Das Siegfriedbild
in Lodemanns Nibelungenroman

von Hans Müller



.....
Sigurd (Siegfried) nach Rackham, 1910 ..


1.
Einleitung
1.1

Hinweise auf Facetten des Siegfriedbildes
in den literarischen Bearbeitungen und in der Rezeption des Nibelungenstoffes
1.2
Kurzbiographie von Jürgen Lodemann
2. Hauptteil: Das Siegfriedbild in Lodemanns Nibelungenroman von 2002
2.1 Siegfrieds Lebensweg im Überblick
2.2 Die Personenkonstellation am Burgunderhof
2.3 Die Erzählperspektive des Romans
2.4 Besondere Züge in Siegfrieds Persönlichkeitsstruktur
2.4.1 Seine ungewöhnliche Kraft und sein Heldenmut
2.4.2 Seine Lernbegierde
2.4.3 Sein Vermitteln innovativer Techniken
2.4.4 Seine Naturverbundenheit
2.4.5 Seine Friedensbereitschaft
2.4.6 Seine Beziehung zu Frauen
2.4.7

Seine Geringschätzung von Macht und Besitz,
so dass er zum
Hoffnungsträger für das einfache Volk wird
2.4.8 Sein Jesusbild
2.4.9 Seine Auseinandersetzung mit dem Wormser Bischof als Vertreter der Romkirche
2.5 Die Gründe für seine Ermordung
2.6 Siegfried als Exponent einer heidnischen naturnahen ganzheitlichen Keltogermanenkultur
3.

Schluss: Gedanken zur Beurteilung des Werkes
unter Berücksichtigung der Anmerkungen Lodemanns im Roman



1. Einleitung

1.1.

.. Hinweise auf Facetten des Siegfriedbildes
in den literarischen Bearbeitungen und der Rezeption des Nibelungenstoffes

Als 2002 zum ersten Mal Rinkes Nibelungenstück vor dem Wormser Dom durch Dieter Wedel aufgeführt wurde, war so mancher Zuschauer entsetzt, wie Siegfried dargestellt wurde, was Leserbriefe in der Wormser Zeitung deutlich bestätigten. Diese Zuschauer hatten offensichtlich ein sehr einseitiges Bild von Siegfried, während das Siegfriedbild im Nibelungenlied sehr facettenreich ist. Da wird der Königssohn aus Xanten nach sorgfältiger Ausbildung zum Ritter geschlagen, zieht dann nach Worms an den Burgunderhof, um dort um Kriemhild zu minnen, gewinnt durch seine Erscheinung und durch außerordentliche Heldentaten ihre Liebe und herrscht mit ihr nach der Heirat in Xanten.

Er ist aber auch der manchmal unüberlegte jugendliche Kraftmeier. So soll er zwei Königssöhnen den Nibelungenhort teilen, die ihm dafür im Voraus das Schwert Balmung schenken. Da sie sein Teilungsvorschlag erzürnt, schlägt er sie kurzerhand tot, mit ihnen 12 Riesen und bringt 700 Krieger in seine Gewalt. Dann überwindet er den Zwerg Alberich, dem er den Tarnmantel entreißt und zum Bewacher des unermesslichen Nibelungenschatzes macht, der nun ihm gehört. Außerdem tötet er einen Drachen, in dessen Blut er badet, so dass er bis auf eine Stelle hinter der Schulter unverwundbar wird. (3. Aventiure) Auch im Krieg gegen die Dänen und Sachsen beweist er Kampfeswut und Gewaltbereitschaft. (4. Aventiure) Noch unmittelbar vor seiner Ermordung auf der Jagd stellt er eindrucksvoll seine Stärke unter Beweis, indem er eine große Zahl von Großwild erlegt. (16. Aventiure)

Besonders „fragwürdig“ ist sein Verhalten Brünhild gegenüber. Im Nibelungenlied wird zwar nicht erzählt, dass Siegfried vor seiner Ankunft in Worms mit Brünhild in Beziehung getreten ist, aber vieles deutet darauf hin. - Bekanntlich besteht er im Tarnmantel für Gunther den Dreikampf und gewinnt so für ihn Brünhild, nachdem er vorher vor ihr ausdrücklich Gunther als seinen „Herrn“ bezeichnet hat. Ein zweites Mal muss er Gunther beistehen, und zwar nach der Hochzeit. Er bezwingt Brünhild im Tarnmantel und raubt ihr ihren Gürtel, den er Kriemhild weitergibt. Nun hat Brünhild ihre übernatürliche Kraft verloren. – Hebbel hat in seiner Nibelungentrilogie die unerhörte psychische und physische Gewalt hervorgehoben, die Siegfried Brünhild angetan hat. Dies hat Karin Beier in ihren beiden Inszenierungen der Hebbeltrilogie vor dem Wormser Dom 2004 und 2005 besonders deutlich werden lassen.

In der nordischen Überlieferung, wichtigste Quelle für Wagners „Ring des Nibelung“, gibt es mehrere andere Varianten des Siegfried-Brünhild-Verhältnisses. Hier sei nur erwähnt, dass er in der Wölsungen- und Thidrekssaga Brünhild gegenüber eindeutig eidbrüchig wird, weil er ihr die Heirat durch Eid versprochen hat, aber eine andere Frau heiratet.

Besonders interessant ist die Tatsache, dass in der nordischen Thidrekssaga Sigurd – so heißt dort Siegfried – ein als Säugling ausgesetzter Königssohn ist, der von einer Hinde gesäugt und aufgezogen wird. Der Schmied Mimir nimmt ihn bei sich auf und wird zu seinem Lehrmeister.
Anfang des 19. Jahrhunderts, nach der Wiederentdeckung der Nibelungenhandschriften, wurde der kampfgewaltige Siegfried zum Vorbild für den Kampf gegen Napoleon, immer wieder Ermutigung im Kampf gegen die Franzosen. So wurden deutsche Grenzwälle im 1. und 2. Weltkrieg Siegfried-Linien genannt. - Schon 1830 versucht übrigens ein Gelehrter nachzuweisen, dass der Cheruskerfürst Arminius, der 9 nach Chr. die Römer vernichtend schlägt, zum Siegfried des Nibelungenliedes wird. (a) Diese in Fachkreisen umstrittene These erhielt in letzter Zeit weite Verbreitung durch einen ausführlichen Spiegelartikel (14.05.05) und durch 2 Dokutainments im Fernsehen. (Arte am 25.11.07 + ZDF Terra X am 23.12.07) In Lodemanns Roman ist Siegfried ein Nachkomme des Arminius.
Es ist nur folgerichtig, dass nach der Katastrophe des 2. Weltkrieges Siegfried als Kriegsheld ausgedient hatte. Es entstanden ganz andere Siegfried-Bilder, so das von Rinke in seinem Stück „Die Nibelungen“, 2002 in Worms uraufgeführt, und das in den Nibelungenromanen von Jürgen Lodemann, am deutlichsten in seinem letzten Nibelungenroman, der ebenfalls 2002 erschien, mit dem ich mich näher beschäftigen werde.

1.2. Kurzbiographie von Jürgen Lodemann

1936 in Essen geboren, studierte er nach dem Abitur in Freiburg u.a. Philosophie, Germanistik und Geographie. Er schloss sein Studium mit dem Staatsexamen ab und promovierte über Lortzing, über den 2001 eine Biographie von ihm erschien. Er war sehr vielseitig tätig: als Journalist, Essayist und als Theater- und Romanschriftsteller und nahm mehrere Lehraufträge an Universitäten wahr. Beim Südwestfunk Baden-Baden war er bis 1995 Redakteur und Moderator der Fernsehreihen Literaturmagazin und Café Größenwahn. Ihm war es maßgeblich zu verdanken, dass 1975 im Südwestfunk die Antibestsellerliste „Bestenliste“ aus der Taufe gehoben wurde. - Von 1995 bis 2005 lebte er in der irischen Atlantikstadt Galway, seit 2005 wohnt er in Freiburg und Essen. (b)

Mit dem Nibelungenthema hat sich Lodemann lange auseinandergesetzt. 1986 erschien sein Roman „Siegfried“, der bereits die meisten Umdeutungen der späteren Fassungen enthält. 1995 verlegte die Büchergilde Gutenberg eine Neufassung unter dem Titel „Der Mord“. Neu war die sehr kunstvolle Erzähltechnik - die Multiperspektivität - und die in Rot in den Text eingefügten Anmerkungen des Verfassers, ebenso die Illustrationen durch Erhard Göttlicher. Schließlich erschien 2002 die wohl letzte Ausgestaltung des Stoffes unter dem Titel „Siegfried und Krimhild.“ Das 886 Seiten umfangreiche Buch, das keine Illustrationen enthält, kann als Überarbeitung des Romans von 1995 angesehen werden. Es kam noch im gleichen Jahr auf Platz 1 der Bestenliste des SWR. 2005 erschien der Roman in einer text- und seitengleichen Taschenbuchausgabe.

Jürgen Lodemann ist in Worms kein Unbekannter. 1995 stellte er die illustrierte Ausgabe des Nibelungenromans in einer Lesung in der Stadtbibliothek vor. Beim Wormser Symposium 1999 zur Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes hielt er einen Vortrag mit dem Thema „Die Nibelungen oder Europa – Fundstücke beim lebenslangen Herstellen einer genauen Fassung des Epos“. 2003 erschien ein Essay von Lodemann im Wormsgau mit dem Titel „Worms – Deutschlands europäische Kulturstadt.“ Seinen neuen Nibelungenroman stellte er 2002 in der Wormser Buchhandlung Gondrom vor und las Auszüge daraus im gleichen Jahr im Rahmen der Nibelungenfestspiele im Café Schmitz in Worms. Im 1. Band der Nibelungenedition „Siegfried – Schmied und Drachentöter“, erschienen 2005 im Worms-Verlag, steuerte er unter dem Titel „Siegfried – politisch, aktuell“ einen Beitrag bei.


2. Das Siegfriedbild in Lodemanns Nibelungenroman von 2002

Für die nun folgenden Ausführungen gilt, dass es sich auf Grund der Romanlänge und der deutlichen Tendenz zu Wiederholungen im Rahmen eines Vortrags bei den meisten Belegen nur um eine kleine subjektive, aber – wie ich hoffe – repräsentative Auswahl handeln kann.

