Das
Beowulf-Epos


Das älteste erhaltene
germanische Heldenepos
und die frühesten Spuren des Nibelungenstoffes

Ein Vortrag von Erwin Martin

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Illustration (H.E. Marshall / Stories of Beowulf, 1908 ..



Die großen Nationen knüpfen ihr kulturelles Selbstbewusstsein gern an ihre nationale Literatur, an deren Anfang ein Basiswerk steht. Die Identifikation mit den darin gefeierten ethischen Werten lässt dieses Werk zum Nationalepos emporsteigen. Für uns Deutsche ist es das Nibelungenlied, für die Franzosen das Rolandslied, für die Engländer das Beowulflied.

Diese drei Werke stehen, vom Zeitpunkt ihrer ersten schriftlichen Fixierung gerechnet, in der Folge von drei großen runden Daten: Das Nibelungenlied wird auf 1200 datiert, das Rolandslied hundert Jahre früher, um 1100, und das englische Beowulflied wiederum ein Jahrhundert vorher, nämlich um das Jahr 1000.

Alle drei Epen haben gemeinsam, dass sie, vom Zeitpunkt der Entstehung um mehrere Jahrhunderte zurückblicken in eine längst vergangene Zeit. Beim Nibelungen-Epos von 1200 sind es acht Jahrhunderte, denn das Ausgangsgeschehen ist im Burgunderreich des 5. Jahrhunderts zu suchen. Das französische Rolandslied von 1100 bezieht sich historisch auf den Spanienfeldzug Karls des Großen im 8. Jahrhundert, also mit einem Zeitsprung zurück um drei Jahrhunderte. Das um 1000 schriftlich fixierte Beowulf-Werk entstand bereits um 700 und greift von da aus auf ein historisches Geschehen des 6. Jahrhunderts zurück. Mit seinen 3182 Stabreimzeilen ist es in der schriftlichen Version von 1000 das älteste vollständig erhaltene germanische Heldenepos. Von der ursprünglichen Form ist kein Schriftzeugnis erhalten. Wie bei den beiden anderen Nationalepen ist der Verfasser unbekannt.

Die Sprache des Beowulf-Epos ist westsächsisch. Dieser Dialekt hat unter anderen die Führung übernommen und wurde gegen 900 zur altenglischen Hochsprache. Von da an wurden alle poetischen Texte, auch das Beowulflied, in dieser Sprachform verfasst.

Das englische Erzählwerk weist nun gegenüber den beiden anderen Nationalepen eine Besonderheit auf. Während das deutsche und das französische auf historische Gegebenheiten des jeweils eigenen Volkes abzielen, richtet sich das Augenmerk des in England beheimateten Beowulf-Autors auf geschichtliche Vorgänge, die in einem anderen Gebiet, nämlich in Südschweden und Dänemark spielen. Was daran fürs erste verwundert, erklärt sich aber leicht: Es sind die Gebiete, aus denen die Angelsachsen ausgewandert sind und sich in Britannien, in England niedergelassen haben, nachdem sie die dort einheimischen Kelten verdrängt hatten.

Man muss allerdings wissen, dass diese Einwanderung weder auf einen Schlag erfolgte noch von einem einzigen Volksstamm vollzogen wurde noch zu einem einheitlichen staatlichen Gebilde im eroberten England führte. Es rivalisierten mehrere Kleinkönigreiche miteinander, bis sich nach Jahrhunderten eines von ihnen durchsetzte und alle anderen zu einem gemeinsamen Königreich vereinte. Erst nach 750 tritt der erste englische König in Erscheinung mit Namen Offa.

Auf dem Wege dahin erinnern sich die noch selbständigen Kleinkönige gern ihrer Vergangenheit und Herkunft. Die Angelsachsen saßen ursprünglich in den Küstenländern der Nordsee zwischen den Niederlanden und Norwegen. Die Sachsen hatten ihre Heimat zwischen den Unterläufen von Weser und Elbe, die Angeln, die dem Einwanderungsland dann ihren Namen England gaben, kamen aus dem Gebiet des heutigen Schleswig-Holstein und von der Insel Fünen. Im 5. und 6. Jahrhundert eroberten beide, die Sachsen und die Angeln, die britischen Inseln und das britische Tiefland.

