Donnerwurz
und Mäuseaugen


Die Kranken im Mittelalter
Volksmedizin & Heilkunst des „Gemeinen Menschen“

von Cita Lindemann

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Holzschnitt, Apotheke, um 1508..


Siegfried war religiös, er hat bestimmt an seine mythologisch verwurzelte Kraft geglaubt, hat getrunken, gegessen, getanzt, gelacht, geweint und er war sicherlich auch mal krank.
Die umfangreichste Literatur zu dem Thema bietet Heinrich Schipperges, Dr. der Medizin und Philosophie, er war Facharzt der Neurologie und Psychiatrie und 20 Jahre Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin in Heidelberg. Hildegard von Bingen war auch sein Thema.
In meinem Vortrag geht es mir nicht um Krankheiten, deren Entstehung und Entwicklung, oder um die großen Seuchen. Vorstellen möchte ich den kranken Menschen im Mittelalter, was es für den Menschen bedeutete, krank zu sein, wie er sich gefühlt hat, war Krankheit auch Schuld, welche Rolle der Glaube, der Aberglaube für den Menschen gespielt hat.
Krank sein war ohne den Zustand des Gesund seins nicht denkbar. Oft erfuhr der kranke Mensch die Qualitäten der Gesundheit erst über sein Leiden, über den Verlust seiner Arbeitskraft, seiner Existenz.
Warum „Donnerwurz und Mäuseaugen“? Die Volksmedizin oder Volksheilkunde ist aus dem gesamten Komplex Gesundheit – Krankheit – Heilung nicht wegzudenken.
Von Generation zu Generation war die überlieferte Heilkunst für den Menschen im Mittelalter ein Teil des alltäglichen Lebens. Dieser gesamten Komplex Gesundheit-Krankheit-Heilkunde ist heute mein Thema.

Der Mensch im Zentrum des Kosmos,
Das Weltbild des Menschen im Mittelalter.

Um Krankheit und Gesundheit zu verstehen, möcht ich sie mit dem Weltbild des mittelalterlichen Menschen vertraut machen. Ich möchte Ihnen eine Handschrift aus dem hohen Mittelalter vorlesen. Es ist ein Text aus dem Buch: „Das Buch der Werke Gottes“ und beschreibt die dominierende und den gesamten Alltag umfassende Gottesfürchtigkeit, zeigt den Menschen als Teil des Kosmos. Ein gewaltiger Text, wie sie hören werden. Heinrich Schipperges beschreibt dieses Bild in seinem Buch: „Der Garten der Gesundheit“
Auf einer Tafel erscheint die Gestalt der göttlichen Liebe, die mit majestätischem Flügelschlag das Universum umgreift und die Gestalt beginnt zu sprechen:
„Ich, die höchste und feurige Kraft, ich habe jeden Funken von Leben entzündet, und nichts Tödliches sprühe ich aus.... Ich, das feurige Leben göttlicher Wesenheit, ich zünde hin über die Schönheit der Fluren, ich leuchte in den Gewässern und brenne in Sonne, Mond und Sternen. Mit jedem unsichtbaren Lufthauch erwecke ich alles zu sichtbarem Leben. Die Luft lebt im Grünen und Blühen. Die Wasser fließen, als ob sie lebten. Die Sonne lebt in ihrem Licht, und der schwindende Mond wird vom Licht der Sonne wieder entzündet und von neuem belebt. Denn Ich bin das Leben. Ich bin das ganz heile Leben; nicht aus Steinen geschlagen, nicht aus Zweigen erblüht, nicht wurzelnd in eines Mannes Zeugungskraft. Alles hat seine Wurzel in mir.“
Mit diesem Bild möchte ich ihnen vermitteln, wie dicht und kraftvoll die religiöse Einbettung des mittelalterlichen Menschen in Gott, in den Kosmos war. Vor dem Hintergrund eines solchen Welt-Bildes wurden die Ereignisse Krankheit und Gesundheit gedeutet gelebt, gefühlt, verstanden.

Bewertung von Krankheit und Gesundheit

In keinem Kulturkreis und zu keiner Epoche waren Gesundheit und Krankheit stärker mit existentiellen Fragen des Menschen verbunden als im Mittelalter.
Im Kranksein erfuhr der Mensch die Erlösungsbedürftigkeit der ganzen Schöpfung, das Reinwaschen von seiner Schuld und in der Heilung sah er ein Zeichen ewigen Heils, erkannte er die Güte Gottes, erkannte er die Herrlichkeit des späteren Lebens.