2.1. Siegfrieds Lebensweg im Überblick

Siegfried, geboren 462, ist der Sohn des Cheruskerkönigs Sigmund, der in Xanten residiert und mit den Vertretern der christlichen Religion paktiert, und seiner Frau Sieglind, die mit ihrem Mann in Streit lebt. Sie ist eine cheruskische Priesterin, die mit Naturheilmitteln Kranke heilt und sich meist im Teutoburger Wald aufhält, z.B. an den Externsteinen. Ihr Sohn Siegfried ist ein Nachfahre des Cheruskerfürsten Arminius, der 9 nach Chr. die Römer vernichtend geschlagen hat. Siegfried hat eine enge Beziehung zu seiner Mutter. Als er mit 14/15 Jahren erfährt, dass der Bischof von Köln Verträge mit seiner Mutter gebrochen hat, zieht er, mit einer Eisenstange bewaffnet, nach Köln, um Rache zu nehmen. Dort wird er in eine wüste Rauferei verwickelt und halbtot von einem Mönch in sein Kloster auf der Siegburg gebracht und gesund gepflegt. Die Mönche würden ihn gern im Kloster behalten, aber er will die Kunst des Schmiedens von Waffen und Rüstungen lernen. So gelangt er an die Ruhr, wo heute Essen liegt, und lernt in 3 Jahren bei dem zwergenhaften Schmied Alberich, dem Albenkönig, den Vorteil der Steinkohle kennen und schmiedet sich Panzerhemd, Helm und Schwert Balmunk(!). Der Drache Nidgir, der am Drachenfels im Siebengebirge haust und viele Schätze besitzt, die er von den Schiffern als Wegezoll erpresst hat, hört Siegfrieds Schmiedehammerschläge und schleppt sich dorthin, um ihn zu töten. Alberich in der Tarnkappe will Siegfried vom Kampf abhalten, aber Siegfried nimmt ihm die Tarnkappe und tötet den Drachen mit großer Körperkraft und mit List, zu der ihm Baldinai, die Elfentochter Alberichs, rät. Mit ihr badet er sich im Drachenblut und wird bis auf eine Stelle unverwundbar. Er reitet zum Drachenfels und erwischt Alberich, der das Rheingold des Drachen ins Gebirge schaffen lässt. Siegfried hält ihn fest. Alberich lügt ihm vor, er finde Baldinai im Nordmeer, und beschreibt ihm den Weg. Siegfried merkt, dass Alberich ihn belügt und tötet ihn. Das Rheingold lädt er auf 12 Schiffe und fährt nach Island, wo er statt Baldinai Brünhild trifft, zu der er durch einen Feuerwall gelangt. Da Brünhild ihm einen Zaubertrank reicht, wird er ihr Bräutigam für eine Nacht, aber am nächsten Morgen verlässt er sie, um Rom kennen zu lernen, verspricht ihr aber, wiederzukommen. – Nun verbringt er 3 Jahre in Rom, wo er römische Kriegskunst, römisches Recht und die Romkirche kennen lernt. (Mit Romkirche bezeichne ich wie Lodemann das vom Papst in Rom geprägte und vom Wormser Bischof vehement vertretene Christentum.) Er kommt auch nach Alexandrien. Nach der Rückkehr verjagt er in Xanten die Verbündeten seines Vaters, die Römer, und stellt ihn 7 Wochen in einem Käfig aus. Dann fährt er mit 12 Schiffen, 500 Mann und dem Rheingold nach Worms, da er von der schönen Krimhild geträumt hat. (Wenn von der Königsschwester im Roman die Rede ist, schreibe ich den Namen wie Lodemann ohne e, sonst wie üblich mit e) Dort kommt er Weihnachten 485 an.
Viele Burgunder haben sich in der Gegend um den Genfer See niedergelassen. In Worms leben neben dem König Gunther, seinen Geschwistern Gernot, Giselher und Krimhild, der Königinmutter Ute noch Hagen und der Bischof Ringwolf, die untereinander Vettern sind und auch Vettern Gunthers und seiner Geschwister. Offensichtlich gibt es nur noch wenige Burgunder in Worms. Die meisten Wormser sind kahlköpfige keltische Dienstleute, wenn nicht Sklaven.

Die Beziehung zwischen Siegfried und Krimhild ist Liebe auf den ersten Blick.

Er besiegt für die Burgunder die Sachsen und Dänen. Für Gunther ist er bereit, mit nach Island zu fahren, um ihm bei der Werbung um Brünhild beizustehen. Siegfried bezwingt dort nicht nur die Flammenwand, sondern besteht in der Tarnkappe für Gunther auch die 3 bekannten Wettkämpfe. Die Vorgänge bei der Doppelhochzeit lehnen sich eng ans Nibelungenlied an: der gefesselte Gunther an der Wand hängend – Siegfrieds erfolgreicher Kampf in der Tarnkappe gegen Brünhild, der er den Gürtel raubt, den er dann Krimhild weitergibt. Der Streit der Königinnen findet im Gegensatz zum Nibelungenlied am nächsten Tag statt: vor und nach dem Hochzeitsgottesdienst mit den bekannten Folgen. Krimhild markiert die verwundbare Stelle auf Siegfrieds Jagdgewand. Am nächsten Tag – kurz vor Karfreitag – ermordet Hagen Siegfried an einer Quelle. Nach der Bestattung Siegfrieds schreit Giselher in die Stille „Diese beiden Herren haben es getan. Der Bischof hat es gewollt und der andere ....“, weiter kommt er nicht, denn Hagen schlägt ihn nieder. (S. 20) Er fordert Giselhers Tod, doch Gunther will ihm im Gefängnis bis Pfingsten Bedenkzeit geben. Wenn er als Missionar zu den Sachsen gehe, werde das Todesurteil aufgehoben. Giselher weigert sich, bleibt weit über Pfingsten im Gefängnis, erlebt, wie der Nibelungenschatz im Rhein versenkt wird, wie Krimhild im nächsten Jahr Etzels Heiratsantrag annimmt und zur Hochzeit ihre Brüder und Hagen einlädt. Giselher darf mitkommen in Etzels Land, verlobt sich mit Rüdigers Tochter und kommt wie im Nibelungenlied mit allen Burgundern um.

2.2. Die Personenkonstellation am Burgunderhof

König Gunther ist ein völlig unfähiger König, beherrscht die Amtssprache Latein nur rudimentär, stets unentschlossen und nach dem Königinnenstreit konzeptlos. Giselher nennt ihn unseren „Zwaraber“ und „Wirr-König“ (z.B. S. 713). Er ist nur von einem brennenden Wunsch beseelt, nämlich dem, Brünhild möglichst bald zu seiner Frau zu machen, wovon ihn niemand und nichts abhalten kann.

Siegfried ist ihm dabei ein unentbehrlicher Helfer und seine Schwester Krimhild der dafür versprochene Lohn. – Gernot, der mittlere Bruder des Königs, spielt im Roman nur eine Nebenrolle im Gegensatz zu seinem jüngsten Bruder Giselher. Er ist genauso alt wie Siegfried, hat im Kloster Lorsch, in Rom und Konstantinopel Theologie studiert, steht aber in kritischer Distanz zur Romkirche. Giselher ist auch im Rheinland herumgekommen, hat in Köln, auf der Siegburg und in Krähwinkel, dem heutigen Krefeld, die Erzählungen von Siegfried und Brünhild erfahren und liebt die Geschichten und Gesänge der einfachen Leute (S. 11), die die Romkirche als heidnisch ablehnt. Er erzählt vor der Ankunft Siegfrieds am Königshof von ihm und Brünhild, sympathisiert von Anfang an mit ihm, wehrt sich vehement, aber erfolglos gegen Hagens Plan, Siegfried zu ermorden, und entlarvt – wie schon dargestellt – den Mörder, woraufhin er zum Tod verurteilt und ins Gefängnis geworfen wird.

Auf der Seite Siegfrieds steht ebenfalls der irische Mönch Kilian Hilarus, von den einfachen Leuten Wunnibald genannt. Er lebt zwar mit anderen irischen Mönchen in einem Kloster in den Vogesen, kommt aber häufig an den Wormser Hof. Er vertritt ein weltoffenes Christentum, das dem naturmythischen Denken nicht feindlich gegenübersteht und die Freuden des Diesseits bejaht.
Besonders stark in heidnischen Vorstellungen verhaftet ist die blinde Königinmutter, die Krimhild Träume deutet und über Zaubersprüche verfügt.

Der Gruppe um Siegfried – Krimhild, Giselher, der Königinmutter Ute und dem irischen Mönch Kilian – stehen Hagen und der Wormser Bischof gegenüber.

Hagen, ein Vetter des Königs und seiner Geschwister, hat dem sterbenden König Gundomar geschworen, seine Kinder zu beschützen. (z.B. S. 661) Er ist Heermeister (u.a. S. 20) und versteht sich auch als Diplomat, der in Rom studiert hat und Latein perfekt beherrscht. Er träumt von einem Großreich im Norden unter Führung der Franken und Burgunder als Gegengewicht zum Reich Theoderichs des Großen. Zu diesem Zweck will er unbedingt Krimhild mit dem Franken Chlodwig verheiraten. Siegfried macht bekanntlich diese Heiratspläne zunichte. Als Heermeister fühlt sich Hagen durch Siegfried zudem degradiert.

Ein zweiter noch wichtigerer Gegenspieler Siegfrieds ist im Roman als Wormser Bischof der „Kirchenfürst“ (u.a. S. 19) Ringwolf. 480 hat ihn Papst Simplicius als Bischof nach Worms geschickt, damit er bei den „Teufelsgläubigen“ im „finsteren Norden Europas“ – damit sind neben den Burgundern auch die Alamannen und Sachsen gemeint – „Christi Botschaft entflamme.“ Als Zeichen seiner besonderen Hochachtung nennt der Papst ihn „Rumoridus Rusticulus – ländliche Volkstimme“ und überreicht ihm die Hälfte eines Steines, den Magdalena am Ostermorgen im Felsengrab, in dem Jesus bestattet worden war, gefunden hat. (S. 30) Zu diesem Stein wird er immer greifen, wenn er sich angegriffen fühlt. Lodemann hat keine Mühen gescheut, aus diesem Bischof ein Scheusal zu machen. Er ist dick und fett, stinkt immer nach ranzigem Otternfett und trägt stets schmutzige Kleidung. Rabiat geht er gegen einen irischen Mönch vor, der predigt, auch in Satans Schattenreich leuchte ewiges Gotteslicht. Vor aller Augen lässt er ihn hinrichten, indem ihm ein Holzpfahl mit dem Schmiedehammer in den „elenden Dämonenleib“ getrieben wird. (S. 38/39) Seine Missionierung beschränkt sich im Roman darauf, gegen alles zu wettern, was auch nur von ferne als heidnisch einzustufen ist, und eine extreme Diesseitsverachtung zu predigen. Seine Frauenverachtung und damit im Zusammenhang die Beurteilung der Sexualität hat pathologische Züge.