Kurz vor 600 begann die Christianisierung. In der Folgezeit wurden Klöster errichtet, die sich zu Zentren der christlichen Kunst und Literatur entwickelten. Von ihnen wurden die berühmten Missionare Wilfried und Bonifatius zum europäischen Festland entsandt. Und es ist anzunehmen, dass in einem dieser Klöster auch der Autor des Beowulfliedes zu suchen ist.

Der in England beheimatete Autor des Beowulf-Epos erzählt nun nicht etwa eine in England spielende Geschichte seines Königshauses, sondern eine, die ihren Schauplatz in Südschweden und Dänemark hat. Man kann vermuten, dass er im Auftrag seiner ostanglischen Herrschaft ein Werk verfasste, das auf die Verherrlichung der ursprünglichen skandinavischen Heimat und ihrer heroischen Vergangenheit ausgerichtet war.

Zunächst ein Hinweis auf die poetische Gestaltung der deutschen Nachdichtung von Hugo Gering, die dem Original inhaltlich und formal so nah wie möglich zu kommen versucht. Das Werk ist durchgehend in Langzeilen mit Stabreimen verfasst wie das althochdeutsche Hildebrandslied. Jede Langzeile ist zweigeteilt. Jede Hälfte enthält eine stärker und eine weniger betonte Wortsilbe. Die stark betonten bilden über die Mittelfuge einen Stabreim mit gleichen Anfangslauten.
In den folgenden Versen: denkwürdig – Dänen, viel – Vorzeit, Könige kühn – Kraft.

Wahrlich, denkwürd’ge Taten von Dänen
Sind viel uns aus der Vorzeit berichtet,
als Könige kühn ihre Kraft erprobten.
Oft hat Garbensohn Scyld grimme Feinde,
manch mutigen Kämpen von der Metbank verjagt
und Furcht verbreitet. In frühster Jugend
fand man hilflos ihn auf, doch Heil gewann er:
unterm Wolkendach wuchs er, an Würden reich,
bis alle endlich ihm untertan wurden,
die am Wege des Wals ihre Wohnsitze hatten
und Zins dem Herrlichen zollen mussten.

Es ist die Rede von Skyld, dem mythischen Ahnherrn der dänischen Könige, Garbensohn genannt, weil man ihn in frühester Jugend in einem Boot auf einer Garbe liegend fand. Er wurde ein großer Herrscher, dem alle, die am Wege der Wale, das heißt am Meere wohnten, tributpflichtig wurden.

Der Ahnherr Skyld kommt aus mystischem Dunkel, als Findelkind treibt er in einem Boot an Land aus unbekannter Ferne, gebettet auf eine Garbe, die wohl als Fruchtbarkeitssymbol zu deuten ist, denn Skyld wird ein mächtiger, reicher König, der zum Segen seiner Untertanen regiert. Es ist konsequent, dass er nach seinem Tod den umgekehrten Weg gehen wird: nämlich in einem Schiff, das in eine wiederum unbekannte Ferne segelt, diesmal aber ausgestattet mit allen Kostbarkeiten, die der Ehrung des Toten gemäß sind: ein Brauch der Küstenvölker, der nicht christlichen, sondern altgermanischen Vorstellungen von Beisetzung und Jenseitserwartung entspricht.

Der tief gläubige Autor des Beowulfliedes, sicherlich ein Klosterbruder, gerät bei der Gestaltung seines Stoffs immer wieder in Nöte. Er hat ihn nicht erfunden, er bearbeitet eine sicherlich mündlich überlieferte Fassung einer heidnischen Überlieferung, die er als Quelle ernst nimmt, die er aber christlich überformen muss. In der Benennung Gottes überschneiden sich altgermanische Vorstellungen mit denen der christlichen Mission. Er hilft sich aus der Verlegenheit, indem er übergreifende Metaphern verwendet. Wenn er zum Beispiel vom leuchtenden Lebensspender spricht, kann das für Odin und für den christlichen Gott gelten. Christus wird im ganzen Epos nicht ein einziges Mal erwähnt.