Kranksein als schicksalhafter Bestand menschlicher Existenz.
Den Sinn von Kranksein zu verstehen, ist gar nicht so leicht. Was ins Auge fällt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der der Mensch als Ganzes wahrgenommen wurde. Wenn der mittelalterliche Mensch erkrankt war, dann war seine Natur, sein Geist erkrankt, sein Leib und seine Seele.
Der Kranke war aus der Vitalität seines Alltags herausgerissen, konnte seine Arbeit nicht mehr verrichten, er lag danieder, krank an Leib (Schmerzen) und Seele (entwurzelt, müde), vielleicht von Gott bestraft für seine Schuld, die oft nur ihm bewusst war. Er suchte die Heilung, das Heil.
Der Arzt oder Heilkundige sah in dem Kranken eine Störung, eine Störung in der Harmonie des Geistes und des Körpers. Hier den rechten Weg zu finden, das rechte Kraut zu finden, den Kranken zu führen, ihn in der Lebensführung zu unterrichten, das waren die Aufgabe des Heilkundigen. Wir erleben, wie Arzt und Patient, wie beide zu einem Vertrauensverhältnis finden, das den ganzen Menschen in einen heilenden, therapeutischen Prozess bringt. Die irdischen Heilmittel musste der Arzt oder Heilkundige kennen aber eine autonome Heilung, eine Heilung ohne den göttlichen Beistand war im Mittelalter undenkbar.
Jedem Geschöpf war bewusst, das Heilung nur möglich war mit der Barmherzigkeit des Heilenden und unter der Mitwirkung der Gnade Gottes. Denn der Arzt ist der Partner der Natur, im Auftrag Gottes. Die Natur ist in allem der Meister und der Künstler, der Arzt ist nur der Diener. (Hildegard von Bingen)
Der Arzt war der Baumeister der Gesundheit. Das Baumaterial lieferte die Natur, von Gott geschenkt. Unter diesem Aspekt erst verstehen wir des Menschen Krank-Sein. Kranksein war ein Fehlen und Verfehlen, ein Mangel an Sein, eine Deformation und Degeneration, ein Zuwenig oder ein Zuviel, ein Daneben.

In einer um 1350 entstandenen Sammlung von Erzählungen fragt der König den Philosophen: „In welcher Gesellschaft der Mensch wohl zu leben habe?“ Und der Philosoph antwortet: „ Mit sieben Genossen, die ihn beständig plagen: Hunger, Durst, Kälte, Hitze, Müdigkeit, Krankheit und Tod.“ Der Kranke, Arme oder Schwache, dessen Existenz bedroht war, der dem Tod oft so nah war, war besser in dieser Welt gegeißelt als später mit den Reichen und Mächtigen in der Hölle gepeinigt zu werden. Aus diesem Grunde sollte der Kranke sein Leiden mit Geduld ertragen.
Man sollte nicht murren in seiner Trübsal und man hatte immer daran zu denken, das die Leiden dieser Zeit nicht zu vergleichen waren mit der zukünftigen Herrlichkeit.
Gar heilsam konnte eine Krankheit sein, wenn sie das Herz (Seele) in seiner Verhärtung aufbrach. Kranksein machte hellhörig und sensibel – Kranksein als Weg.

Die Bewertung der Kranken im Mittelalter war äußerst vielfältig.
Zunächst zahlte der Kranke für seine Sünden, er wusste, das Krankheit und Tod, das Schicksal war, Der kranke Mensch hatte diesen Leidensweg anzunehmen, er hatte ihn zu gehen. Das soziale Umfeld stand ihm zur Seite und half in Barmherzigkeit und Mitmenschlichkeit. Für den mittelalterlichen Menschen war übrigens die Erbsünde eine Selbstverständlichkeit für die er hier im weltlichen büssen musste, um im späteren Leben in Heil und Herrlichkeit zu sein. Krankheit wurde auch als Strafe für persönliche Schuld aufgefasst, aber eher vorsichtig, hinter der vorgehaltenen Hand.
Auch heute noch bekannt und geläufig als gerechtes Schicksal. „Gottes Mühlen malen langsam.“
Krankheit konnte sogar als besondere Gnade Gottes gewertet werden, um schon auf Erden Verfehlungen abzubüßen. Er konnte sich glücklich schätzen, weil er am Tag der Abrechnung einen Teil seiner Schuld schon beglichen hatte.
So war eben das Kranksein von religiösen Vorstellungen geprägt.
Der Kranke Mensch, am Rande seiner Existenz angekommen, hilfsbedürftig und schwach verblieb generell in seinen oft schlichten sozialen Systemen gepflegt. Die Gemeinschaft der Familie übernahm Pflege, Obhut, sorgte sich um Frau und Kinder.

