Träume
Kriemhilds
Analyse und Vergleich

von Alfred ten Katen

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Kriemhilds Traum, Collage nach Czeschka, 1920 ..


Träume faszinieren die Menschheit nicht erst seit der Veröffentlichung von Freuds Jahrhundertwerk „Die Traumdeutung“[1], sondern schon seit biblischen Zeiten. So überliefert die Bibel[2], dass Josephs Träumen prophetische Bedeutungen zugesagt werden (Gen. 37, 1-11).

In seinem Aufsatz „Byzantinische Traumsymbolik und Kriemhilds Falkentraum“[3], den er in der Germanisch-Romanischen Monatsschrift publiziert hat, schreibt Emil Ploß dann auch, dass schon in der Antike Traumforschung betrieben wurde, um Menschen, die – damals wie heute – von Träumen gequält wurden, eine Antwort beziehungsweise einen Rat geben zu können.

Auch viele Literaten ließen sich durch die Jahrhunderte von Träumen inspirieren und haben die nächtlichen Bilder in ihren Werken literarisch verarbeitet, wobei die Erzähler des Hochmittelalters, deren Texte in dieser Arbeit im Zentrum stehen werden, keine Ausnahme darstellen. Literarische Träume unterscheiden sich von realen Träumen darin, obwohl beide Traumarten Auslöser eines bestimmten Handelns sein können, dass literarische Träume immer einen narrativen Grund haben und somit immer bedeutungsvoll sind.

In dieser Arbeit sollen nur literarische, das heißt fiktive Träume im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, wobei vor allem die Reaktion und die Verhaltensmuster der Protagonisten von Interesse sein werden.

Entscheidend für die Auswahl der in dieser Arbeit benutzten Primärtexte war eben dieses angesprochene Verhaltensmuster. In jedem Text geht der Protagonist anders mit den Einblicken, die ihm oder ihr in die Zukunft gewährt wurden, um. So ignoriert Ritter Parzival sein Traum augenscheinlich völlig, für Marjodo und Moriz wirkt der Traum dagegen handlungsauslösend. Helmbrecht und Kriemhild, die in ihren Träumen ein schreckliches Zukunftsbild vor Augen geführt wird, versuchen die Bilder mit aller Macht nicht wahr werden zu lassen.

Es wird, weil diese Arbeit sich auf Träume, die prophetischer Natur sind, beschränken wird, soll es nicht darum gehen, diese Tatsache zu bestätigen, sondern darum, die Vielfalt und die Bedeutung der Protagonistenreaktionen darzustellen.

Außer dass die Träume alle prophetischer Natur sind, die allen eine unheilvolle Zukunft zeigen, und dass die Träumer jedes Mal anders reagieren, ist noch wichtig, zu erwähnen, dass die hier behandelten Texte alle im 12. und 13. Jahrhundert entstanden sind.

Vorgehensweise

Aus der Tatsache, dass sowohl die Funktion eines Traums als auch die Reaktion eines Protagonisten sehr unterschiedlich sein kann, folgt, dass die Deutungsvarianten ebenso vielfältig ausfallen können. Um trotzdem eine Interpretation zu ermöglichen, könnte ein Fragenkatalog die Deutungsgrundlage bilden. Man sollte aber – wegen der Vielfältigkeit der Traumfunktionen und Protagonistenreaktionen – im Hinterkopf behalten, dass nicht jeder Traum alle Fragen beantworten kann. So kann eine Frage für einen Traum den Kern bilden und für einen anderen bedeutungslos sein. Versucht wird jedoch, jede Frage des Katalogs zu beantworten.

Der Fragekatalog ist so zusammengestellt, dass alle Ebene, Erzählungsebene, Rezipientenebene, Protagonistenebene, mit Bezug auf die Träume berücksichtigt werden. Dieser oben angesprochene Fragenkatalog umfasst folgende Fragen:

Erzählungsebene

  • Welche Funktion hat der Traum innerhalb der Erzählung?
  • Ist der Traum in dieser Funktion unabdingbar für den Fortgang der Handlung?

Rezipientenebene

  • Lassen sich Träume in Kategorien einteilen oder sind die Arten zu vielfältig oder die Vertreter zu selten?
  • Kann man den Traum als häufiges Phänomen in der mittelalterlichen Epik bezeichnen? Wie stellt sich der Traum dar?
  • Welche Bedeutung hat der Traum für den Leser beziehungsweise den Zuhörer?
  • Müssen oder können die Rezipienten den Traum selbst deuten oder tun das die handelnden Figuren? Wie verhält sich der Erzähler?