Aus der Überschneidung zweier Glaubensformen und Weltanschauungen ergibt sich für die gesamte epische Erzählung ein Zwiespalt zwischen überliefertem Erzählgut heidnischer Prägung und übergestülpter christlicher Sinngebung, der zu einem Stilbruch führt: Die Schilderungen heidnischen Ursprungs sind prägnant und spannend, die moralisierenden Kommentare des geistlichen Autor langatmig und langweilig. Leider sind beide Textelemente so miteinander verquickt, dass man das original Germanische nicht aus dem Geflecht herauslösen kann.


Nach dem Tod und der Schiffsbeisetzung Skylds regiert nun der Sohn. Dem kommt der Gedanke, eine große Festhalle zu bauen, die an Schönheit und Pracht alles bisher da Gewesene übertrifft. Darin sollen seine Kämpen Met trinken und all das empfangen, was ihnen den König großzügig spendet. Diese Halle erhält auch einen Namen: Heorot, was Hirsch bedeutet, denn der Hirsch ist im Nordischen ein heiliges Tier. Als Heorot fertig gestellt ist, feiern der König und seine Mannen überglücklich darin rauschende Feste. Aber wie auch im Nibelungenlied folgt bei dieser Schilderung die düstere Vorhersage, dass auf die Lust das Leid folgt: Heorot wird dereinst in Flammen untergehen.

Doch zunächst bricht das Unheil in anderer Form herein. Es lebt ein Ungeheuer in der Nähe, das sich gestört fühlt vom lustigen Lärm der Feiernden in Heorot. Es ist ein Meertroll, ein grimmiger Geist namens Grendel, der an der Grenze der menschlichen Behausungen lebt, weit hinten in Moor und Meer, und sein Unwesen in Sumpf und Schlamm treibt.

Solche Wesen sind in der heidnischen Sagenwelt des Nordens gang und gäbe. Was macht nun der christliche Autor daraus? Er bringt das Ungeheuer in Verbindung mit dem biblischen Kain, der für seinen Mord an seinem Bruder Abel von Gott mit ewiger Verdammnis bestraft wird. Das Ungeheuer Grendel gehört in Kains Geschlecht und Gefolgschaft, es lebt außerhalb der menschlichen Gesellschaft und ist dieser feindlich gesinnt und gefährlich.

Grendel bricht in der Nacht über die Schlafenden in der Halle herein:


Nun macht’ er sich auf um die Mitternacht,
die Halle der Heer-Dänen heimzusuchen,
wo gebettet sie nach dem Biertrunk ruhten.
Im Innern fand er der Edlinge Schar
nachher im Schlaf; sie beschwert’ kein Kummer,
noch drückte sie Sorge. Der verderbliche Unhold,
der grimme und gierige, gar nicht säumt’ er,
der ruchlose Wütrich, er raffte vom Lager
der Kämpen dreißig: von dannen drauf zog er,
mit der Beute stolz, seinem Bau nun zu
und schleppte den reichen Raub nach Hause.

In seine Höhle unter dem Meer schleppt er sie, und das gleiche geschieht in der folgenden Nacht. Der Schrecken der Menschen ist groß, es nützt ihnen nichts, sich zu verstecken, und ein Kampf gegen das mächtige Ungeheuer ist aussichtslos. So klagen sie verzweifelt, und der Autor lässt sie zurücksinken in tiefstes Heidentum: In ihrer Not bringen sie in Götzentempeln Weiheopfer. Die Halle verödet für zwölf Jahre, denn niemand wagt mehr, sich den Überfällen Grendels auszusetzen.