Gesundsein – das leibhaftige Wohlbefinden des ganzen Menschen.

Lebensordnung und Lebensführung
„Wohlgetan ist es, die Gesunden zu führen“ – dieser klassische Leitspruch des Hippokrates ist von der mittelalterlichen Medizin immer wieder aufgegriffen und weitergegeben worden. „Gesundheit“ erschien dem Menschen des Mittelalters als eine besondere Gabe Gottes, die er nicht nur als Geschenk anzunehmen hatte, sondern es war auch seine Aufgabe, diese Gesundheit zu pflegen.
Es gehörte einfach zu den Grunderfahrungen des Menschen im Mittelalter, das ihm alles, was ihm zur Befriedigung seiner Bedürfnisse dienen sollte, von der Natur gegeben wurde. Gleichzeitig sollte ihm bewusst sein, das Gesundheit ein labiler Zustand war und das er in jedem Punkte noch etwas dazutun musste, um seine Gesundheit zu erhalten.

Gesundheit sollte den Menschen zur Vervollkommnung des Lebens führen.
Gesundheit wie Krankheit waren im Mittelalter gottgewollte Zustände und verpflichteten den Menschen, ein heilsames Umfeld zu schaffen. Luft, Nahrung, Bewegung und Ruhe, Ausscheidungen und Absonderungen hatten in einem gesunden Gleichgewicht zu stehen. Und nicht zuletzt der Umgang mit seinen seelischen Affekten wie Freude oder Trauer, Zorn, Liebe, Temperament, Mitmenschlichkeit oder Barmherzigkeit, sollten Mitte und Maß aufweisen. Auch das Sinnen und Denken, das geistige Leben war eine Art von Speise, die verarbeitet wurde und den Menschen formte. Das ist heute genauso aktuell wie zu jener Zeit. Ab einem gewissen Alter kann der Mensch nicht mehr verstecken, sein Schicksal, was er hat erleiden müssen, wie er mit sich umgegangen ist.
Im 8 Jahrhundert, unter dem Einfluss der Karolinger, traten Gesundheitspflege und Heilkunde unaufhaltsam ihren Triumphzug durch den christianisierten Teil des Abendlandes an.
Ein einzigartiges Zeugnis medizinischer Lehrinhalte und Wissensvermittlung des 8. Jahrhunderts ist das „Lorscher Arzneibuch“, das älteste Werk im deutschsprachigen Raum zur Klostermedizin und eben auch zur Gesundheitspflege. Darum erwähne ich dieses Meisterwerk. Es ist übrigens bewusst christlich abgefasst worden, unter konsequenter Zurückweisung von Magie und Aberglauben. (Heute kann man das Buch in der Staatsbibliothek in Bamberg bewundern.) Gesundheitspflege/Lebenskunst und Heilkunde, Kräuter und Heilmethoden des Mittelalters sind darin niedergeschrieben.
Unter Gesundheitspflege und Heilkunst meinte man ein und dasselbe, beide Begriffe waren nicht klar abzugrenzen. Die individuelle Regelung der Lebensweise war das Schwergewicht der Gesundheitspflege und damit die Heilkunst an sich. Es kann dabei nicht deutlich genug herausgestellt werden, dass die Medizin in erster Linie ein Wissen um Gesundsein, eine Theorie der Gesundheit war und erst in zweiter Hinsicht eine mehr oder weniger erfolgreiche Krankenversorgung.
Medizin war die Wissenschaft vom Zustand der Gesundheit, von ihrem Verlust und ihrer Wiederherstellung.
Hier imponiert die Sorge für das Gesundsein, ehe man krank wird, und es imponieren die erstaunlichen Regeln einer Lebensordnung und einer gesunden Lebensführung im Alltag, die auch noch heute ihre Gültigkeit haben.