Protagonistenebene

  • Besteht er aus einem einzelnen Bild, das der Träumende sieht, oder folgen mehrere Szenen aufeinander? Wie reagieren die Figuren auf den Traum?
  • Besteht er aus einem einzelnen Bild, das der Träumende sieht, oder folgen mehrere Szenen aufeinander? Wie reagieren die Figuren auf den Traum?
  • Spricht der Träumende darüber oder behält er das Geträumte für sich?
  • Wenn der Protagonist davon spricht, wie reagieren die anderen Figuren?
  • Wer deutet den Traum?
  • Wird der Traum überhaupt gedeutet oder völlig ignoriert?

Diese Fragen sollen in dieser Arbeit an die verschiedenen Träume gestellt werden. Da Träume durch den prophetischen Charakter, der allen hier besprochenen Träumen zu eigen ist, immer Wissen vermitteln, soll diese Wissensvermittlung Grundlage für die grobe Einteilung der Träume sein: Die Traumbotschaft kann dem Hörer beziehungsweise dem Leser, also den Rezipienten, Wissen mitteilen – oder den Protagonisten oder auch diesen beiden gleichzeitig. Somit lässt sich bereits eine Frage aus oben angeführtem Fragenkatalog beantworten: Träume können in Kategorien eingeteilt werden, obwohl sie sehr viele unterschiedliche Funktionen und Folgen haben. Hier wurde als Entscheidungskriterium die Wissensvermittlung gewählt.

Vorliegende Arbeit schafft es leider nur, für jede gefundene Kategorie ein einzelnes Beispiel zu untersuchen, was nicht bedeutet, dass sich für die einzelnen Traumgruppen keine weiteren Beispiele finden ließen.

In der Arbeit sollen die Träume in drei verschiedene Kategorien unterteilt werden, um nach den Gesichtspunkten der jeweiligen Kategorie interpretiert werden zu können.

  • Der Traum teilt den Rezipienten Wissen mit
    Parzivals Traum[4]
  • Der Traum teilt der Figur Wissen mit
    Moriz von Craûn[5]
    Der Traum Marjodos
    (Tristan und Isolde)[6]
  • Der Traum teilt Publikum und Figur gleichzeitig Wissen mit.
    Helmbrechts Träume[7]
    Die Träume Kriemhilds (Nibelungenlied)[8]

Klaus Speckenbach unterscheidet in seinem Aufsatz „Von den troimen“ drei Traumtypen. Erstens der von äußeren Einwirkungen beeinflusste Traum, der sich literarisch als wenig verwendbar erweist, zweitens die bewusste Täuschung durch einen Traum und drittens der mantische Traum.[9]
Für die hier untersuchte These soll nur die letzte Kategorie von Interesse sein, da die hier ausgewählten Träume, wie sich im weiteren Handlungsverlauf der jeweiligen epischen Werke und wie auch in der Arbeit gezeigt werden soll, immer prophetischer Natur sind. Dies ließe sich anhand der im Mittelalter verbreiteten Traumtheorie belegen, die zu der Zeit davon ausging, dass Träume von Gott gegeben waren, die wahr werden konnten. Auch wenn in weltlicher Dichtung die göttliche Herkunft eines Traumes nicht betont wird, muss man immer noch die Erwartung der mittelalterlichen Rezipienten, dass das Geträumte sich im Laufe des Geschehens bewahrheiten wird, im Hinterkopf behalten.[10]
Auch wird in der Traumtheorie oftmals darauf hingewiesen, dass die Deutung eines allegorischen Traumes nur ein Kundiger vornehmen kann. Doch dies wird in den epischen Texten nur gestreift beziehungsweise gar nicht erwogen, wie sich bei den einzelnen Interpretationen noch genauer zeigen wird.
Die spannende Variation liegt in dieser Arbeit also in sowohl den Funktionen der Träume also auch im Umgang der handelnden Figuren mit dem Traum.

Handeln aus Angst

Im Nibelungenlied werden nur Frauen – was von Teilen der Forschung als Klischee der mittelhochdeutschen Epik angesehen[11] und in diesem spezifischen Fall bestätigt wird – mit Warnträumen konfrontiert, die, wenn sie ihre Ängste ihren Männern gegenüber aussprechen, von denselben ignoriert werden. So träumt Kriemhild insgesamt drei Mal den Tod ihres geliebten Mannes Siegfried. Kriemhild nimmt diese Träume als Einblicke in die Zukunft ernst und versucht auch dementsprechend aktiv, die ihr offenbarten Prophezeiungen über Siegfrieds und damit zusammenhängend ihr Schicksal nicht wahr werden zu lassen.