Hier nur wenige Beispiele für seine Einstellung: Er beschwört öffentlich: „Erweist Ehre der heiligen und förmlichen Leibesverdammumg und dem heiligen ausführlichen Urteil der Leibesverdammung durch die Väter der heiligen Kirche.“ (S. 180) - Am Abend der Hochzeitsfeier belehrt er Gunther darüber, was „Chrysostomos, dieser in fast allem erleuchtete Hirte unserer heiligen Kirche“ den Männern riet:„Was ist das Weib anderes als die Feindin der Freundschaft und Vernunft. Eine natürliche, also teuflische Versuchung ist sie. Ein ergötzlicher Schade. Eine Prüfung, ein Abgrund in Gottes Menschenschöpfung.“ (S. 264/65) Er erklärt, das lateinische Wort für Frau „femina“ komme von „fe“ = Glauben und „minus“, bedeute also: weniger Glaube. (S. 265) – Lüstern befragt er in einer Art Beichtgespräch Krimhild über ihre Sexualpraktiken mit Siegfried. Sie übertreibt wohl, um den Bischof zu reizen. Seine Reaktion:„Auch Eheleute versinken [...] in erbärmliche Unwissenheit, wie Schweine im Dreckstall. – [...] Es wäre immer noch besser, wenn eine Tochter mit ihrem Vater auf natürliche Weise Verkehr hätte als mit ihrem Ehemann wider die Natur, also außerhalb des «Gefäßes», in das der Same nach göttlichem Willen hineingehört. Alles Außerhalb dient ausschließlich der Lust, ergo der Höllenglut.“ (S. 297) Was ihn noch unsympathischer macht, ist die Tatsache, dass er seine Lavinia zu Hause hat (S. 31) und bei aller Predigt über die notwendige Verachtung diesseitiger Güter versucht, einen Teil des Rheingoldes heimlich an sich zu bringen. (S. 641)

Hagen verspottet den Bischof immer wieder, so nennt er ihn z.B. „Schwindler, Ohrenkitzler und Glaubensgaukler.“ (S. 30) Er zitiert spottend viele Stellen aus den Schriften der Kirchenväter mit Äußerungen extremer Leibfeindlichkeit, die der Bischof nicht entkräften kann.

2.3. Die Erzählperspektive

Die – wohlgemerkt - fiktive Chronik Giselhers über die Zeit von der Ankunft Siegfrieds in Worms bis zu seiner Ermordung entstand während Giselhers Gefangenschaft. Er fügte auch die Vorgeschichte bei, soweit er sie selbst erfahren hatte. Da er am Königshof in dieser Zeit stets präsent war und guten Kontakt zu Siegfried hatte, nach der Ankunft Brünhilds mit der Alberichtochter Baldinai in Verbindung stand, verfasste er eine Art Augenzeugenbericht. Er wollte keine Chronik zur Verherrlichung des Königs schreiben, sondern zu erklären versuchen, warum Siegfried umgebracht wurde. (S. 15) Abgesehen von einigen Zitaten z.B. des Bischofs schrieb er nicht in Latein, sondern in der „Leutesprache“, d.h. dem damaligen Deutsch. Der Mönch Kilian schmuggelte die Chronikteile aus dem Kerker in sein Kloster in den Vogesen. Kilian begleitete den Zug der Burgunder in den Untergang und fügte einen eigenen Bericht darüber der Chronik bei. Dem Untertitel des Romans lässt sich das weitere wohlgemerkt fingierte Schicksal der Chronik entnehmen. Aus den Vogesen brachte der irische Mönch alles in seine Heimat, wo er es ins Keltische übersetzte, dabei aber die lateinischen Passagen ebenso im Original beließ wie z.B. von Giselher beigefügte althochdeutsche Zaubersprüche. Der Engländer Schazman –natürlich auch eine Fiktion - übersetzte im 19. Jahrhundert diese keltische Chronik ins Englische, beließ ebenfalls die lateinischen und althochdeutschen Stellen, fand aber keinen Verleger. Schließlich gelangte das schazmansche Manuskript an Lodemann, der es ins Deutsche übersetzte und mit Anmerkungen versah, auf die ich später eingehen werde.

So kompliziert und auf den ersten Blick verwirrend das alles ist, es bleibt festzuhalten, dass konsequent aus der Perspektive Giselhers erzählt wird, dessen Sympathie und Antipathie, wie die Darstellung der Erzählperspektive gezeigt hat, deutlich verteilt ist. Und der Romanerzähler steht ebenfalls auf Siegfrieds Seite.

2.4. Besondere Züge in Siegfrieds Persönlichkeitsstruktur

2.4.1. Seine ungewöhnliche Kraft und sein Heldenmut
Wie im Nibelungenlied zeichnet sich der bei Lodemann gut 2 m große Siegfried (S. 260) durch seine ungewöhnliche Kraft und seinen Heldenmut aus. Giselher nennt ihn einen Riesen. (S. 387) Für Hagen ist er wiederholt ein Kraftklotz (S. 81, S. 180, S. 711), mehrmals wird er deutscher oder diutisker Herkules genannt. (S. 81, S. 177, S. 370, S. 388) Schon als 14- bis 15-jähriger zieht er furchtlos - mit einer Eisenstange bewaffnet - zum Bischof von Köln, um das der Mutter zugefügte Unrecht zu rächen, unterliegt allerdings vorher bei Händeln. (S. 52 ff.) Ohne geeignete Waffen überwältigt er Alberich unter der Tarnkappe und zwingt ihn, ihm seine Schmiedekünste beizubringen. (S. 68 ff.) – Mit Rüstung, Helm und Schwert, alles von ihm geschmiedet, kämpft er gegen Alberich, der ihm die Tarnkappe überlassen muss. Dann greift er den Drachen Nidgir an, auf den er riesige Felsbrocken schleudert und dem er schließlich von unten den Bauch aufschlitzt. Beim Baden im Drachenblut wird er unverwundbar bis auf eine Stelle hinter dem Zwerchfell. (S. 79 ff.) – Später tötet er Alberich, indem er ihn gegen eine Felswand schmettert. (S. 104) Für die Burgunder tötet er ohne fremde Hilfe nacheinander 12 ostfälische Recken, die ihn angreifen. (S. 238 – 242)
Auf dem Weg zu Brünhild trennt er auf Island mit einem einzigen Schwertstreich einem Eisbären, der Gunther zu töten droht, den Kopf vom Rumpf. (S. 392) Für Gunther besteht er in der Tarnkappe, die ihm im Gegensatz zum Nibelungenlied nicht einmal zusätzliche Kräfte verleiht, die bekannten Wettkämpfe Brünhilds und bezwingt sie im Hochzeitsbett.
Nach dem Streit der Königinnen wütet der „Berserker“ mit geradezu übermenschlichen Kräften auf dem Turnier- und Festplatz gegen alles und alle, die ihm vor die Füße kommen, von den „edelsten Herrschaften“ bis zu den Marktleuten. (S. 637 ff.)
Auf der Jagd vor seiner Ermordung fängt er mit bloßer Hand Großwild, zuletzt einen Bären, den er schließlich wie den Eisbären in Island mit einem Schwertstreich tötet. (S. 679 ff.)

2.4.2. Seine Lernbegierde
Während im Nibelungenlied Siegfried eine für das 12. Jahrhundert typische Ritterausbildung erfährt, wird Sigurd – so heißt Siegfried in der Thidrekssaga – von einem Schmied erzogen. Lodemann stellt ausführlich dar, wie sein Siegfried darauf drängt, bei dem besten Schmied in die Lehre zu gehen, um die neuesten Technologien im Herstellen von Waffen und Rüstungen zu erlernen. Bei Alberich lernt er meisterhaft, mit Hilfe von Steinkohle einen Stahl mit einer ganz neuen Qualität herzustellen. – Wie aus seinem Wirken in Worms hervorgeht, muss er dort oder in Rom weitere Verwendungsmöglichkeiten für Stahl kennen gelernt haben.
Aus mehreren Quellen weiß Giselher, weshalb Siegfried auf Anraten der Mutter für 3 Jahre nach Rom gegangen ist und auch nach Alexandrien. (S. 106, S. 125) Am Anfang seiner Chronik schreibt er von Siegfried:„In Wirklichkeit war er intelligent und einfallsreich, einer, der die Dinge der Welt nicht nur liebte, sondern auch mit gutem Verstand durchschaute. [...] Der Xantener hatte in Rom gelernt und hatte begriffen, wie die Macht operiert, wie die geistlichen und die weltlichen Herren einander in die Hände arbeiten.“ (S. 21-22) Wie später in der Auseinandersetzung mit dem Bischof deutlich wird, kommt er durch sein profundes Studium in Rom und wohl auch in Alexandrien zu der Erkenntnis, dass die Romkirche aus machtpolitischen Gründen die ursprüngliche Botschaft Jesu verfälscht habe. - Folgerichtig nennt ihn der Bischof abschätzig „Kenntnisklotz“ (S. 180)

2.4.3. Sein Vermitteln innovativer Techniken
Aus dem Ruhrgebiet bringt er Steinkohle mit. Er gibt den Burgundern seine Schmiedekünste weiter, baut mit ihnen die Hammerschmiede Alberichs nach, die vom Fluss angetrieben wird. Dabei legt er selbst Hand an. Siegfried zeigt den Burgundern nicht nur, wie man bessere Waffen herstellt, sondern auch, wie man den Stahl nutzen kann für Pflugscharen, Hufeisen und Bänder um die Wagenräder aus Holz. (S. 280 ff.)
Er lässt auch eine Stahlkette schmieden, die er von einer Rheinseite zur anderen spannen kann, um die feindseligen Dänen mit ihren Schiffen auffahren  zu lassen. „Mit all seinen Handwerkskünsten“ macht er sein Hauptschiff für die Fahrt nach Island im Januar seetauglich. (S. 322)
Er plant auch ein Amphibienfahrzeug und eine Verbindung von Rhein und Donau durch einen Kanal (S. 183), aber die Verwirklichung scheitert an seiner Ermordung nach einem Aufenthalt von 3 Monaten in Worms.