Unter Lebensordnung verstand man ganz einfache Dinge: Die „reine Luft“, mäßige Nahrungsaufnahme und die rechte Verdauung der Speisen. Auf aromatische Getränke wurde Wert gelegt. Waschungen des Körpers und angenehme Bewegungen waren von Nutzen. Nicht zu vergessen die .....„heilbringenden Affekte“. Damit waren gemeint ....“liebliche Melodien“ oder ....“der Anblick anmutiger Dinge.“ Die gesunde Lebensführung setzte sich aus fünf Regelkreisen zusammen:

Der erste Regelkreis
befasst sich mit Luft und Licht, womit die Außenwelt bzw. Umwelt gemeint ist. Der „Atem“ insbesondere ist ein Leben lang der beständig bestätigende Ausdruck unserer absoluten Abhängigkeit von der Umwelt, aber auch ein Sinnbild unseres Gehaltenseins." (Hildegard von Bingen) Beide Aspekte treten hier wieder in den Vordergrund: die kosmische Eingebundenheit und das Gehalten werden von Gott.
In der Praxis meinte man den Ausbau von Ziergärten. Grüne, lustbarliche Gärten, die dem reinen Vergnügen dienen sollten. Zur Freude des Auges, der Nase eben zur Lust aller Sinne. Dazu gehörten auch Bodenhaltung, Pflanzenwuchs die richtige Wetterseite beim pflanzen und die Gartenkunst allgemein.

Der zweite Regelkreis
ist der Umgang mit Speise und Trank. Wobei die Lebensmittel immer auch Heilmittel waren. Die Übergänge waren fließend. War der Mensch gesund, dann waren Speisen und Getränke die Lieferanten potentieller Energie und Ausdruck einer gesunden Leiblichkeit. Im Krankheitsfall war die Nahrung ein empfindlicher Indikator für die Störung der Leiblichkeit. (Beispiel: Tomatensalat – Kraftbrühe)
Völlerei galt allgemein als unfein. Ein arabisches Sprichwort sagt:
Iss und trink nur je ein Drittel und lass ein Drittel frei für das Nachdenken. (Ein voller Bauch studiert nicht gern)
Die Grundnahrung bestand aus Brei und Mus; Fleisch war den vornehmeren Kreisen vorbehalten. Bauern begnügten sich mit Pflanzenkost und Milchprodukten. Das Brot wurde erst im hohen Mittelalter zur Volksnahrung, während der Wein immer zur Verfügung stand.

Der dritte Regelkreis
war der Wechsel zwischen Bewegung und Ruhe. Gemeint ist ein rhythmischer Wechsel, der die innere Spannkraft und Ausgewogenheit ermöglichte.
Neben der täglichen Arbeit meinte man körperliche Beschäftigungen, die in der Freizeit anzuwenden waren. Gemeint waren Spiele, Sportarten, Wettkämpfe oder Ausreiten.
Hier tritt die Diskrepanz an den Tag zwischen dem Landmann, der mit seiner täglichen, schweren Arbeit keine Freizeit kannte, die er mit zusätzlichen körperlichen Aktionen ausfüllen musste, und den so genannten vornehmen Kreisen oder Adeligen, die nach körperlicher Beschäftigung suchten. Der größte Teil der Überlieferungen war für die vornehmen Leute geschrieben.

Der vierte Regelkreis
der Wechsel zwischen Schlafen und Wachen –der kosmische Bezug wird hier wieder deutlich, der Tag und die Nacht. „ wachend und schlafend wächst der Mensch und blüht auf wie ein Baum: Blut und Mark werden stark und seine geistigen Kräfte kommen zur Reife.“ So schrieb Hildegard von Bingen. Und weiter schreibt sie: „Richtig wach sein erhält den Menschen gesund, während zu viel Schlaf, und auch zu wenig, uns krank machen.“
Nachtkleider kannte man nicht, aber eine Nachtmütze, ansonsten schlief der Mensch nackt. Für Mönche und Nonnen bestanden besondere Vorschriften.