Doch Hilfe naht von unerwarteter Seite. Nun kommt der Held Beowulf ins Spiel, nach dem das Epos benannt ist. Er ist kein Däne, er hat seine Heimat an der schwedischen Westküste im Lande der Gauten oder Göten, in Götaland. Er ist ein Neffe des dortigen Königs Hygelac.

Dieser Beowulf hat von der Not der Dänen, der Bedrohung durch das schreckliche Ungeheuer gehört und beschließt nun, mit vierzehn Gefährten nach Dänemark zu segeln. Wie im Fluge überqueren sie den Sund und besteigen das Gestade des Nachbarlandes. Ein dänischer Strandwächter tritt ihnen entgegen und fragt nach ihrer Herkunft. Die Ankömmlinge zerstreuen rasch seine Bedenken mit der Botschaft, dem bedrängten König zu Hilfe zu kommen, und er geleitet sie zum Königshof.

Dort erfolgt eine umständliche Begrüßung, an der die Hörer der damaligen Zeit größeren Gefallen fanden als wir Heutigen. Es wird nicht gespart an ehrenden Anredeformeln. Man erfährt dabei, dass der Vater Beowulfs einst in bedrohter Situation an den Dänenhof kam und um Asyl bat. Das Hilfeangebot des Sohnes Beowulf ist als eine Art Danksagung für das damalige Entgegenkommen zu verstehen. Dadurch wird die Peinlichkeit des Fremdangebots für den Dänenkönig gemildert, eine feinfühlige Geste.

Bezeichnend ist dann wiederum, welche selbstbewussten Vorstellungen Beowulf vom geplanten Kampf mit dem Ungeheuer hat.

Allein nun will ich zum Ausgang bringen
Mit Grendel den Streit, dem grimmigen Thursen!
Doch eine Gunst, edler Scylding,
Fürst der Dänen, erfleh’ ich von dir:
Verwehre mir nicht, der ich weither kam,
du Hort der Krieger, hoher Volksfreund,
dass ich allein mit den edlen Gefährten,
mit Hilfe der Meinen Heorot säub’re!
Erfahren auch hab’ ich, der furchtbare Gegner
Verschmähe es sorglos, ein Schwert zu führen.

Drum halt’ auch ich, so wahr Hygelac mir,
mein gütiger Herrscher, gnädig gesinnt ist,
es meiner nicht würdig, zu wehren dem Mörder
mit blitzender Klinge und breitem Schild!
Mit der Faust nur will ich den Feind bekämpfen.

Bald bricht die Nacht herein, und es ist an der Zeit, den Meertroll Grendel zu erwarten. Dabei gibt es für uns heutige Leser Seltsames: Die Kämpfer legen sich zur Ruhe und schlafen ein trotz ihrer Furcht, dass ihnen das gleiche Schicksal widerfahren könnte wie den Dänen, die das Ungeheuer in der Nacht überfallen und getötet hat. Nur Beowulf wacht, von dem Gedanken erfüllt, den ihm der christliche Autor zuspricht, dass Gott ihnen Kriegsglück, Trost und Hilfe senden und nicht zulassen werde, dass der Feind siegt.

Dann naht Grendel, das Ungeheuer, der Verfluchte. Er bricht mit unbändiger Kraft den Riegel des Tores und stapft herein:

Im Hause sah er der Helden viele
friedlich schlafen, der Freunde Schar,
die erlesenen Krieger: Da lachte sein Herz.
Vor Tag noch hoffte der teuflische Unhold,
das Leben aller vom Leibe zu trennen,
dass Fülle von Fraß ihm zu finden glückte.

Mit schnellem Griff einen Schläfer packt er
als ersten Raub, zerriss ihn eiligst,
biss in den Körper, das Blut in Strömen
schürfte er ein und schlang gewaltig,
bis des Leblosen Leib verzehrt war,
samt Füßen und Armen.

Nach diesem drastischen Vorspiel gerät das Ungeheuer an Beowulf, der ihn liegend auf seiner Bettstatt erwartet hat, seltsamerweise ohne etwas zur Rettung seines Mitkämpfers zu tun. Und was er jetzt tut, mutet wiederum recht merkwürdig an.

