider, als sie erst allmählich zu einer tieferen Aneignung christlicher Werte gelangten?


Literaturangaben


(alle Zitate der ab 2006 gültigen amtlichen Regelung der Rechtschreibung und Zeichensetzung angepasst.)

Textgrundlage
Grosse, Siegfried: Das Nibelungenlied - Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor, ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert, Stuttgart: Reclam, 2003 – Diese Ausgabe fußt auf der St. Gallener Handschrift B. Ich zitiere nach der Strophennummerierung dieser Ausgabe

Sekundärliteratur
Bihlmeyer, Karl: Kirchengeschichte, 2. Teil: Das Mittelalter, neubesorgt von Hermann Tückle, 15. Aufl. – Schöningh: Paderborn, 1955
Bönnen, Gerold: Die Blütezeit des hohen Mittelalters: Von Bischof Burchard zum Rheinischen Bund, in: Bönnen, Gerold (Hrsg.): Geschichte der Stadt Worms, Theis: Stuttgart, 2005 S. 133 - 179
Breuer, Jürgen: Die Burgunden und ihr Wormser Hof im Nibelungenlied, in: Bönnen, G. und Gallé V. (Hrsg.): Die Nibelungen in Burgund, Verlag Stadtarchiv Worms, 2001 S. 25 – 49
Ehrismann, Otfrid: Nibelungenlied, Epoche – Werk – Wirkung, Beck: München, 1987
Hennig, Ursula (Hrsg.): Das Nibelungenlied nach der Handschrift C, Tübingen 1977
Heinzle, Joachim: Die Nibelungen: Lied und Sage, Primus: Darmstadt, 2005
Kaiser, Reinhold: Die Burgunder, Kohlhammer: Stuttgart 2004
Henkel, Nikolaus: Die Nibelungenklage und die *C-Bearbeitung des Nibelungenliedes, in: Heinzle, Joachim / Klein, Klaus / Obhof, Ute: Die Nibelungen: Sage – Epos – Mythos, Reichert Wiesbaden 2003 S. 113 - 133
Lexikon des Mittelalters, Artemis: München und Zürich, Bd. 2, 10. Lieferung 1983; Bd. 4, 10. Lieferung, 1989; Bd. 5, 1991
Nagel, Bert: Das Nibelungenlied, Hirschgraben, Frankfurt/Main, 2. Aufl. 1970
Oberste, Jörg: Der Schatz der Nibelungen - Mythos und Geschichte, Lübbe: Bergisch Gladbach, 2008
Panzer, Friedrich: Das Nibelungenlied: Entstehung und Gestalt, Kohlhammer: Stuttgart, 1955
Schork, Josef: Zu den spätantiken Anfängen des Christentums im Raum Worms, in: Bönnen, G. - Reuter, Fr. – Spille, I. (Schriftleitung): Der Wormsgau, Wissenschaftliche Zeitschrift der Stadt Worms und des Altertumsvereins Worms, 21. Bd. 2002, S. 7 - 17
Walther von der Vogelweide: Gedichte – Mittelhochdeutscher Text und Übertragung, ausgewählt und übersetzt von Peter Wapnewski, Fischer Bücherei: Frankfurt/Main und Hamburg, 1962


Anmerkungen


1. Kaiser S. 29
2. Breuer S. 27 ff.
3. Schork S. 11
4. Kaiser S. 148/49
5. nach Kaiser S. 149
6. Grosse S. 753
7. Ehrismann S. 132
8. Ehrismann S. 167
9. Bönnen S. 162/63 + 177
10. Bihlmeyer S. 136/37
11. Panzer S. 360/61
12. Nagel S. 215
13. Henkel S.128/29 + C 2428*
14. Henkel S. 129 + C 1756/57, 1947, 2143*
15. Oberste S. 120
16. Henkel S. 119 + 129
17. Die Ausführungen über die Interpretationsschwierigkeiten habe ich mit Ausnahme der Hinweise auf Hagen der Monographie von Heinzle S. 101 - 105 entnommen.
18. Lexikon Bd. 4 S. 331 – 334 (Fehde), Bd. 5 S. 1657/58 (Landfrieden)
19. Lexikon Bd. 2 S. 289/90 (Blutrache)
20. Walther von der Vogelweide S. 124/25, zur Datierung und Deutung S. 247 und 249/50

* Die Strophenangaben der Handschrift C
beziehen sich auf die bei der Sekundärliteratur angegebene Werkausgabe von U. Hennig.