Das Nibelungenlied

Brackert nimmt an, obwohl die Ursprünge wohl in Dunkeln liegen, dass der Nibelungenstoff bereits im 5. oder 6. Jahrhundert während der Völkerwanderungszeit sein Wurzeln hat. Er geht weiterhin davon aus, dass die Sage um Siegfrieds Tod und den Untergang von Burgund nicht als eine kohärente Geschichte, sondern als zwei unabhängig voneinander existierende Erzähltraditionen verbreitet waren, ehe sie erstmals im Nibelungenlied miteinander verbunden wurden. [12]

Die Entstehung des Nibelungenliedes ist – wie die des Stoffes an sich – vor allem wegen der unsicheren Quellenforschung noch in Nebel gehüllt, sie wird aber für den Anfang des 13. Jahrhunderts angesetzt.[13] Die Gattung, worunter das Nibelungenlied auch fällt, das Heldenepos, gelangte um 1200 (etwa zur selben Zeit wie der höfische und der Artusroman) zur Blüte.[14] Den alten maeren des eigenen Volkes, wie unter anderem dem Nibelungenlied, wurden zum Teil heldische Züge verliehen. So kennzeichnet sich auch das Nibelungenlied durch eine interessante Mischung, die das Spannungsfeld des Epos bildet, aus modernen höfischen und archaischen Elementen.[15]

Im Folgenden sollen aber die drei Träume Kriemhilds, in denen ihr die Ermordung ihres Mannes offenbart wird (und nicht des Epos schleierhafte Entstehung), im Mittelpunkt der Beobachtung stehen. Eine große Anzahl der kaum mehr zu überblickenden Forschungsliteratur setzt sich zwar mit der Person Kriemhilds auseinander, dagegen nur sehr marginal mit deren Träumen. Von den Träumen, die bei den Forschern Beachtung finden, scheint es vor allem der erste, der so genannte „Falkentraum der jungfräulichen Kriemhild“, zu sein, der am meisten Interesse zu wecken weiß, als die von ihr als Königin offenbarten Träume.[16]

Der Falkentraum

Nachdem in der ersten Aventiure des Nibelungenliedes den Rezipienten Informationen über die gegebenen Verhältnisse, die schöne Prinzessin am Wormser Hof, die von ihren drei mächtigen Brüdern geschützt wird, übermittelt wurden, träumt Kriemhild ihren ersten Traum.[17]

Im Vers 12, 2-4 wird dem Rezipienten gesagt, dass Kriemhild in diesem ehrenvollen Lebenskreis träumte, „wie si zvge einen valchen | starch scoen vnt wilde den ir zwene aren erchrvmmen | daz si daz mvoste sehn ir en chvnde in dirre werlde | leider nimmer geschehn“.

Diese Traumbilder haben die junge Kriemhild so schockiert, ihr konnte, so der Erzählerkommentar, „nimmer leider sîn geschehen“ (12-4), so dass sie ihrer Mutter unmittelbar von dieser nächtlichen Botschaft kundgetan hat. Ihre Mutter Ute erweist sich sogleich als fähig, den ihr übermittelten Traumablauf richtig zu deuten, wie die weitere Handlung des Nibelungenliedes bezeugt.

„der valke“, so erklärt Ute ihrer Tochter, „den du ziuhest, daz ist ein edel man:| in welle got behüeten, du muost in schiere vloren hân.“ (13, 3-4).[18]

Weil die junge Prinzessin diese schreckliche Prophezeiung nicht wahr werden lassen will, entscheidet sie sich dafür, möglichen Werbern ihre Hand von Anfang an zu entsagen, sie will für immer „âne recken minne“ (14,2) bleiben. Denn, so erklärt die jungfräuliche Kriemhild ihrer Mutter, „sus schoene wil ich blîben unz an mînen tôt, | daz ich sol von manne nimmer gewinnen keine nôt“ (14, 3-4).

Wahrscheinlich nahmen aber die mittelalterlichen wie auch die modernen Rezipienten sowie ihre Mutter Kriemhilds Schwur, ihr Leben ohne „mannes minne“ verbringen zu wollen, nicht so ernst.[19] Sie mahnte ihre Tochter, das nicht „ze sêre“ (15,1) zu beteuern. Denn sollte Kriemhild „immer herzenlîche zer werlde werden frô, daz geschiht“, nach Ute, „von mannes minne. du wirst“, so sagt sie ihr, „ein schoene wîp, obe dir got noch gefüeget eins rehte guoten rîters lîp.“ (15, 3-4).