Der Feind schritt weiter
und griff mit der Hand nach dem heldenmütigen
Kämpfer im Bett, seine Klauen spreizend.
Doch der Edle war rasch: auf den Arm gestützt
packt’ er des tückischen Teufels Rechte.
Er erhob sich vom Lager
in voller Länge und fester packt er,
dass die rauen Finger des Riesen brachen.
Der drängte hinaus, doch dicht auf den Fersen
folgt’ ihm der Göte. Gefloh’n wär’ er gerne
zu der Klause im Sumpf, doch die Krallen wusst’ er
in des Helden Gewalt.

Man muss seine Phantasie gehörig anstrengen, um diese Kampfesstrategie Beowulfs nachzuvollziehen. Er stützt sich also im Liegen auf den Arm und packt gleichzeitig die rechte Krallenhand des Ungeheuers, dann erhebt er sich vom Lager in voller Länge und packt fester zu, so dass Grendels Finger brechen. Aus diesem Griff lässt er den Gegner nicht los. Der geistliche Autor des Textes hatte wohl nicht allzu viel Erfahrung mit Kampftechniken, sonst hätte er sich etwas Glaubwürdigeres einfallen lassen. Ihm kam es darauf an, dass Beowulf mit bloßer Leibesstärke den Riesen überwand, egal wie. Und es war auch die einzige Möglichkeit, denn als die Kampfgefährten Beowulf zu Hilfe eilten und auf den Unhold mit ihren Schwertern einhieben, prallten alle Klingen ab. Denn

Dem Erzschelm konnte
kein einziges Eisen auf Erden schaden,
der Kampfschwerter keins, da durch schwarze Kunst
gefeit es war wider feindliche Waffen
wider drohende Schneiden

Dieser Zauber, der die Waffen des Feindes stumpf macht, ist ein gängiges Motiv der germanischen Sagentradition. Er wird der Zaubermacht Odins zugeschrieben. Der Dichter des Epos kommt hier wieder in Konflikt zwischen den beiden Glaubenswelten. Die mythische Magie passt natürlich nicht zu seiner christlichen Auffassung, aber er folgt wohl oder übel der heidnischen Textquelle.

Wie endet nun der Kampf?

Der grimme Unhold
wurd’endlich wund: an der Achsel klaffte
ein riesiger Spalt, es rissen die Sehnen,
es brachen die Knochen. Beowulf war
der glückliche Sieger, und Grendel musste
todkrank flüchten ins tiefe Moor.

Blutig war dort die brodelnde Flut,
die Gischt der Wogen ganz vermengt
mit warmem Eiter. Es wallte die Tiefe
von des Toten Schwertnass, der trostlos unten
am Grunde des Moors seinen Geist verhaucht,
die heidnische Seele, die der Hölle zufiel.

Mit der Höllenfahrt Grendels kehrt der Dichter wieder in die christliche Sphäre zurück, denn den heidnischen Germanen war die Hölle unbekannt.

Auf den glücklichen Ausgang des Kampfes mit dem Ungeheuer folgt natürlich ein großes Jubelfest in der Festhalle Heorot. Als sichtbares Zeichen für den Sieg über das Ungeheuer legt Beowulf unter dem hohen Dache der Halle nieder, was von Grendel zurück geblieben war: den ausgerissenen Arm mit der Krallentatze.

Als ein Sänger seine Stimme erhebt, um den Sieger Beowulf zu feiern, erleben wir als heutige Hörer in Worms eine Überraschung. Er vergleicht Beowulf rühmend mit einem Helden der Vorzeit, der einen Drachen erschlug.