2.4.4. Seine Naturverbundenheit
Immer wieder werden die Römer im Roman als Waldfresser oder Waldverwüster bezeichnet – nicht nur von Siegfried. (Siegfried: S. 359, die Unfreien am Burgunderhof: S. 18, Sieglind: S. 125, die Nymphe Baldinai: S. 518, Ute: S. 659) Siegfried beschuldigt das Kloster Lorsch, die Wälder zu roden (S. 233), und ist entsetzt, dass der Drache Nidgir auf seinem Weg vom Siebengebirge zur Ruhr in den Wäldern eine Schneise der Verwüstung hinterlassen hat. (S. 100)
Während der Bischof Siegfried verächtlich Waldbarbar nennt, attestiert Giselher Siegfried und Brünhild bewundernd Baumkraft. (S. 429)
Als Hagen heimtückisch die Ermordung Siegfrieds kurz vor Ostern vorbereitet, wird Siegfrieds Verbundenheit mit der Natur besonders deutlich. Er freut sich, dass die Jagd noch am gleichen Tag beginnen werde. Nach seinem Wutanfall benötige er „Falkenluft, Waldluft, Jagdluft“ in „wunderbarem Frühlingswetter.“ (S. 665) Er fängt ohne Hilfsmittel viele Tiere, die er aber im Gegensatz zum Nibelungenlied nicht tötet. Auf die Frage Giselhers, weshalb er das gefangene Wild wieder laufen lasse, antwortet er:„Irgendwann [...] ist unser Wald leergeplündert bis auf zwei kranke Tauben und ein lahmes Einhorn.“ Und Giselher fügt in seiner Chronik hinzu:„Er lachte und es schien, als wollte er die Bäume umarmen.“ Siegfried endet mit einem lateinischen Ausspruch, den Lodemann ins Deutsche übersetzt:„Deine herrlich schöne Welt, herrliche Schönste, ergreife ich, damit du sie gibst.“ (S. 679)
Siegfried stirbt an einem idyllischen Ort. Es heißt:„Wo die Lichtung sich öffne zu einer Wiese und wo jetzt in der Ferne die letzten Sonnenstrahlen den höchsten Baumwipfel träfen, dort, unter jener hellgrün leuchtenden Frühlingsesche am Ende er Wiese, da wisse er [gemeint ist: Hagen] eine Quelle.“ (S. 689/90) Sie laufen zur Quelle „über einen Frühlingsteppich“. (S. 691)
Der Bischof verbietet die Bestattung im Münster. So wird er „vor den Toren in die Frühlingserde“ an einer jungen Esche im „Frühlingslicht“, unter der „Ostersonne“ beigesetzt. (S. 723-724) Die Beerdigung entspricht ganz seiner Einstellung zur Romkirche, wie ich noch zeigen werde, und vor allem seiner Naturverbundenheit.

2.4.5 Seine Friedensbereitschaft
In den nationalistischen Vereinnahmungen des Nibelungenliedes wird Siegfrieds ständige Kampfbereitschaft hervorgehoben, das Töten zahlreicher Gegner ruft offenbar bei ihm keine Gewissensbisse hervor. Im Nibelungenlied wird betont, dass Siegfried hart, aber fair kämpft, lieber Gegner gefangen nimmt als sie zu töten und die Besiegten ohne hohe Tributzahlungen ziehen lässt.
Diese Seite von Siegfrieds Persönlichkeit wird bei Lodemann weiter verstärkt. So fehlt sein Kampf gegen Schilbung und Nibelung und die 12 Riesen und damit ihre Tötung. Giselher weiß aus Erzählungen, dass Siegfried den Drachen aus Notwehr tötet, auch, dass Alberich nur unter Zwang bereit ist, Siegfried seine Schmiedekünste beizubringen (S. 68), offensichtlich mit dem Drachen gemeinsame Sache macht, bis ihm Siegfried kämpfend die Tarnkappe wegnimmt. (S. 84), Schließlich belügt ihn Alberich über Island, so dass er ihn - bis aufs Äußerste gereizt - tötet. (S. 104)
Für die Burgunder zieht Siegfried in den Krieg gegen die Sachsen. Ihre Vorhut, 12 Ostfalen, beschimpfen Siegfried auf übelste Weise. „Da geriet der Zorn auf beiden Seiten in solche Glut, dass kein Zurück mehr blieb.“ (S. 240). Im „Wutrausch“ (S. 240) tötet er die 12 Angreifer nacheinander. Nach dem Kampf verfällt er jedoch in eine tiefe Depression. Er nennt das Kämpfen „Hirnkrampf“, „Kampfkrampf“, „Wutkrampf“, es lasse sich nicht mit dem Namen vereinbaren, den er sich selbst gegeben habe, „Victor Placidus“ (S. 245/46)), von Lodemann in den Anmerkungen mit „Friedfertiger Sieger, Siegfried“ übersetzt. (S. 126) Er bestattet die Toten ehrenvoll. Dann weigert er sich, die Sachsen feige aus dem Hinterhalt zu überfallen, will zu ihrem Herzog gehen, die Sachsen zum Rückzug bewegen, andernfalls im Zweikampf den Herzog kampfunfähig schlagen, woraufhin die Sachsen sicher abziehen würden. Zu Gunther sagt er:„Für einen neuen Massenmord nach Roms imperialer Art habt ihr in mir keinen Genossen.“ (S. 251) Siegfried gelangt zu dem Sachsenherzog, erkennt in ihm einen Schmiedegesellen aus seiner Zeit bei Alberich, sie bekräftigen ihre Freundschaft, und es kommt nicht zum Kampf. Siegfried setzt zur Friedenssicherung durch, dass sich die Sachsen südlich von Frankfurt ansiedeln dürfen. (S. 250)
Die Dänen, die rheinaufwärts auf ihren Schiffen nach Worms vordringen wollen, lässt Siegfried auf die durch den Rhein gespannte Kette auffahren, zwingt den Dänenherzog durch Beschimpfung zum Zweikampf heraus, schlägt ihn aber nur kampfunfähig und schließt mit ihm sogar Freundschaft. Die Dänen ziehen daraufhin in ihr Land zurück. So vermeidet Siegfried zum 2. Mal großes Blutvergießen. (S. 307 ff.)
Seine Aggressivität gegen alles und alle nach dem Königinnenstreit lässt sich natürlich nicht mit seinem Eintreten für Gewaltfreiheit vereinbaren, auch wenn er keinen tötet. Aber danach macht er sich heftige Selbstvorwürfe. (S. 665)
Diese Friedensbereitschaft Siegfrieds in Lodemanns Roman, im Nibelungenlied im Keim angelegt, steht also deutlich in krassem Widerspruch zum gängigen Siegfriedbild nationalistischer Vereinnahmungen.

2.4.6. Seine Beziehung zu Frauen
Während im Nibelungenlied die Beziehung Siegfrieds zu Kriemhild den Vorstellungen der höfischen Minne um 1200 entspricht und sein Verhältnis zu Brünhild kaum problematisiert wird, gibt Lodemann Siegfrieds Verhältnis zu Frauen sehr differenziert wieder, auch sein frag-würdiges Verhalten Brünhild gegenüber.
Die erste Beziehung Siegfrieds zu Frauen ist die zur Alberichtochter Baldinai, einer Elfe. Sie hat ihm im Kampf gegen den Drachen gute Ratschläge gegeben. Giselher berichtet am Burgunderhof, was er von Geschichtenerzählern erfahren hat:„Kaum habe der Sieglindsohn die glänzende Schöne erblickt, da sei er in Entzücken geraten und habe sie ergriffen. [...] Mit ihr hat er sich hinuntergewälzt in den See, in den brodeligen bunten Schlamm zog er sie wie sie ihn, und beide haben sich darin vergnügt und im Eintauchen fest umschlungen und sich so, in dieser Umarmung, «gefreit».“ (S. 94) Giselher weiß auch zu berichten, dass Siegfried am Rücken nicht unter der Schulter, sondern hinter dem Zwerchfell verwundbar geblieben sei. Dort habe Baldinai ihn nämlich heftig festgehalten. (S. 94/95) Krimhild bestätigt gegenüber Hagen Siegfrieds Verwundbarkeit an dieser Stelle. (S. 664) – Baldinai entzieht sich ihm jedoch schließlich.
Auf der Suche nach ihr fährt er nach Island, trifft dort aber auf Brünhild. Über seine Beziehung zu ihr gibt es im Roman mehrere Versionen. Siegfried selbst gesteht gegenüber Gunther auf der Fahrt nach Island:„Bei meinem ersten Besuch hat mich die Rantochter [gemeint ist Brünhild] berauscht. Nicht nur mit ihrer Schönheit. Auch mit anderen Mitteln. So dass ich sagen darf, sie hat mich betrogen.“ (S. 367) Gemeint ist offensichtlich ein Trank, der die „gelüstigsten männlichen wie weiblichen Wonne-Organe“ stimuliert, wie es Giselher erfahren hat. (S. 122) An mehreren Stellen, u.a. Gunther gegenüber, bekräftigt er, dass er Brünhild kein Versprechen gemacht habe, wiederzukommen. Sie sehe das möglicherweise anders. (S. 364)
Der Text legt nahe, dass Siegfried nach Worms kommt, um um Krimhild zu werben. Bei der Ankunft in Worms verspottet er die Burgunder, die ihn nicht willkommen heißen. Nur Krimhild geht auf ihn zu. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Beide geben ihren Gefühlen deutlich Ausdruck. (S. 173/74)
Für seine Vermittlung technischer Fertigkeiten und seine Hilfe im Kampf gegen die Sachsen verlangt er unumwunden schon am ersten Tag Krimhilds Hand. (S. 185). Nach einigem Zögern verspricht Gunther seine Schwester Siegfried, wenn er die Sachsen bezwinge und für ihn Brünhild gewinne. Siegfried ist sofort einverstanden und führt daraufhin Krimhild vom Frauentisch zum Herrentisch. (S. 193) Noch am gleichen Abend küssen sich beide vor dem ganzen Hof. (S. 205) Krimhild verfasst vor dem Schlafengehen einen Brief an Siegfried mit der Botschaft, „dass ich ihm ohne weiteren Verzug zu Willen bin.“ Giselher soll den Brief auf Siegfrieds Bett legen. Wenn dann Siegfried zu ihr kommt, - so vertraut sie Giselher – „vereinigt sich die Seele wie der Leib des Mädchens mit ihm, und deine Schwester wird ihn über die Maßen lieben. Was auch immer geschieht, ich werde mein Verlangen an ihm ersättigen. Denn schön sind meine Brüste, die nur ein wenig hervorstehen und maßvoll schwellen, aber voller Begierde.“ (S. 226) Im weiteren Verlauf des Romans wird deutlich, dass Krimhilds Wünsche von Siegfried voll erfüllt werden.
Auch wenn sich Siegfried Brünhild gegenüber nicht verpflichtet fühlt, so bleibt die Art, wie er durch arglistige Täuschung Brünhild für Gunther gewinnt, ein schweres Vergehen ihr gegenüber.