Doch trotz der Worte ihrer Mutter beharrt sie weiter auf ihrer Ansicht und argumentiert, dass „ez ist an manegen wîben vil dicke worden schîn wie liebe mit leide ze jungest lônen kan. ich sol si mîden beide: son kan mir nimmer missegân“ (16, 3-4).

An dieser Stelle meldet sich sogar der Erzähler durch die Vorausdeutung, dass Kriemhild „eins vil guoten rîters wîp“ (17,4) werde und dass eben jener „der selbe valke“ (18,1) sei, „den si in ir troume sach“ (18,1). Weiter sieht der Erzähler voraus, dass durch diesen Ritter beziehungsweise des Falken Tod „vil maneger muoter kint“ sterben muss.[20]

Der Erzähler macht hier noch deutlicher als die Interpretation des Falkentraumes von Königin Ute, dass der Ritter der „selbe valke“ sei, „den si in ir troume sach“ (18,1), und dass der Ritter, so wird sich später herausstellen, Siegfried sein wird. Dieser im Traum auftauchende Falke ist also allegorisch verschlüsselt beziehungsweise identisch mit Siegfried.

Nicht nur Königin Ute oder der Erzähler, sondern auch das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens verleiht uns Einsichten in die Symbolik des Traumes der Prinzessin. So stellt sich nach einem Blick in dieses Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens heraus, „dass im deutschen Mittelalter […] oft der Held oder insbesondere der Geliebte mit einem Falken verglichen [wird], so im Nibelungenlied.“[21] Und auch in der Forschung herrscht Einigkeit in diesem Punkt[22], so dass die allegorische Verschlüsselung von Siegfried und dem Falken als sicher vorausgesetzt werden kann.

Als Kriemhild sich die Interpretation des Traumes von ihrer Mutter angehört hat, handelt sie ohne zu zögern entsprechend. Um die Erfüllung dieser schrecklichen Prophezeiung vermeiden zu können, ist sie bereit, nie einen Mann in ihrem Leben zuzulassen beziehungsweise nie jemandem ihr Herz zu schenken, weil sie damit nicht nur Liebe, sondern auch „leide“ vermeiden kann (16,3). Die junge Prinzessin ist, wie ihre Reaktion auf die Trauminterpretation zeigt, noch naiv und unerfahren.[23] Sie ist dann auch am Wormser Hof wohlbehütet, so wird erzählt, wie die „drî künege“ (3,1) die Prinzessin in „ir phlâgen“ (3,4 ) hatten, aufgewachsen.[24] Auch sorgen „die besten recken, von den man hât gesaget, stark unt vil küene, in allen strîten unverzaget“ (7,2-3) für ihre Sicherheit, so dass man annehmen kann, dass Kriemhild keiner Gefahr ausgesetzt war, sogar ein passives Leben geführt haben muss.

Wie passiv sie auch in ihrem Alltag wirken möge, solch eine aktive Rolle spielt sie in ihrem Traum. Der Falke fliegt nicht von ungefähr zu Kriemhild, was eine passive Rolle wäre, nein, sie zieht einen großen Falken zu sich und trainiert ihn für die Jagd „manegen tac“ (12,2).[25] Nun muss sie mit ansehen, wie zwei „arn“ diesen von ihr trainierten Falken „erkrummen“ (12,3). So, wie der Falke auf das Opfer hinweist, so verweisen die beiden Adler auf die Täter. Der Falke wird hier von zwei königlichen Tieren, die auf Wappen prangen, „erkrümmt“.

Artemidor, einer der wichtigsten Traumdeuter der Antike, sah, so Emil Ploß, in einem drohenden Adler die Ankündigung einer Gefahr von einem mächtigen Mann.[26] In diesem Stadium der Geschichte kann man allerdings, da man sowohl von Hagens Misstrauen Siegfried gegenüber als auch von Gunters Mittäterschaft noch nichts weiß[27], die zwei Adler nicht näher bestimmen als so weit, dass es sich hier wohl um zwei mächtige Männer handeln muss.