Öfter auch sang
ein Königsdegen, kundig im Dichten,
der viele Sagen der Vorzeit kannte,
den Edlen ein Lied …
So kündet’ er dann,
was von Sigmund einst er sagen hörte,
die Wundertaten, die wenig bekannten,
des weit gewanderten Wälsings Kämpe.
Sigmunds Ruhm wuchs ständig noch,
da der wehrhafte Recke den Wurm getötet,
den Hüter des Horts! Der Heldensprössling
wagte ganz allein unterm grauen Felsen
den furchtbaren Streit …
Das Schicksal war gnädig: das Schwert durchstach
das Ungeheuer, bis das Eisen festsaß
im rauhen Gestein, da verreckte der Drache!
So hatt’ es der starke Streiter erreicht,
dass er schalten durft’ mit dem Schatz der Ringe
nach freiem Ermessen; das Fahrzeug belud er.
An Bord des Schiffes die blitzende Fracht
trug Wälses Sohn …

Hier arbeitet der angelsächsische Dichter ein altes germanisches Sagengut ein, Teile der Nibelungensage, nur dass bei ihm nicht Siegfried, sondern dessen Vater Sigmund den Kampf mit dem Drachen austrägt, und der Beowulf-Dichter kennt auch den Namen von Sigmunds Vater: Wälse. Bemerkenswert ist weiterhin, dass hier Sigmund den gewonnenen Schatz mit dem Schiff davon schafft, sich also im nordischen Raum als ein Seekönig erweist. Spätere Generationen scheinen den Drachenkampf vom Vater Sigmund auf den Sohn Siegfried übertragen zu haben, der hier nicht erwähnt wird. Das Beowulflied hält demnach eine ältere Version der Nibelungensage fest.


Der Dank des Dänenkönigs findet seinen Höhepunkt in der Adoption Beowulfs: Er nimmt seinen Retter an Sohnesstatt an. Überaus kostbar sind auch die Geschenke, die Beowulf und seine Mannen empfangen. Einen großen Teil des folgenden Textes nehmen deren Schilderungen und weitere Gesänge zur dänischen Vorzeit ein, die den Raum der Festlichkeiten füllen. Sie haben zunächst die Funktion einer Ausweitung des Epos, zum anderen wiegen sie auch die glückliche Gesellschaft in eine euphorische Stimmung, in die dann bald ein neues schreckliches Ereignis einbricht, mit dem niemand gerechnet hat.

Grendel ist tot, aber Grendels Mutter lebt, die die arglosen Schlafenden in der Festhalle Heorot überfällt, um ihren Sohn zu rächen. Allerdings verfügt sie nicht über die Kraft des Sohnes. Es gelingt den rasch aufgewachten Kämpen, sie in die Flucht zu schlagen. Aber sie schafft es noch, einen Mann mit sich zu reißen und auch den ausgerissenen Arm mit der Krallenhand des Sohnes zu schnappen. Das Opfer war der Freund und Ratgeber des Königs. Die Klage über den erneuten Einbruch eines Ungeheuers und die Trauer um den Getöteten nehmen im Text mehr Raum ein als die vorhergehende Handlung der Meertrollin. Die Emotionen sind dem Dichter wichtiger als die Fakten.

Ähnlich wie bei der vorhin genannten Frühversion des Nibelungenstoffes handelt es sich auch bei der Auffassung des Meertrolls um eine Frühstufe. Ursprünglich sind die Trolle feindliche, böse Wesen. Im Laufe der Sagengeschichte werden sie immer harmloser, bis sie in jüngeren norwegischen Märchen zu freundlichen Wesen werden, die den Menschen helfen und sich sogar mit Menschen vereinigen. Im Beowulflied ist die Trollfrau noch ein böser Dämon.

Nun ist natürlich die Hilfe Beowulfs wieder gefragt. Der Dänenkönig bittet ihn darum, und er klärt ihn auf, wo er die Meertrollin aufspüren könne. Überraschend ist seine phantastische Schilderung des Trollmeeres, in dem Grendels Höhle verborgen ist.

Die beiden bewohnen verborgene Winkel,
wo die Wölfe hausen, windige Klippen,
das gräuliche Moor, wo des Gießbachs Strom
unter finster umnebelten Felsen verschwindet
in der Erde Schlund.