Als Gunther seine Schwester Siegfried zur Frau gibt, lehnen sie ausdrücklich den Segen des Bischofs ab und bekennen sich - für den Hof provozierend – zueinander. (S. 463)
Bevor Siegfried schweren Herzens Gunther zuliebe Brünhilds Kraft im Schlafgemach bricht, versichert er Gunther, er benötige keine Nebenfrau. Frauenbesitz sei ihm so zuwider wie Frauenliebe lieb. Die Liebe zu Krimhild gehe ihm über alles. (S. 509)
Nach der Überwindung Brünhilds im Schlafgemach raubt er ihr den Gürtel und gibt ihn Krimhild, ohne ihr eindeutig zu sagen, dass er nicht mit Brünhild geschlafen habe. Krimhild muss aus Siegfrieds Verhalten jedoch falsche Schlüsse ziehen. (S. 596) Giselher sind die Motive für Siegfrieds Verhalten gegenüber Brünhild unklar. Auf jeden Fall stehe es in Widerspruch zu seinem sonstigen respektvollen Verhalten Frauen gegenüber. (S. 633/34)
Nach dem Streit der Königinnen wütet Siegfried bekanntlich gegen alles und alle, aber nicht gegen Krimhild, die er nach dem Nibelungenlieddichter gezüchtigt hat. (15. Aventiure) Als er nach dem Wutanfall zu Krimhild geht, gesteht er ihr:„Das Toben, Krimhild, das glaub mir, wütete gegen mich selbst. Nichts hasse ich so wie Dummheit. Am meisten bei mir selber.“ (S. 667) Siegfried will ihr später alles in Ruhe erklären, aber vorher wird er heimtückisch ermordet. Mit Worten und Gesten großer Zärtlichkeit verabschiedet er sich von Krimhild, bevor er zur Jagd geht. Seine letzten Worte zu ihr:„Lebe mit Lust.“ (S. 673) - Sterbend empfiehlt er Krimhild der Fürsorge Giselhers. (S. 694)

Das Verhältnis zur Elfe Baldinai und zu Krimhild ist also von großer Sinnlichkeit bestimmt, das zu Krimhild offensichtlich auch von großer Zärtlichkeit. Am Hof setzt er für Krimhild durch, dass sie sich an den Herrentisch setzen darf. So unterscheidet sich Lodemanns Siegfried deutlich von dem des Nibelungenliedes.
Krimhild und Brünhild dagegen zeigen im bekannten Königinnnenstreit, dass sie sich letztlich durch die Macht ihrer Männer definieren.

2.4.7. . Seine Geringschätzung von Besitz und Macht,
so dass er zum Hoffnungsträger für das einfache Volk wird

Im Nibelungenlied ist Siegfried als Besitzer des Nibelungenhortes unendlich reich. Der Hort spielt bis zu Siegfrieds Tod kaum eine Rolle. Als er mit Kriemhild nach Xanten zurückkehrt, herrscht er dort als mächtiger und strenger, aber gerechter König. (11. + 12. Aventiure) Der Gebrauch seines Reichtums und seiner Macht wird an keiner Stelle problematisiert.
Ganz anders bei Lodemann. Der erfolgreiche Kampf gegen den Drachen Nidgir ist auch ein Kampf gegen das, was er symbolisiert, nämlich die Raffgier. Zwar nimmt Siegfried den Drachenschatz an sich, aber er bedeutet ihm nicht viel. Das wird schon am ersten Tag Siegfrieds in Worms deutlich. Als Gunther die gegenseitige Liebe zwischen Siegfried und seiner Schwester deutlich wird, fragt er ihn stotternd, ob er ihm nicht als „Entgelt“ für seine Schwester die Steinkohle und den Hort überlassen wolle. Siegfried verhöhnt Gunther und fährt dann fort:„Alle 12 Schiffsladungen könnt ihr euch von nun an einverleiben, wenn ihr unbedingt wollt, o doch, nehmt sie euch, rafft sie, nicht nur das Anthrazit, sondern auch alles andere, Nidgirs komplettes ptolemäisches Krempelgerümpel, endlich bin ich sie los, die verfluchte Fracht, ich Wicht im Glück.“ (S. 205/06) Dass er das ernst meint, zeigt die Tatsache, dass er vor der Fahrt nach Island den ganzen Hort in die Keller der Burg der Burgunder schaffen lässt. (S. 323)
So wie er den Besitz geringschätzt, bedeutet für ihn auch Machtausübung wenig. In den vielen heftigen Auseinandersetzungen mit dem Bischof – ich komme darauf noch genauer zu sprechen – legt er die Machtmechanismen am Burgunderhof offen dar und kritisiert sie, meist in der Volkssprache, so dass die Dienerschaft am Hof, das einfache Volk, sie weiterträgt. (S. 278/79) Beliebt ist er bei den einfachen Leuten auch durch seine Friedenspolitik, die ihnen die üblichen Opfer bei Kriegen erspart. So heißt es ausdrücklich von ihm nach dem Frieden mit den Sachsen:„Die niederen Leute setzten auf den künftigen Ehegemahl der Krimhild viele wunderbare Hoffnungen.“ (S. 261) Auch scheut er sich nicht, sich unter die Leute zu mischen. „Der Mächtigste“ arbeitet mit Handwerkern zusammen und bringt ihnen neue Techniken bei. (S. 283)

So verwundert es nicht, was Giselher in Spelunken über Siegfried hört. Der wiedererstandene Arminius habe große Pläne. Er plane ein Reich, in dem weder Groß noch Klein regierten, in dem keiner mehr nach Besitz gieren müsse. (S. 286). - Kurz vor seinem Tod fragt ihn Giselher:„Stimmt es, was die Leute munkeln [...]? Dass du die Elenden freikämpfen wirst? die Unterdrückten, die belogenen Betrogenen? als ein neuer Spartacus?“ (S. 680)
Siegfried versteht sich jedoch nicht als Revolutionär, sondern als einer der Freiheitslust und Gerechtsein zusammenbringen wolle. (S. 680)
Schon am Anfang seiner Chronik schreibt Giselher in einer Art Vorschau:„Die Leute hier am Rhein, die Unfreien, die keltischen Versklavten in Worms, all diese «Deutschen» hatten gehofft, mit dem Niederländer sei einer gekommen wie vormals Spartacus oder der cheruskische Arminius.“ (S. 24) Wie schon dargestellt, ist Siegfried in der Tat ein Nachfahre von Arminius.

2.4.8. Sein Jesusbild
Offensichtlich hat sich Siegfried in Rom und Alexandrien ausführlich kritisch mit dem Christentum auseinandergesetzt. Sein Jesusbild stellt er in seinen heftigen Auseinandersetzungen dem des Bischofs deutlich entgegen. So ist für ihn Jeschu – so nennt er ihn in Anlehnung an den hebräischen Namen – einer, der versprochen habe, alle Welt frei zu machen, die Herren dieser Welt ebenso wie die dienenden Leute. Und er zitiert das Jesuswort aus Johannnes 8,32:„Die Wahrheit wird euch frei machen.“ (S. 179) – Schon bei seiner Geburt – so Siegfried – hätten „vergnügte Luftgeister“, „Himmelsfeen und Luftsylphen“, „Wonneengel“ allen, die Jeschu folgen würden, „große Freude“ im Diesseits und „Frieden auf Erden“ geweissagt, und zwar allen Völkern, auch den einfachen Leuten. (S. 473) So deutet Siegfried die Weihnachtsbotschaft aus dem Lukasevangelium. - Nach dem Untergang der benebelnden Priester der Romkirche, komme allen Unfreien und allen Frauen das freie Wohlgefallen, das der Jeschu ihnen versprochen habe, prophezeit er seiner Frau bei ihrem letzten Zusammensein. (S. 673) Konsequent lehnt er die Nachfolge des Leidenden und Gekreuzigten ab.
Typisch für sein Jesusbild ist eine Episode, die großes Aufsehen erregt. Er lässt einen selbst gebastelten Flugdrachen hochsteigen, an dem als Gewicht ein freundlich lächelnder Jeschu hängt. (S. 281/82)
Für ihn ist Jeschu natürlich kein Gottessohn, sondern ein Menschensohn. (S. 476), auch nennt er ihn einen wohltätigen Fabulierer. (S. 331)
Nach Giselher „ist Jesus einer gewesen, der nie an Gehorsam dachte, sondern an Befreiung. Nie und nimmer wünschte er sich Macht. Als der Teufel ihn versuchte, hat er alles Machthaben zurückgewiesen.“ (S. 24) Ein solcher Befreier habe Siegfried werden können. (S. 23) Die Tatsache, dass Siegfried am Weihnachtstag nach Worms kommt und kurz vor Karfreitag ermordet wird, lässt sich als Hinweis auf seine Jesusnähe interpretieren.
In seiner Predigt am Grab führt der irische Mönch Kilian aus:„Der Gekreuzigte litt, damit wir leben mit Wohlgefallen und so klug und gern wie dieser hier, den ich für einen wirklichen Jesusfreund halte.“ (S. 722)

2.4.9. Auseinandersetzung mit dem Wormser Bischof als Vertreter der Romkirche
Den Roman durchziehen bis zu Siegfrieds Tod heftige Auseinandersetzungen zwischen dem Bischof und Siegfried. Dafür gibt es viele Gründe. Siegfrieds Verhalten Krimhild gegenüber ist den Sexualvorstellungen des Bischofs diametral entgegengesetzt. Der Bischof nennt Siegfried z.B. vor Krimhild einen Lusteber (S. 296). Auch sein Jesusbild steht in krassem Widerspruch zu den Lehrsätzen der Konzilien, auf die sich der Bischof beruft. Hinzu kommt Siegfrieds stolzes Festhalten an seinen heidnischen Wurzeln – ich komme noch darauf zu sprechen. So tut der Bischof alles, was er von den Erzählungen der Leute über Siegfried von Giselher erfährt, geringschätzig als Ausgeburten verworrener heidnischer Vorstellungen ab.
Siegfrieds Kritik ist auch deshalb so erbittert, weil für ihn die Romkirche entscheidend zur Zementierung der Macht beiträgt, die Siegfried so gering schätzt. Dieser Vorwurf wird in einem Gespräch zwischen Hagen und dem Bischof vor Siegfrieds Erscheinen am Hof bestätigt. Hagen zum Bischof:„Trennen sollst du, herrschen werde dann ich. Zertrenne du die Geister von den Leibern. Die Weisheit von den Weibern. Mit dem Zertrennten operiere dann ich. [...] Auf Untertänigkeit und Gehorsam zu achten ist dann meine Sache.“ (S. 42) - Bevor Giselher seine Chronik über Siegfrieds Wirken in Worms beginnt, schreibt er vorausdeutend:„ Siegfried hat blitzartig erhellt, wie von Jerusalem aus und von der Heiligkeit des rein Geistigen die imperiale Weltverachtung über die Welt kam, die Leidenslust und die Hörigkeit und die Unterwürfigkeit. Mit denen die neue Kirche seitdem jeder Herrschaft die nützlichsten Dienste tut.“ (S. 141)