Dass Kriemhild von dem „erkrimmen“ des Falken schockiert ist, wird noch nachvollziehbarer, wenn man das Handwörterbuch von Matthias Lexer zur Hand nimmt, in dem „erkrimmen“ mit „zerkratzen (mit Schnabel, Klauen, Nägeln)“ übersetzt wird, wobei Lexer auch direkt auf das Nibelungenlied verweist.[28]

Die zwei Adler, die einen Falken mit ihren Schnäbeln und Klauen „zerkratzen“, müssen beim Publikum wie auch beim Kriemhild, die durch diesen Anblick „in dirre werlde nimmer leider sîn geschehen“ (13) konnte, ein schreckliches blutiges Bild hervorgerufen haben.

„Tierträume haben“, so sagt Heinrich Beck unmissverständlich, „vorausweisende Funktion. Zukünftiges Geschehen wird in einem Tiertraum offenbart. Den Traum kann derjenige entschlüsseln, der die Verweisstruktur zwischen Tier und Mensch erkennt und die Hintergründigkeit des im Traum Dargestellten richtig deuten kann.“[29]

Ute ist also diejenige, die in der Lage ist, Kriemhilds Falkentraum – im Gegensatz zu Kriemhild selbst, die die Verweisstruktur noch nicht kennt – zu entschlüsseln. Dass die junge Prinzessin die Verweisstruktur noch nicht kennt, ergibt sich aus ihrer unmittelbaren Reaktion, für ewig „âne recken minne“ zu bleiben, um die im Traum offenbarte Prophezeiung vermeiden zu können.

Die Prophezeiung setzt sich so oder so durch und am Ende des Nibelungenliedes wird denn auch klar, dass gerade die Schönheit, die Kriemhild über alles in der Welt bewahren wollte, der Grund für viel Leid und den Untergang der Burgunder sein wird. Zum Ende hin werden die Worte der Prinzessin also erst transparent, sind also „zwielichtig“, wie Otfried Ehrismann es nennt, denn „immer spricht so der (wissende) Epiker durch seine (ahnungslosen) Gestalten zu dem (ahnenden) Hörer“.[30]

Zweiter Traum

Erst Jahre später, als Kriemhild doch nicht „âne recken minne“ blieb und Königin an der Seite Siegfrieds geworden ist, träumt sie zum zweiten Mal (929f.). Siegfried, der – so wissen die Rezipienten jetzt – allegorisch mit dem Falken verschlüsselt war, hat es geschafft, Kriemhild von ihrem Schwur, „âne recken minne“ zu bleiben, abzubringen und sie zu heiraten.[31] Diese Ehe ist – so wissen die Rezipienten auch bereits – anhand trügerischer Bedingungen zustande gekommen, sie ist bildlich auf Treibsand gebaut und bildet den Auftakt für den Königinnenstreit[32] und den darauf folgenden hinterlistigen Plan Hagens.

Hagen lässt Kriemhild unter dem Vorwand, ihn so besser schützen zu können, Siegfrieds verwundbare Stelle verraten.[33]

Während der Nacht vor der trügerischen Jagd wird Kriemhild von bösen Träumen heimgesucht, die sie ihrem Gatten erzählt, damit er nicht zur Jagd gehe, sondern bei ihr bleibe. Siegfrieds Gattin weinte „âne mâze“ (928,4), als sie ihrem Mann von den schrecklichen Bildern erzählt, die sie in ihrem Traum mit ansehen musste: „mir troumte hînt leide, wie iuch zwei wildiu swîn | jageten über heide: dâ wurden bluomen rôt“ (929, 2-3).

Kriemhilds Weinen „âne mâze“ (928,4) bestätigt ihre Überzeugung, einen Blick in die Zukunft bekommen zu haben, anstatt es als harmlosen Spuk abzutun.

Auch der oben schon eingeführte Traumdeuter Artemidor von Daldis hat ein paar Worte über einen im Traum erscheinenden Eber verloren, die das „wildiu swîn“[34], das im Kriemhilds Traum auftaucht, als gewaltigen Gegner interpretieren.[35]

Klaus Speckenbach folgt dem Griechen nicht in dieser Ansicht. Im Gegensatz zu ihm bezeugt der auftauchende Eber eine „ursprünglich positive, Achtung dokumentierende Grundeinstellung zu Gunter und Hagen“ durch Kriemhild.[36] Dies ließe sich aus der Tatsache erklären, dass Gunter neben dem Beschützer des Königs von Burgund auch Kriemhilds Beschützer ist.

Auch Emil Ploß versucht, wie Artemidor von Daldis und Klaus Speckenbach, das Auftauchen eines Ebers in einem Traum zu erklären und bietet eine interessante Begründung.