Der fünfte Regelkreis
Als letzter und fünfter Regelkreis ist zu nennen das Gleichgewicht der Gefühle und der Stoffwechsel-Haushalt. Mit dem Gleichgewicht sind die Gemütsbewegungen gemeint und damit die Lebenswärme, so das man mit Zorn, Furcht und Schrecken aber auch mit der Liebe nicht ungestüm umgehen sollte. Zur Trauer gehörte ebenso die Freude am Leben, Hildegard von Bingen nannte es die Freude im Leibe, sie schrieb:
„Der christliche Alltag bot Anlass genug, „die Trauer mit dem Schwerte der Freude zu erschlagen.“ Also, in der arbeitsfreien Zeit nicht nur im Gebet versinken, die Freude gehörte ebenso zu einer gesunden Leiblichkeit.
Stoffwechsel meint hier die Verdauungssäfte, die alles Schlechte und Überflüssige auszuscheiden helfen und in einem rechten Verhältnis dem Menschen kein Unwohlsein bescheren.
Zu Mitte und Maß der sagt die traditionelle chinesische Medizin: Man muss das Trübe vom Klaren trennen, im Körperlichen wie im Seelisch/Geistigen.

Erwähnen möchte ich noch die sog. Zwischengebiete, das waren die Grenzbereiche von Gesundheit und Krankheit, ein unerschöpfliches Gebiet, barmherzig tätig zu sein. Hildegard von Bingen nannte diese Zwischengebiete „neutralitas“.
Ein Übergangsfeld, in dem man all jenen Mitmenschen begegnete, die einer allgemeinen Versorgung besonders bedürftig waren: Gemeint waren die Armen, die Schwachen und die Bettler, die Blinden, Waisen und Krüppeln, die Pilger und die Verbannten.
Gesundsein war also mehr als die bloße Abwesenheit von Krankheit; Gesundheit war “das Optimum an Lebensfähigkeit und Genussfreudigkeit“. Gesund- und heil – sein bedeutete letztlich: Im Einklang mit Gott sein, bedeutete Harmonie für Körper und Seele .

Donnerwurz und Mäuseaugen
Volksmedizin, Heilkunst des „gemeinen Menschen“

Das Büchlein von Dr. Moritz Kronfeld: „Zauberpflanzen und Amulette in der Volksmedizin“ (ich habe es über Amazone im Internet gefunden) war ein echter Glücksgriff, es liest sich wie ein Krimi und beschreibt die Praxis und Bedeutung der Volks-Heilkunde bzw. die Heilkunst im Mittelalter. Es ist gespickt mit vielen Geschichten, Legenden, Überlieferungen, die die magischen und mythologischen, zauberhaften und heilenden Kräfte der überlieferten Volksmedizin widerspiegeln.

Krank konnte jeder werden, unabhängig von Stand und Reichtum. Und Gleich sollte jeder behandelt werden, der von einer Krankheit befallen war. Viele Menschen waren allerdings arm und konnten sich ärztlichen Beistand nicht leisten.
Im frühen Mittelalter hat man den heilkundlich Gebildeten wenig vertraut und die heilkundlich Gebildeten also die Ärzte hielten Bader und Kräuterfrauen für Scharlatane.
Dieser Ausdruck kommt aus dem italienischen und heißt soviel wie „schwatzen“, oder man nannte sie Quaksalber. Dieser Begriff stammt von den niederländischen Wörter „kwakken“ = wie eine Ente schnattern und „zalver“ = das ist der Salbenverkäufer, ab. Mit diesen Worten sollte angedeutet werden, dass diese Menschen ihre unlautere Tätigkeit zumeist auch mit unlauteren Mitteln ausübten, was ja auch vielerorts passierte und auch heute noch passiert.
Wenn der „gemeine Mensch“ im Mittelalter krank wurde,
dann suchte er Hilfe und Trost bei weisen Frauen oder Kräuterweibern oder er wandte sich an einen Bader. Diese heilkundigen Menschen wurden nicht an Klosterschulen ausgebildet. Sie hatten ein von Generation zu Generation überliefertes Wissen über Krankheiten, Heilmethoden und Heilmittel.