Dort sieht man allnächtlich ein seltsames Wunder:
In der Flut ein Feuer! Erforscht hat nie
ein Menschenkind dieses Moores Tiefe.
In Wirbeln steigt zu den Wolken oft
das Wasser empor, wenn der Wind heran treibt
die leid’gen Gewitter, die Luft verdunkelt
und der Himmel weint.

Beowulf ist sogleich bereit, sich auf die Spur des Meerweibs zu setzen und es im Trollmeer aufzusuchen. Wohl gerüstet mit einem Panzer, einem Kettenhemd um den Leib, steigt er in die Fluten. Beim Absinken auf den Meeresgrund plagen ihn viele Monster, die mit Reißzähnen in seine Rüstung beißen.

Da bemerkt Beowulf auf einmal, dass er sich in einem unterirdischen Saal befindet, den ein Dach vor eindringendem Wasser schützt. Er erblickt ein feuriges Licht, eine leuchtende Flamme, und schon hat er vor sich den scheußlichen Meertroll. Er zieht sein Schwert und schlägt auf ihn ein, aber es wird ihm sogleich klar, dass seine Waffe dem Feind nichts anhaben kann. Da wirft er sein Schwert von sich, und nun bleibt ihm nichts anderes übrig, als auf die Kraft seines Handgriffs zu vertrauen. Sogleich umschlingt er das Ungeheuer bei der Achsel und wirft es nieder, aber Grendels Mutter zahlt es ihm heim mit einem Gegenschlag, der ihn seinerseits zu Boden sinken lässt.

Sie kniet auf ihm nieder, die Klinge zog sie,
das kurze Messer, ihr Kind zu rächen,
den einzigen Erben. Doch Achsel und Hals
schirmte die Brünne: sie schützte sein Leben,
die allen Waffen den Eingang wehrte.

Nun gewahrte sein Aug’ unter anderen Waffen
ein Ruhm verheißendes Riesenschwert,
ein köstliches Kleinod, des Kriegers Zierde,
doch so übergroß, dass ein anderer Mann
schwerlich im Streite geschwungen hätte
die gute Wehr, das Werk der Giganten!

Dies Schwert ergriff der Scyldingenheld:
In zornigem Grimm, fast verzweifelnd am Leben,
hob er die Klinge zu kräftigem Hieb,
dass die harte den Hals der Hexe durchschnitt,
die Wirbel trennte der Todgeweihten,
ihr Fleisch zerstückte. Sie fiel auf den Estrich,
und den Beowulf freute sein blutiges Werk.

Der Zauber, der die Klingen der Feinde stumpf macht, gilt nicht für die eigene Waffe, und so kann Beowulf das Meerweib mit dessen eigenem Gigantenschwert töten. Und er schlägt damit auch der Leiche Grendels den Kopf ab. Er tut das nicht nur, um den Kopf als Siegestrophäe mitzunehmen, sondern auch um zu verhindern, dass der noch als Wiedergänger Schaden anrichten kann. Bei der Rückkehr zur Festhalle haben vier Mann an dem Haupt des Ungeheuers zu schleppen. Was nun folgt, ist eine Huldigung des Helden Beowulf und seiner Getreuen in der Königshalle. Sie werden reich beschenkt vom Dänenkönig und treten die Rückfahrt nach Götaland an.

In der Heimat verehrt Beowulf seinem König Hygelac alle mitgebrachten Geschenke und wird seinerseits wieder beschenkt mit Kostbarkeiten und Ländereien, so dass er ein mächtiger Mann im Lande wird.

Aber damit ist der Höhepunkt seines Aufstiegs noch nicht erreicht. König Hygelac und sein Sohn fallen im Kampf gegen die Schweden, und so wird Beowulf Herrscher des Götenreichs, das er fünfzig Jahre lang glücklich regieren kann.