Er hebt die Traumlehre der Inder, Perser und Ägypter hervor, die (wie Artemidor) davon ausgingen, dass ein Eber als mächtiger Feind interpretiert werden kann, der aber (und da weicht diese Traumlehre von der Artemidors ab) nicht beachtet wird. Ploß sieht in Siegfrieds Verhalten Kriemhild gegenüber, „indem er Kriemhilds Träume als belanglos abtut“[37], dieses Nichtbeachten eines mächtigen Feindes.

Diese drei exemplarisch angeführten Deutungsvarianten erscheinen plausibel und machen damit die Ambivalenz allegorisch verschlüsselter Träume einmal mehr deutlich. Kriemhild hat also nach ihrem „Falkentraum“ als Prinzessin wieder einen Tiertraum, in dem diesmal „zwei wildiu swîn“ statt der beiden „arn“ aus ihrem ersten Traum auftauchen, die jedoch wieder den Tod symbolisieren, verschlüsselt durch die Worte „dâ wurden bluomen rôt“. (929,3)

Die Königin wirkt das zweite Mal genauso verzweifelt wie das erste Mal und macht sich Sorgen über die feindliche Gesinnung, die ihnen gegenüber am Gunter’schen Hof herrscht. „Ja fuhrte ich, herre Sivrit“, so fleht Kriemhild ihrem Gatten an, „eteslîchen rât, ob man der deheinen missedienet hât die uns gefüegen chunnen eteslichen haz.“ (930, 1-3)

Sie fleht ihn vor allem an, zu bleiben, so weiß der Erzähler seinen Rezipienten zu berichten, denn „dô gedâhtes an diu mære (sin torst ir niht gesagen) | da si Hagen e vragte“ (928,1-2). Da sie in diesem Gespräch mit Hagen Siegfrieds verwundbare Stelle verraten hat, wird sie sich ihrer Mitschuld bewusst. Dieses Bewusstsein macht es ihr extra wichtig, Siegfried zum Absagen der Jagd und zum Bleiben überreden zu können: „lat iwer jagen sin“ (929,1).

Doch wie die Tradition das von einem Recken verlangt, schlägt Siegfried die Warnung einer Frau in den Wind.[38] „Liebiu frowe, ich chum in kurcen tagen. Ine weiz hie niht der vinde, die uns iht hazzes tragen. Alle dine mage sint mir gemeinde holt. Och enhan ich an den degenen hie nit anders verscholt.“ (931, 1-4) Siegfried weiß nicht, weil Kriemhild sich nicht traut, es ihm zu sagen, dass der grimmige Hagen seine verwundbare Stelle kennt. Er ahnt daher auch nicht, dass er womöglich in Gefahr ist. Er versucht Kriemhild (die, wie gesagt, mehr als ihr Mann weiß und sich auch bewusst ist, dass Siegfrieds Überzeugung nicht der Realität entspricht[39], weil er sich dem Eid mit Gunter verbunden fühlt[40]) davon zu überzeugen, dass alles am Hofe entstandene Misstrauen gegen sie aus dem Weg geräumt sein muss und er sich deswegen auch nicht vorstellen kann, dass jemand am Hof in Worms ihm noch etwas Böses will. Er ist der festen Meinung, dass dazu schließlich auch keinerlei Anlass mehr besteht. Doch Siegfried kann oder will nicht sehen, dass unter der Oberfläche der Hass schwelt.[41]

Dritter Traum

Da Kriemhild mehr als Siegfried weiß und die Gefahr, in der Siegfried sich befindet, deshalb besser als er selbst einschätzen kann, versucht sie ihren Gatten weiterhin davon zu überzeugen, bei ihr in Worms zu bleiben. Sie erzählt ihm zu diesem Zweck noch einen Traum.

Dieser Traum prophezeit, ebenso wie ihre zwei vorigen, den Tod ihres geliebten Siegfrieds: „neynâ, herre Sivrit, ja vurht ich inen val“ (932, 1). Mit diesen verzweifelten Worten leitet Kriemhild die wiederum schrecklichen Bilder ihres Traumes ein. „mir troumte hînt leide“, so verfolgt sie, „wie ob dir zetal | vielen zwêne berge: ich ensach dich nimmer mê.“ (932, 2-3)

Da Siegfried aber über die wirkliche Lage nicht Bescheid weiß, kann er sie auch nicht richtig einschätzen und legt keinen Wert auf den Warnträume seiner Frau. Er antwortet ihr nicht mehr, sondern „er umbevie mit armen daz tugende riche wip, | mit minneclîchem chusse trûte er ir schoenen lîp“ (933, 1-2) und verlässt sie ohne ein weiteres Wort.