Ich kann aus Zeitgründen nur wenige Beispiele bringen, die aber die Heftigkeit und die Eskalation der Auseinandersetzung verdeutlichen.
Gestützt auf sein Jesusbild und die kritische Auseinandersetzung mit der Kirchengeschichte treibt er den Bischof immer wieder in die Enge. So wirft Siegfried dem Bischof vor:„Je tiefsinniger die neuen Herren die Abkehr von der Welt preisen, desto gnadenloser plagt sie der Ehrgeiz, sich ihrer dennoch zu bemächtigen. [...] Von Eurer Gerissenheit und List mit den Mächtigen verratet Ihr uns lieber nichts?“ Und er fügt hinzu, von kritischen Römern habe er gehört, „je eifriger die neuen Hirten die Weltlust leugneten, desto tückischer wüchse ihnen die Machtlust.“ (S. 221) - Als Gunther seine Schwester Siegfried zur Frau gibt, lehnen sie nicht nur ausdrücklich den Segen des Bischofs ab, sondern Siegfried verwickelt den Bischof in langwierige Diskussionen über Sexualmoral.
Hinzu kommen Siegfrieds Beleidigungen des Bischofs, sein Zynismus ihm gegenüber bis hin zu groben Entgleisungen. So fallen in der Diskussion mit dem Bischof am Abend der Heirat zur Bezeichnung der Romkirche, der Kleriker und der Gemeinden Ausdrücke wie „Höllenvermeidungsgemeinde“ (S. 480), „Alleinseligmachende Angstbeamten“ (S.484), „Seelenquäler“ und „Strafapotheke“ (S. 485)  Schon am ersten Abend in Worms pöbelt er den Bischof mit folgenden Worten an:„O wunderbarer Kullerpriester [eine Anspielung auf dessen Bauch], wir könnten Freunde werden. Falls nicht, so schenk ich dich meiner Mutter, die hängt dich zum Trocknen in den Wind und liest aus deinen Eingeweiden Roms künftige Wege.“ (S. 170)
Schließlich brüskiert er den Bischof durch Handlungen, die treffsicher gegen ihn gerichtet sind. - So lässt er vor dem Hochzeitsamt einen Drachen steigen, der offensichtlich den Bischof verspotten soll. Er spricht von seinem „Gegenhochamt“. (S. 617) Während des Gottesdienstes küsst er nicht den Stein des Bischofs, sondern spuckt darauf. (S. 623) - Die Auseinandersetzungen gipfeln in Siegfrieds Wutanfall nach dem Königinnenstreit, als er den Bischof erwischt, wie er sich Schätze des Drachenhortes aneignen will. Er hält ihn über den Kanal, der die Fäkalien der Burg in den Rhein spült. Als der Bischof, für Siegfried unbefriedigend, ein zu allgemeines Bekenntnis seiner schändlichen Gesinnung und seiner Machenschaften ablegt, wirft er ihn in den Kanal und zieht ihn erst unmittelbar vor dem Ertrinken heraus. (S. 641 - 643) Hier wird deutlich, welch abgrundtiefer Hass gegenüber dem Bischof sich bei Siegfried aufgestaut hat.

2.5. Die Gründe für seine Ermordung

Im Nibelungenlied geht die Absicht, Siegfried zu ermorden, von Hagen aus. Er will auf diese Weise die Ehre Brünhilds wiederherstellen. Mit der Aussicht auf großen Machtzuwachs erreicht er auch die Zustimmung Gunthers.
In Lodemanns Roman ist die Entehrung Brünhilds nur ein Vorwand zur Ermordung Siegfrieds. - Giselher beklagt, dass sich Siegfried „förmlich um sein Leben geredet hat, denn wahrlich, todesmutig war er nicht nur in seinen Taten, auch in seinen Reden.“ (S. 206) An der gleichen Stelle nennt er ihn mutig, frech, verwirrend klug und zugleich sträflich leichtsinnig.
Die Mordabsicht geht eindeutig vom Bischof aus. Nach dem Streitgespräch zwischen ihm und Siegfried am Hochzeitsabend raunt er Hagen zu, Siegfried müsse zugrunde gehen. (S. 487) Der Bischof wiederholt seine Forderung Hagen und den Königsbrüdern gegenüber nach dem Königinnenstreit. Siegfried sei ein „Drachenmonster“, „der Antichrist“, „der untergrabe alle Ordnungen im Burgunderreich, [...] der unterhöhle Gunthers Herrschaft.“ (S. 635/36) Auch für Krimhild, in den Augen des Bischofs, „ein Feuersud aus gelüstigen Säften und sündigem Gierfleisch“ fordert er den Tod. „Nach dem gerechten Urteil Gottes seien sie verdammt.“ (S. 636)
Nach der Ermordung Siegfrieds rechtfertigt sich Hagen ausführlich insbesondere vor Giselher. „Das war Rettung aus hochnotpeinlicher Gefahr.“ Siegfried habe sich verwandelt „in den Störgeier, der die Unruhesucht verbreitet, jene Krankheit, die alle Regierungskunst und Disziplin untergräbt. Das ist der Wahnsinn, der allenthalben träumen muss vom Freisein. Der jede Macht für einen Drachen hält, den man bekämpfen muss. Egal, ob die Macht eine Krone trägt oder eine Mitra.“ Der „Ordnungsfresser blies unseren Leuten den alten keltischen Wahn in die Hirne, trieb den Bauern und Sklaven und Deutschen und Frauen Freiheitsflausen ins Hirn.“ Er, Hagen, habe „diejenige Instanz vor der Lächerlichkeit“ gerettet, „die am Rhein [...] für die Ordnung in den Köpfen“ sorge, „nämlich die königlich weltliche und die kirchliche.“ (S. 711)

Die Begründungen des Bischofs und Hagens bedürfen wohl keiner Erläuterung.

2.6.

. Siegfried als Exponent einer heidnischen naturnahen ganzheitlichen Keltogermanenkultur


Im Nachwort der Taschenbuchausgabe des Romans stellt Lodemann als Überlegung an, was er im Roman verwirklicht:„Wie wäre es, man würde dieser Geschichte ihre Bilder lassen oder zurückzugeben (!), ihre Götter – die personifizierten Naturkräfte - , ihre Mythen, ihre Würde. [...] Man könnte die Nibelungen-Archaik wieder als zeitlose Metaphernwelt begreifen, auch als politische.“ (S. 888)
Siegfried hat stets eine enge Beziehung zu seiner Mutter Sieglind, die als heidnische Priesterin bei den Externsteinen lebt. Schon als Kind erfährt er bei ihr, wie durch Besitzsucht der Romkirche großes Unrecht begangen wird, wohl ein entscheidender Grund für seine spätere erbitterte Auseinandersetzung mit dieser Romkirche. Vor allem aber wird er von ihren naturmythischen Vorstellungen stark geprägt. Sicher kennt Siegfried durch seine Mutter die Geschichten von den Göttinnen und Göttern, von denen Giselher aus Erzählungen erfahren hat, z.B. die von Freya. „Freya war in der Tat sehr ansehnlich, die schöne Freya war es, die Gott Thor mit der Unerschaffenen gezeugt hatte. Von dieser Freya kam nicht nur die Lust auf das Freisein in die Welt und auf das Frauenfreuen, sondern auch der Name für die «Frau», für die ursprünglich Freie.“ (S. 328)
Mehrmals wird erwähnt, dass an Siegfrieds Schiff am Mast ein Kuhschädelwimpel flattert und an der Schiffswand ein Kuhwappen angebracht ist. (u.a. S. 160) Das geht eindeutig auf seine Mutter zurück, über die Giselher erfahren hat:„Für Frau Sieglind ist das Sternbild des Orion kein Jäger, sondern eine riesenhafte Kuh. Ein friedliches Rind. Nicht um Eisen, Kampf und Speerstöße geht es ihr, sondern um Milch und Sonne und Freundlichkeit.“ (S. 49) Siegfrieds Bemühen um friedliche Konfliktlösungen geht also offensichtlich auf den Einfluss seiner Mutter zurück. – Auch weiß Giselher zu berichten, Sieglind habe Siegfried von der Weltenesche Yggdrasil erzählt, an deren Wurzeln ein Drache nage. (S. 64) Siegfried habe in Nidgir diesen Drachen erkannt, der die Esche verschlingen wolle. (S. 83) Das dürfte ein wichtiger Grund für seinen Kampf mit dem Drachen und auch seine Geringschätzung von Besitz sein.
Siegfrieds Mutter verehrt eine unerschaffene und unabschaffbare Urmutter. Sie ist mit der griechischen Mythologie vertraut und bezeichnet daher diese Urmutter mit dem Namen der griechischen Göttin Gaia. - Der Gaia- Mythos ist für das tiefere Verständnis des Romans außerordentlich wichtig. Das beweist schon die Tatsache, dass Giselher mit einer Kosmologie seine Chronik beginnt, in der Gaia eine wichtige Rolle spielt. Ich zitiere ungekürzt:„Am Anfang von allem waren Feuer und Wasser. Licht und Nebel bildeten das Chaos Ginungagap. Zwischen dem südlichen Feuer muspel und dem nördlichen Nebel nifhel, in der Tiefe von Ginungagap wohnte und wohnt die Unerschaffene, die bei den Griechen Gaia heißt und die immer gewesen ist und immer sein wird, in stets anderer Weise. Gaia lebt im Chaos und begehrt, und was sie begehrt, das tritt ins Dasein. Denn wenn Licht und Nebel einander erschlagen wollen, dann durchdringen sie sich. So zeugt die Unerschaffene die Kräfte der Welt, die in Burgund und bei vielen anderen Stämmen nach wie vor als Götter gelten.
Zuerst freilich zeugte sie auf Bornholm den Bor. Den Bor erschlug sein Sohn Gar. Den tötete sein Bruder Grindel. Als wären am Anfang nicht Begehren und Durchdringen gewesen, sondern Beseitigen und Erschlagen.“ (S. 15)

Schon hier wird deutlich, dass diese schöpferische weibliche Urkraft, die „Lebensgöttin Gaia“ (S.725) bestrebt ist, dass sich gegensätzliche Kräfte durchdringen, d. h. sich gegenseitig verstehen und akzeptieren. Aber es kommt dennoch schon bald Gewalt, Mord in die Welt. Doch – so verrät die Elfe Baldinai Giselher – die Unerschaffene bewege die Welt auch durch die Kräfte, die ihrem ursprünglichen Weltentwurf nicht entsprechen. (S. 516/17) Letztlich könne „unser Denken über die Gottheit“ allerdings nur scheitern, so Giselher am Schluss der Chronik. (S. 725)
Siegfried fühlt sich den „7 Sätzen vom Erkennen“, die ihm seine Mutter mit auf den Weg gibt, verpflichtet. Sie fordert ihn darin auf zum „liebenden Erkennen Gaias“, zum „begehrenden Erkennen des Chaos“ und damit im Zusammenhang zur scharfen Ablehnung der Trennung in „Geist und Stoff, Gut und Böse.“ (S. 360/61) - Auffallend ist die Betonung der Ganzheitlichkeit.
Das einfache Volk erkennt klar, welche Rolle der Gaia-Mythos für Siegfried spielt. Es glaubt, er plane „ein externsteinisches, ein Gaia-Reich“ (S. 286), in dem es keine Besitz- und Machtgier, keine Unterdrückung gebe, stattdessen Frieden und Bejahung der Freuden des Diesseits.
Zum weiteren Beweis der Bedeutung des Gaia-Mythos im Roman sei wenigstens erwähnt, dass nach Giselher für die irischen Mönche in Werden bei Essen „Jesus und Gaia keine Feinde sein sollten, sondern Verbündete. (S. 66) Lodemann lässt auch bezeichnenderweise den keltischen Mönch Kilian am Anfang des Romans ein Gebet an den „allwaltenden Weltenschöpfer“ richten (S. 11/12), am Schluss des Romans aber eines an die „Unerschaffene und Unabschaffbare, die du immer gewesen sein wirst, Urkraft, aus deren Feuer und Wasser die Sonne wurde und die Sterne und die Welt.“ (S. 886)
Wenn man bedenkt, dass Gaia von Siegfried als Urmutter erlebt wird und welcher Stellenwert den Geschichten von den Göttern und Göttinnen, insbesondere der von Freya zukommt, dann steht außer Frage, dass Siegfried ein Exponent dieses heidnischen Welt- und Menschenbildes ist.