Doch am Ende dieser segensreichen Zeit bricht Unheil über das Land herein. Ein flüchtiger Sklave sucht in einer Höhle Zuflucht, in der ein Schatz verborgen ist. Diesen Schatz bewacht ein Feuer speiender Drache. Als der Sklave, während der Drache schläft, einen wertvollen Kelch stiehlt, mit dem er später Verzeihung für seine Flucht erkaufen will, fordert er die Rache des Monsters heraus. Diese Rache trifft die Göten, die in der Umgebung des Untieres leben.

Als König Beowulf von dieser Heimsuchung seines Volkes erfährt, entschließt er sich trotz seines vorgerückten Alters, eigenhändig dem Drachen auf den Leib zu rücken wie einst dem Monster Grendel in Dänemark. Er zieht in Begleitung seiner Mannen zur Höhle. Auch dieses Mal will er den Kampf allein bestehen. Er versucht in die Höhle einzudringen, aber der Feuerstrom, der ihm entgegenwallt, lässt ihn draußen verharren. Und so ruft er das Ungeheurer heraus. Beowulf hatte sich eigens einen Schild aus Metall anfertigen lassen, den er nun dem Feuer entgegenhält, doch als er mit seinem Schwert auf den Drachen einschlägt, muss er mit Schrecken erkennen, dass seine Waffe an dessen Knochen abprallt. Er muss sich zunächst zurückziehen. Seine Mannen sind inzwischen aus Angst vor dem Ungeheuer in den Wald entflohen bis auf einen jungen Kämpen namens Wiglaf. Der steht nun seinem Herrn beim erneuten Ansturm bei. Obwohl er sich im Feuer des Drachen die Hand verbrennt, sticht er in dessen Bauchseite und lähmt ihn, Beowulf zieht nach und trennt das Untier mit dem Schwert in zwei Teile.

Damit ist der Kampf beendet. Beowulf hat mit einem Gefährten die tödliche Gefahr für das Land gebannt, aber ihn hat es schwerer getroffen als Wiglaf. Beowulf wurde von den Giftzähnen des Drachen am Hals verwundet. Die Wunde schwillt an, und Beowulf fühlt, dass sein Ende naht. Er lässt die Schätze aus der Höhle holen, um sich durch deren Anblick den Abschied vom Leben zu erleichtern.

So endet das Leben des Helden. Der christliche Erzähler muss sich bei der Schilderung seiner Beisetzung noch einmal zwischen zwei religiösen Bräuchen hin- und herbewegen: Die altgermanische Gepflogenheit verlangt eine Feuerbestattung, die die kirchliche Ordnung verbietet. Beowulf wird als germanischer Kriegerkönig verbrannt, und seine Asche wird in einem Hügelgrab an der Küste beigesetzt zusammen mit den Schätzen aus der Höhle.

Das weite Grab
nahm auch Ringe und Schmuck und Rüstungen auf,
den ganzen Schatz, den gierige Krieger
dereinst erbeutet: die Erde empfing
das rote Gold - dort ruht es noch jetzt,
so unnütz den Menschen, wie’s immer gewesen.

Diesen Kommentar konnte sich der christliche Autor dann doch nicht verkneifen.

Der Drachenkampf ist ein märchenhaftes Element wie im Nibelungenlied und anderen nordischen Sagen. Im Beowulflied steht es als Symbol. Es verbirgt sich dahinter wohl ein reales historisches Geschehen: Nach langer glücklicher Regierungszeit mit Eigenständigkeit und Freiheit der Göten wird dieses Volk von den übermächtig werdenden Nachbarn, den Schweden, in deren Herrschaftsgebiet einverleibt. Beowulf war der letzte Garant der alten Selbständigkeit. Seinen heldenhaften Drachenkampf bezahlt er mit seinem Leben, mit dem auch sein Götenreich endet.


Primärliteratur:
Beowulf. Das angelsächsische Heldenepos über nordische Könige. Neue Prosaübersetzung, Originaltext, versgetreue Stabreimfassung. Übersetzt, kommentiert und mit Anmerkungen versehen von Hans-Jürgen Hube, Wiesbaden 2005