Unmittelbar nach Siegfrieds Abreise macht der Erzähler den Rezipienten die ernst zu nehmende Bedeutung dieser beiden Träume unmissverständlich klar, indem er kommentiert: „sine gesach in leider darnâch nimmer mêr gesunt“ (933,4). Mit diesen Worten verleiht der Erzähler der Abreise des Xantener Helden eine extra dramatische Note, denn für das Verständnis, dass es hier um prophetische Träume geht, hätte der Erzähler nicht mehr betonen müssen, dass die beiden Liebenden sich nie wiedersehen würden. Das wurde für die Rezipienten (neben der bekannten Tradition, Träumen prophetischen Charakter zuzusprechen) bereits durch den „Falkentraum“ aus der ersten Aventiure deutlich.[42]

Kriemhild selbst kann nur vermuten, dass die Träume ihr Einblick in die Zukunft verschaffen, wissen kann sie es noch nicht. Diese Vermutung, die durch das Verraten der verwundbaren Stelle Siegfrieds an Hagen noch verstärkt wird, reicht aus, um Siegfried verzweifelt anzuflehen, nicht mit zur Jagd zu reiten.

Dass ihre Angst, die Träume würden sich bewahrheiten, berechtigt war, zeigt der Fortgang der Handlung. Anhand dieser Beobachtung könnte Albrecht Classen, der behauptet, dass weder Siegfried noch Kriemhild den zweiten und dritten Traum richtig verstehen[43], auf jeden Fall zum Teil widersprochen werden.

Dass Classen behauptet, dass Siegfried Kriemhilds Träume nicht verstehen konnte, ist nachvollziehbar, aber ganz anders sieht es bei Kriemhild aus. Sie erkennt nicht nur den Ernst der Lage und versucht, Siegfried von der Jagd, von der er, so weiß Kriemhild, nie wieder zurückkommen wird, abzuhalten, sondern sie weiß auch, so wird sich später in der Handlung zeigen, wer ihn umbringen wird. Vom Erzähler bekommt sie Recht, indem er kommentiert, dass sie Siegfried „dar nâch nimmer mêr gesunt“ (933,4) sah.

Kriemhilds Träume zeigen jedes Mal zwei Mörder, die jedoch immer in verschlüsselten Gestalten (zwei Adler, zwei Wildschweine, zwei Berge) auftreten. Das Opfer dieses Mordes ist nur im ersten Traum als Falke verschlüsselt, in den zwei anderen Träumen ist deutlich erkennbar, dass Siegfried das Opfer sein wird, da sie ihn in Bezug auf die Traumbilder mit „iuch“ (929, 2) beziehungsweise „dir“ (932,2) anspricht. Die letzten beiden Träume sind also nur noch einseitig verrätselt, weil Siegfried deutlich (als Mensch) dargestellt wird.

Kriemhild weiß, dass es zwei Mörder geben wird. Dass sie Hagen als potenziellen Mörder ihres Gatten sieht, macht der Erzähler schon deutlich[44], aber ob sie auch ihren Bruder als Mörder eingeschätzt hat, bleibt schwer zu sagen.

Jerold C. Frakes geht davon aus, dass Kriemhild Gunters Stellung in der höfischen Hierarchie von Worms falsch einschätzt, indem sie Hagen und Gunter für ebenbürtig hält. Dies wird dadurch deutlich, dass Siegfrieds Mörder in den drei Träumen gleichstark erscheinen, denn Gunter sei „no match for Sîfrit“ und könne außerdem Hagens Pläne und Taten außerhalb dessen Stellung als Vasall nicht kontrollieren.