Zum Schluss möchte ich betonen, dass für Lodemann Siegfried kein reiner Germane ist, sondern mit seinen Verwandten ein cheruskischer Kelte. (z.B. S. 74, S. 164, S. 710). Er ist der Exponent eines keltogermanischen Heidentums. Die Tatsache, dass Lodemann immer wieder den Namen der griechischen Göttin Gaia benutzt, soll möglicherweise darauf verweisen, dass es sich um archetypische Vorstellungen handelt.


3.

. Schluss: Gedanken zur Beurteilung des Werkes
unter besonderer Berücksichtigung der Anmerkungen Lodemanns im Roman


Die Überlänge des Romans - fast 900 Seiten - , die komplizierte Erzählweise insbesondere am Anfang, ausgedehnte Diskussionen theologischer Themen müssten darauf schließen lassen, dass das Buch als schwere literarische Kost auf Leserinnen und Leser eher abschreckend wirkte. In Wirklichkeit kam es nach Erscheinen auf Platz 1 der Bestenliste des SWR und wurde 3 Jahre später als Taschenbuch verlegt. Für diesen Erfolg gibt es meines Erachtens viele Gründe. Der Roman ist ein sprachgewaltiges Werk. Die Schilderung des mühsamen Aufstiegs durch Eismassen zu Brünhilds Burg durch Siegfried und Gunther (S. 390 ff.) halte ich ebenso für ein Glanzstück moderner Prosa wie die der Überwältigung Brünhilds durch Siegfried aus Gunthers Perspektive. (S. 586-89) Im Roman setzt der Autor alle Register der Sprache ein: anschauliche genaue Beschreibungen wie z.B. die der Handwerkskünste Siegfrieds beim Schmieden (S. 283) oder die der Navigation des Schiffes auf der Fahrt nach Island (S. 354 ff.), immer wieder genüssliche Ausmalung überraschender witziger Szenen beim Auftreten Siegfrieds, voyeuristisches Beschreiben des Sexualverhaltens der Hauptpersonen und Auflockerung der Diskussionen mit dem Bischof durch Siegfrieds Beschimpfungen. Lodemanns Roman enthält ebenso Stellen, die an Kitsch grenzen (z.B. die Beschreibung von Siegfrieds Sterben S. 689 ff.), wie solche von drastischer Derbheit (z.B. die Schilderung der Darmentleerung des an Durchfall leidenden römischen Präfekten S. 559). Im Roman finden sich merkwürdige Wortschöpfungen wie „zerhagenhackt“, „Schurkenmurksgelurke“ (S. 394) und auch Kalauer wie der Ausdruck „Wonnegau-Geschichten“ für Gerüchte, die nach Bezwingung Brünhilds durch Siegfried im Hochzeitsbett in Umlauf kommen könnten. (S. 508) Die Devise aus Goethes Faust „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ scheint mir erst recht im Hinblick auf die behandelten Themen zu gelten. Im Denken und Tun der Sympathieträger des Romans, insbesondere in dem Siegfrieds, finden sich die unterschiedlichsten Trends, Meinungen, Denkweisen unserer pluralistischen Gesellschaft wieder: Ökologiebewegung, Pazifismus, Frauenemanzipation und sexuelle Befreiung, Kritik an zu großer Staatsmacht und Kapitalismuskritik, Theologie der Befreiung, Kritik am Christentum, wie es sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat, insbesondere an der katholischen Kirche, auch Gaia-Esoterik und schließlich der Kampf der Kulturen. All das, verbunden mit einem neuen Interesse an mittelalterlichen Themen, auch am Nibelungenstoff, hat meines Erachtens den Roman zu einem Bestseller werden lassen.
Um dem Roman in der Beurteilung gerecht zu werden, muss ich kurz auf die Anmerkungen Lodemanns eingehen, die in Rot in den Text eingefügt sind. So stellt er Bezüge zur heutigen Zeit her. (z.B. S. 38: Brünhilds Schutz durch die Flammenwand / firewall als Schutz im Internet, S. 183: von Siegfried geplanter Rhein-Donau-Kanal / dessen Verwirklichung durch F. J. Strauß, S. 344: Gebrüll der Matrosen vor dem Drachenfelsenberg / Rockmusik, S. 269/70: Gebet des Bischofs:„Schütze mich, Herr, mit dem Gürtel der Reinheit.“ / „noch heute Priestergebet vor dem Messdienst, S. 485: Nach der Geißelung der Leibfeindlichkeit der Romkirche durch Siegfried verweist Lodemann auf ein Handbuch der katholischen Sittenlehre von 1936, das „die Trennung des Geschlechtsgenusses vom Willen zur Zeugung“ verbietet und betont, Gottes Segen ruhe auf der „naturgetreuen, kinderreichen Familie.“ S. 684: Quelle, an der Siegfried ermordet wurde / Großkläranlage der BASF). Die Anmerkungen enthalten auch Übersetzungen von althochdeutschen (u.a. S. 39) und lateinischen Passagen (u.a. S. 10–18), auch Erklärungen zu geschichtlichen, vor allem kirchengeschichtlichen Ereignissen der Zeit vom 1. bis 5. Jahrhundert nach Chr. (z.B.: S. 333, S. 757/58) und Bezugnahmen auf kirchliche Verlautbarungen jener Zeit, die oft wörtlich und mit Quellenangaben zitiert werden. Lodemann erklärt heute unübliche Begriffe (z.B. Klafter S. 387, 427) und Naturphänomene (z.B. Nordlicht S. 397) Eine wichtige Rolle spielen Ausführungen zu germanisch-keltischen Naturmythen und viele Hinweise auf die ursprüngliche Bedeutung von Wörtern, also auf die Etymologie, die Giselher die Wahrheit der Wörter nennt. (S. 139), so z.B. theodisk – deutsch (S. 11), Teutonen (S. 208), Niderlant (S. 353) und Materie – Mutterstoff (S. 359). Häufig nimmt der Autor Bezug auf die verschiedenen Fassungen des Nibelungenliedes und setzt sich mit deren Deutung auseinander. Durch diese Anmerkungen erscheint dem Leser der Roman nicht als bloße Fiktion, sondern als eine wissenschaftliche Arbeit mit Unterhaltungswert, als das, was man im Fernsehen Docutainment nennt. Der Leser wird in dieser Meinung bestätigt, wenn er in Lodemanns Beitrag zu „Siegfried – Schmied und Drachentöter“ über den Roman liest:„ [...] habe ich versucht, die Ereignisse, die nach Ansicht fast aller Altgermanisten dem Epos zugrunde liegen, erzählend zu rekonstruieren, nichts weniger als ein Ur-Nibelungenlied herzustellen auf der Basis aller noch erreichbaren Dokumente.“ (c)