Es ist allerdings bekannt, das diese heilkundigen Menschen einen gewissen Bildungsgrad hatten und das ihnen die Klostermedizin nicht unbekannt war.
Diese Volksmedizin lebte von der Erfahrung mit kranken Menschen, von der Selbsterfahrung, vom Glauben, oder auch Aberglauben, und magische Elemente spielten eine große Rolle. Da die schriftlichen Überlieferungen fehlen, ist die Tragweite der Volksmedizin und damit die breite Resonanz der Volksmedizin im Alltag des mittelalterlichen Menschen kaum abzuschätzen.
Die „Merseburger Zaubersprüche“, die in dem Einband eines Gebetbuches in der Bibliothek des Merseburgers Domkapitels entdeckt wurden, sind ein Zeugnis der Volksmedizin, seiner magischen Bereiche, ein Zeugnis der Zaubermedizin, die in der Volksmedizin ihren Ursprung fand und über Jahrhunderte von Generation zu Generation weiter gegeben wurde.
Es gibt genügend Rezepte, wo magische Beschwörungsformeln den Patienten von seinem Leiden erlösen sollten, wo sie ihm Glück und Reichtum bringen möchten. Kräuter und Pflanzen sollten den Menschen nicht nur heilen sondern auch vor Unheil bewahren.
Auch die Kirche bediente sich dieser Praktiken. Denken wir nur an die Teufelsaustreibungen und die Tortouren, wenn während der Inquisition Geständnisse erpresst wurden.
Natürlich war die Klostermedizin die Bewahrerin der Heilkunde und Kräutermedizin. Hier wurden die Kräuterbücher geschrieben, medizinische Abhandlungen und Erfahrungen festgehalten. Hier wurde gelehrt und studiert.
Mit einigen Pflanzen, die ein jeder kennt, möchte ich Ihnen einen kleinen Einblick in die Volksmedizin vermitteln. Pflanzen, die in ländlichen Gebieten auch heute noch Ihre Bedeutung haben und die mit ihrer Zauberkraft Glück brachten, dem Menschen Heilung verschafften und ihn beschützt haben im Unglück, beim Sturm, vor giftigen Getränken oder vor der Armut.

Donnerwurz oder Hauswurz
Die Pflanze war dem Gott Donar gewidmet. Sie ist eine magische Pflanze und wird auf die Dächer gepflanzt. Sie soll vor Blitz und Donner schützen, vor Unwetter allgemein, auch„Donnerbart“ genannt.
Andererseits war Donar in unseren Breitengraden der Gott des Donners. Er bringt als Gott des Gewitters den Feldern die Wohltat des Regens, er vertreibt den Frost und die Winterkälte. Er war ein freundlicher Gott und der Freund des Menschen. Nach ihm ist der Donnerstag benannt.
Karl der Große (also schon im 9. Jahrhundert) verlangte ausdrücklich die Anpflanzung von Donnerwurz auf allen Reichsgütern und jeder Bauer musste den Donnerbart gegen den Blitz auf seinem Haus besitze. Die steirische Bäuerin legt es sich gegen Kopfweh auf die Stirn.
Die Überlieferung des Volksglauben besagt, wenn der Donnerwurz weiß blüht, gibt es einen Todesfall in der Familie. Sind die Blüten lilarosa, steht Glück ins Haus.
Da die Blüten rosa/weißlich sind, war das natürlich Ansichtssache, ob Tod oder Glück das Haus heimsucht.

Das Kleeblatt – Trifolium repens
Das Kleeblatt gehört zu den Glückssymbolen. Die geringe Wahrscheinlichkeit, dass man solch ein Blatt findet, ist gleichzeitig eine Eigenschaft dieses Symbols.
Die Blattform dieses Klees ist in den Dienst christlicher Symbolik gestellt worden.
Die Legende erzählt, das der fromme Mann den Iren, die den Begriff der Dreifaltigkeit nicht zu fassen vermochten, ein Kleeblatt gezeigt habe, an dem drei Blättchen aus dem Stiel hervor wuchsen. Heute ist das Kleeblatt das Nationalzeichen der Iren, zusammen mit der Harfe der alten Barden.
Und man müsse das Kleeblatt am Sonntag im Gebetbuch mit in die Kirche nehmen, dann kommt das Glück bestimmt ins Haus.
Wer weiß, vielleicht legte sich König Gunter ein Kleeblatt in das Gebetbuch, als er seine Liebe zu Brunhild entdeckte. Der Grundriss der Werners-Capelle in Bacherach bildet ein Kleeblatt, sicherlich eine Ausnahme.