Im Nachwort zur Taschenbuch-Ausgabe seines Romans spricht Lodemann sogar von „Recherchen in Sachen Wahrscheinlichkeit.“ (S. 889)
Auch wenn mir in vielen Bereichen die Kompetenz fehlt, das Dargestellte kritisch zu hinterfragen, so seien doch in einigen Punkten Zweifel an der Wahrscheinlichkeit des Erzählten angemerkt.
In den ausführlichen Standardwerken über Religion und Mythologie der Germanen von Rudolf Simek werden viele überlieferte Kenntnisse zu Mythologie und Religion der Germanen problematisiert. Es finden sich in dem Werk keine Anhaltspunkte weder für einen ausgeprägten Kuhkult noch die Verehrung einer Urmutter.
Unseriös wirkt der Roman, wenn Lodemann das althochdeutsche „cuoniouudi“ mit „Baumkraft“ übersetzt (S. 41), obwohl es „Fessel“ bedeutet (d), und ein Zitat aus einem Lautgedicht von Hugo Ball von Schazmann umkommentiert als unübersetzbaren keltischen Zauberspruch präsentiert.
Lodemann sieht – wie schon dargestellt – eine Verbindung zwischen der Göttin Freya, dem Frei-Sein und dem Wort „Frau“ als dem Namen für die Freie. Damit suggeriert er, dass die Frau bei den Germanen emanzipiert war. In Wirklichkeit bedeutet in der damaligen Zeit das Wort „frouue“ Herrin und ist abgeleitet von „frô“ Herr. „frouua“ ist also nicht die Herrin in Bezug auf ihren Mann, sondern als Adlige zusammen mit ihm in Bezug auf die unfreien Untergebenen.
Lodemann lässt im Roman Giselher berichten, Konstantin habe, um die Macht zu erhalten, schwere Verbrechen auf sich geladen, sogar Verwandtenmord. Und er fährt fort:„Und nur weil sich dieser Konstantin für all seine Untaten im Paradies Vergebung erhoffte, [...], nur deswegen ließ er sich auf dem Sterbebett, in seiner Todesangst, christlich taufen. Und damit war Europas Schicksal besiegelt. Seither funktioniert sie, und aus blutigen Mordgeschäften entstand sie, die Verklammerung von Staats- und Priestermacht.“ (S. 549) Wer die Konstantin-Ausstellungen 2007 in Trier gesehen hat, wird bestätigen, dass es sich bei Lodemann um eine pointiert einseitige Darstellung handelt.
Als wichtige Quelle für die Charakterisierung der Rolle des Bischofs in Burgund zitiert Lodemann den römischen Historiker Ammianus Marcellinus, der geschrieben hat:„Der Priester ist bei den Burgundern bei weitem der mächtigste Mann, er ist es lebenslang und er ist unangreifbarer als selbst die Könige.“ (S. 46) Die Wichtigkeit der Quelle für Lodemann belegt auch der Bezug auf sie im Nachwort der Taschenbuch-Ausgabe des Romans. (S. 889) Man muss aber doch wohl die Zuverlässigkeit dieser Quelle überprüfen. Woher stammte diese wichtige Information? War seine Aussage nicht vielleicht interessegeleitet und unzutreffend? Auf jeden Fall waren die Burgunder damals noch keine Christen. Mittlerweile waren etwa 100 Jahre vergangen. Ob die Burgunder zur Zeit, in der der Roman spielt, auf dem linken Rheinufer zur Romkirche gehörten oder Arianer waren, ist umstritten. (e)
Man sieht also, wie wenig aussagekräftig diese Quelle ist, die für Lodemanns Beurteilung der sogenannten Machenschaften der Romkirche so entscheidend ist.
Die Ausführungen über die Christianisierung der germanischen Stämme in Simeks Standardwerk stehen in deutlichem Gegensatz zu den Schilderungen Lodemanns. Simek spricht von Akkulturation und von der Verehrung des Gekreuzigten nicht als eines Leidenden, sondern als eines Triumphierenden. (f)
Der bei Lodemann beschriebene Versuch der Christianisierung durch die Romkirche hätte nur einen Übertritt der Mächtigen aus opportunistischen Gründen zur Folge gehabt und einen erzwungenen der einfachen Leute.
Ich kann und will nicht leugnen, dass es in der Entwicklung des Christentums zur damaligen Zeit starke leib- und frauenfeindliche Tendenzen gab und Machtpolitik für das Papsttum eine Rolle spielte. Deschners „Das Kreuz mit der Kirche“ und seine „Kriminalgeschichte des Christentums“ enthalten genug Zitate, die nicht entkräftet werden können. Was mir aber in Lodemanns Roman missfällt, ist seine Gegenüberstellung eines idealisierten Edelheidentums, repräsentiert in Siegfried und seinen Sympathisanten, und eines pervertierten Christentums der Romkirche mit extremer Leib- und Frauenfeindlichkeit in penetranter Schwarz-Weiß-Malerei. Insbesondere durch seine Bezüge zur Gegenwart, z.B. den Hinweis auf das Gebet des Priesters vor der Messe (S. 270), suggeriert er beim unkritischen Leser den Eindruck, seine Kritik an der Romkirche gelte bis heute. Das angeführte Gebet ist allerdings seit der Liturgiereform von 1970 entfallen und kehrt erst wieder mit der Zulassung der Messe in der vorkonziliären Form 2007 zurück. Dieser Ritus wird ausdrücklich als „außerordentliche Messform“ bezeichnet, und nach ihm darf nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen die Messe gefeiert werden. (g)
Das Menschen- und Weltbild der katholischen Kirche von heute ist weit entfernt von dem der Romkirche in Lodemanns Roman. Zum Beleg verweise ich bewusst auf eine offizielle Verlautbarung aus dem Vatikan, auf den Katechismus der katholischen Kirche von 1993 in der deutschen Übersetzung. In Bezug auf die Schöpfung werden die Menschen als „von Gott bestellte Verwalter“ auf Erden bezeichnet, die „keine zerstörerische Willkürherrschaft“ ausüben dürfen. (h) - Im Sinne vieler Sozialenzykliken der katholischen Kirche heißt es in diesem Katechismus:„Der Mensch selbst ist Urheber, Mitte und Zweck des ganzen wirtschaftlichen Lebens. Es ist für die soziale Frage entscheidend, dass die von Gott für alle geschaffenen Güter entsprechend der Gerechtigkeit und mit Hilfe der Liebe allen zukommen.“ (i) – Im Gegensatz zur provokanten Abwertung der Frau gegenüber dem Mann durch den Wormser Bischof im Roman betont der Katechismus „die vollkommenen Gleichheit“ von Mann und Frau. (j) – „Die Geschlechtlichkeit“ – heißt es in diesem Katechismus – „ist eine Quelle der Freude und der Lust.“ (k) Allerdings wird betont:„Durch die Vereinigung der Gatten verwirklicht sich der doppelte Zweck der Ehe: das Wohl der Gatten selbst und die Weitergabe des Lebens. Man kann diese beiden Bedeutungen oder Werte der Ehe nicht voneinander trennen, ohne das geistliche Leben des Ehepaares zu beeinträchtigen und die Güter der Ehe und die Zukunft der Familie aufs Spiel zu setzen.“ (l)
Natürlich entspricht dieses Menschen- und Weltbild der katholischen Kirche von heute in wichtigen Punkten nicht dem Siegfrieds, aber doch noch viel weniger dem des Wormser Bischofs im Roman.
Lodemann – das mein persönliches Fazit – besticht an vielen Stellen durch die Virtuosität seines Stils und sein Siegfriedbild, das sich wohltuend vom traditionellen Siegfriedbild abhebt, mehr noch als das Rinkes. Als Dokutainment aber erscheint mir der Roman – wie begründet – sehr fragwürdig, ärgerlich die durchgehend aufdringliche antikatholische Tendenz.
Daher fällt meine Bewertung des Romans sehr zwiespältig aus.


Anhang

Zitierte Literatur
(alle Zitate der ab 2006 gültigen amtlichen Regelung der Rechtschreibung und Zeichensetzung angepasst)

Textgrundlage
Lodemann, Jürgen: Siegfried und Krimhild, Roman - Die älteste Geschichte aus der Mitte Europas im 5. Jahrhundert notiert, teils lateinisch, teils in der Volkssprache, ins irische Keltisch übertragen von Kilian Hilarus von Kilmacduagh, im 19. Jahrhundert von John Schazman ins Englische / Ins Deutsche übersetzt, mit den wahrscheinlichsten Quellen verglichen und mit Erläuterungen versehen von Jürgen Lodemann, Stuttgart: Klett-Cotta, 2002

Weitere Veröffentlichungen Lodemanns zum Nibelungenthema
Lodemann, Jürgen: Siegfried - Die deutsche Geschichte im 1500. Jahr der Ermordung ihres Helden nach den ältesten Dokumenten erzählt, Stuttgart, Wien: Thienemann, 1986
Lodemann, Jürgen: Der Mord - Das wahre Volksbuch von den Deutschen; nach Notaten von Gislahar von Burgund, ins Keltische übertragen durch Kilian Hilarus von Kilmacduagh, ins Englische durch John Schazman, aus dem Englischen von Jürgen Lodemann, in Absicherung durch älteste Urkunden, mit Glossen und einem Orts- und Personenverzeichnis - mit Bildern von Erhard Göttlicher, Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg, 1995
Lodemann, Jürgen: Siegfried und Krimhild, München Deutscher Taschenbuchverlag 2005, text- und seitengleich mit dem Roman von 2002 mit einem angefügten Nachwort des Autors
Lodemann, Jürgen: Die Nibelungen oder Europa – Fundstücke beim lebenslangen Herstellen einer genauen Fassung des Epos, in: Ein Lied von gestern? Wormser Symposion zur Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes, hrsg. von Bönnen, G. und Gallé, V., Verlag Stadtarchiv Worms 1999, S. 179 - 202
Lodemann, Jürgen: Worms – Deutschlands europäische Kulturstadt, Essay, in: Wormsgau, wissenschaftliche Zeitschrift der Stadt Worms und des Altertumsvereins, 2003 Bd. 22 S. 207 - 221
Lodemann, Jürgen: Siegfried – politisch aktuell, in: Siegfried, Schmied und Drachentöter, hrsg. von Gallé, V., Worms: Worms-Verlag 2005, S. 186 - 201
http://www.jürgen-lodemann.de/biografie.html
http://www.jürgen-lodemann.de/handschriften.html (aufgerufen am 16.02.09)

Sekundärliteratur

Braune, Wilhelm: Althochdeutsches Lesebuch, versehen mit einem Wörterbuch, 12. Auflage bearbeitet von Karl Helm. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1952

Deschner, Karlheinz: Das Kreuz mit der Kirche : eine Sexualgeschichte des Christentums - 1. Aufl., Düsseldorf: Econ-Verlag, 1974

Deschner, Karlheinz: Kriminalgeschichte des Christentums, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt

Band 1: Die Frühzeit : Von den Ursprüngen im Alten Testament bis zum Tod des hl. Augustinus (430), 1986

Band 2: Die Spätantike : von den katholischen "Kinderkaisern" bis zur Ausrottung der arianischen Wandalen und Ostgoten unter Justinian I. (527 - 565), 1988

Ehrismann, Otfrid: Nibelungenlied: Epoche, Werk, Wirkung, 2., neu bearb. Aufl., München: Beck, 2002

Hoops, Johannes u.a. (Hrsg.): Reallexikon der germanischen Altertumskunde Bd. 1 - 35 Berlin [u.a.]: de Gruyter, 1973 -2007

Kaiser, Reinhold: Die Burgunder, Stuttgart: Kohlhammer, 2004

Katechismus der katholischen Kirche, München: Oldenbourg Verlag, 1993
Es handelt sich um eine autorisierte Übersetzung der lateinischen Fassung des gleichen Jahres aus dem Vatican-Verlag

von See, Klaus: Die politische Rezeption der Siegfriedfigur im 19. und 20. Jahrhundert, in: Siegfried, Schmied und Drachentöter, hrsg. von Gallé, V., Worms: Worms-Verlag 2005, S. 138 - 155

Simek, Rudolf: Lexikon der germanischen Mythologie, 3., völlig überarb. Aufl., Stuttgart: Kröner 2006

Simek, Rudolf: Religion und Mythologie der Germanen, Darmstadt: Wiss. Buchges., 2003

http://www.kathpedia.com/index.php/R%C3%B6mischer_Ritus
http://www.kathapedia.com/index.php/Zingulum (aufgerufen am 04.06.09)


Anmerkungen


a) von See S. 144
b) www.jürgen-lodemann.de/handschriften.html
... www.jürgen-lodemann.de/biografie.html (am 16.02.09)
c) Siegfried, Schmied und Drachentöter S. 199
d) Braune S. 201
e) Kaiser S. 148-157
f) Simek – Religion S. 257
g) www.kathpedia.com/index.php/R%C3%B6mischer_Ritus
... www.kathapedia.com/index.php/Zingulum (am 04.06.09)
h) Katechismus § 373
i) Katechismus § 2459
j) Katechismus § 369
k) Katechismus § 2362
l) Katechismus § 2363.