Die Alraune - Mandragora
Die Alraune ist die bekannteste Heil- und Ritualpflanze, giftig und seid der Antike ein Zaubermittel. Die besondere Wurzelform sieht einer menschlichen Gestalt ähnlich und wird auch Dollwurz, Zauberwurzel oder Galgenmännchen genannt.
Die Alraune war ein begehrter Talisman und sollte vor bösen Zauber und Verwundungen aller Art helfen.
Im Mittelalter wurde ein schwungvoller Handel mit dieser pflanzlichen Wurzel betrieben.
Hildegard von Bingen hat der Alraune in ihrer Literatur ein ganzes Kapitel gewidmet. Für Sie lebte der Teufel in der Pflanze.
Hier wird klar, wie intensiv die Heilkunde, die Heilkunst der Klostermedizin auch mit Magie und Zauber durchtränkt war. Die Kulturgeschichte der Alraune ist ein Vortrag für sich.

Die Weinraute – Ruta graveolens
Erwähnenswert ist diese Zauberpflanze, weil man ihr gegen Gifte außerordentliche Kräfte zumutete. Zitat:
„Salbei und Raute, vermengt mit Wein, lässt dir den Trank nicht schädlich sein.“
Aus der Raute wurde mit Hilfe anderer Kräuter der „Vierräuberessig“ bereitet. Er wurde so genannt, weil während der Pest von Marseille vier Räuber, die ihn getrunken hatten, ohne sich anzustecken, die Pestkranken und Toten ausplündern konnten.
Dieser Essig heißt auch „Pestessig“ oder „Spitzbubenessig“.
Man nehme Raute, Wermuth, Rosmarin und Wacholderbeeren, Lavendel, Kalmus, Knoblauch, Zimt, Muskat und Gewürznelken. Ein solches Getränk hat es in sich. (s. Vierräuberessig)

So sind Kräuterrezepturen entstanden, durch erzählen überliefern und ausprobieren.
In der Schweiz wurde Weinraute gemeinsam mit Birnbrot oder Hutzelbrot, Salz und Eichenkohlen in ein Tuch gepackt, alles in ein Loch in der Türschwelle gelegt und dieses Loch mit einem Rechenzahn verstopft. Mit dieser Abfütterung versöhnte man alle Geister und Hexen, die als Gewürm im Schwellenholz hausen mussten. So schlecht war das gar nicht. Diese Mixtur hat höchstwahrscheinlich das Ungeziefer dem Haus ferngehalten.
In Frankreich nennt man die Pflanze „Das Kraut der schönen Mädchen“, sie war bekannt wegen ihrer abtreibenden Wirkung. Angeblich mussten im Botanischen Garten in Paris die Rautenpflanzen mit einem Gitter umgeben werden, weil junge Mädchen die Bestände plünderten.
Die Klostermedizin lehnte die Volksmedizin wegen ihrer magischen Elemente zwar ab, kannte aber sehr wohl die Wirkung und den Einsatzbereich bestimmter Kräuter und hatte auch keine Probleme, diese einzusetzen.
Mönche, die ihr Keuschheitsgebot halten wollten, pflanzten Raute, das „Gnadenkraut“ in den Garten und tranken Rautenwein als Sedativum, also zur Beruhigung der Sinne.
Höchstwahrscheinlich war es weniger die Raute, die die Lust der Mönche beruhigte, sondern vielmehr die Menge des Alkohols, die ihre Lust vergessen ließ.
Auch Hildegard von Bingen hatte Kenntnisse von der Volksmedizin. Sie empfahl Rezepturen, die an die Praxis weiser Frauen erinnerten. Hier ein Rezept von ihr gegen Impotenz:
„Ein Mann, dem der Samen abgeht, so dass er nicht zeugen kann, nimmt Haselkätzchen und zum dritten Theil davon Mauerpfeffer und zum vierten oder fünften Theil von Mauerpfeffer Winde und etwas gewöhnlichen Pfeffer und kocht dies zusammen mit der Leber eines jungen Hirsches, der schon reif ist zur Fortpflanzung, fügt auch etwas frisches, fettes Schweinefleisch hinzu. Die Kräuter wirft man weg, das Fleisch isst man, taucht auch Brot in die Brühe und isst es, und dieses Essen wiederholt man häufig ...“
Wissen wir, ob König Gunter Herr seine Manneskraft gewesen wäre, wenn sein Freund Siegfried ihm dieses Mahl empfohlen hätte? Hätte – hätte – hätte. Vielleicht wäre ihm das Hängen im Baum verschont geblieben. Die Raute findet in der heutigen Pflanzenheilkunde keine Verwendung mehr.