Frakes betrachtet den König Burgunds also nur als „co-destroyer of Sîfrit“.[45] Es ist nicht zu leugnen, dass der Mordplan von Hagen, der die Möglichkeit sieht, Gunters königliche Machtstellung auszunutzen und so sein Handeln zu legitimieren[46], ausgeht und nicht in erster Linie von Gunter. So sieht das wahre Verhältnis der Feinde aus, das Kriemhild zur Zeit ihrer Träume noch nicht kennt. Anhand dieser Tatsache begründet Frakes die Beobachtung, dass die Feinde ihr im Traum als ebenbürtig erscheinen.[47]

Kriemhilds Träume sind aber prophetischer Natur, so dass sie (im Gegensatz zu dem, was Frakes sagt) dem Träumenden immer mehr zeigen, als er im Moment weiß, also auch das wahre Verhältnis der beiden Täter.[48] Dies im Hinterkopf behaltend, kann Gunter nicht von einer Mitschuld freigesprochen werden, weil er nicht verhindern wollte oder konnte, dass sein Schwager von Hagen hinterrücks ermordet wurde.[49]

Aus der Tatsache, dass Kriemhild neben der Rache an Hagen auch Rache an ihren Bruder übt, was sie bereits bei Siegfrieds Bestattung offen ausspricht[50], wird schon deutlich, dass Kriemhild sich sehr wohl der (Mit-)Schuld Gunters bewusst ist.
Deswegen scheint Frakes’ Auffassung, in Gunter nur einem „co-destroyer“ zu sehen, etwas zu milde.

Die Handlung des Nibelungenliedes erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte, eine Zeitspanne, in der Kriemhild (mehr als ein anderer Charakter) eine Entwicklung durchmacht, die sich auch in ihren Träumen niederschlägt. So spielte sie, wie oben schon gezeigt wurde, im „Falkentraum“ – im Gegensatz zu ihrem höfischen Alltag – eine aktive Rolle. Interessant ist es dann, zu beobachten, dass sich dieses Verhältnis in ihren zwei anderen Träumen umgekehrt hat.

Die aktive Falkentrainerin ihres ersten Traumes, die im höfischen Alltag eine passive Rolle zu spielen hat, spielt in den zwei anderen Träumen, die sie in der aktive Rolle einer Königin träumt, keine Rolle. Sie beobachtet nur, wie Siegfried ums Leben kommt, und sie warnt ihn aktiv in der (erzählten) Realität. Als Kriemhild also ein passives Leben führte, hatte sie eine aktive Rolle in ihren Träumen und umgekehrt.

Jerold C. Frakes spricht in diesem Zusammenhang von „progression of specificity: from Kriemhild’s opaque and passive ‚honor‘ as a member of Burgundian courtly society (albeit an as yet uninitiated member), in which she has only symbolic dealings with an ideal courtly partner (the valke), to active dealings with an unnamed (in the dream unit itself) recke (with its ambiguous connotations), to the specification of the recke as Sîfrit, her lord, husband, king.“[51]

Kriemhild entwickelt sich also in Bezug auf ihre Träume von Aktivität zu Passivität und in Bezug auf ihr Leben am Hof als Königin in umgekehrter Weise, von Passivität als junge unvermählte Prinzessin zu Aktivität als liebende Ehefrau – als sie versucht, nachdem sie in ihren Träumen als Beobachterin passiv einen Blick in die Zukunft gehabt hat, aktiv ihren Mann zu überreden, nicht zu der todbringenden Jagd zu gehen. Die Tatsache, dass es ihr nicht gelingt, tut daran keinen Abbruch, ihn wie einen Falken zähmen, also kontrollieren und beeinflussen zu wollen. Wobei sie auch hier scheitert, denn sie kann im Traum den Falken ebenso wenig vor den zwei Adlern beschützen wie Siegfried nun in wachem Zustand.

Friedrich Maurer kann in seiner Beobachtung angesichts Kriemhilds Entwicklung im ersten und zweiten Teil nur zugestimmt werden, wenn er von einer „ungeheure[n] Veränderung“, die Kriemhild durchmacht, „von der unschuldigen, lieblichen Jungfrau in den ersten Strophen bis zur furchtbaren, erbarmungslos rächenden Teufelin, der valandinne, am Ende des Liedes“[52] spricht.

So, wie in ihren Träumen, macht Kriemhild auch im realen Leben (aber entgegengesetzt zu ihren Träumen) eine Entwicklung durch. Sie wird am Hof aktiver, im Traum dagegen passiver. Trotz ihrer zunehmenden Aktivität ist sie nicht in der Lage, ihren Mann vor der Ermordung zu bewahren, mit der Folge, dass sie sich weiter in die Richtung einer rachesüchtigen „valandinne“ entwickelt, die am Ende schließlich ihr Ziel erreicht – auf Kosten ihres eigenen Lebens und des Lebens vieler Männer.[53]

So tauchen die Träume auch nicht von ungefähr auf, sondern der Nibelungendichter hat die drei Träume Kriemhilds (obwohl die Träume den ersten Teil des Nibelungenliedes nicht genau einschließen) strukturell an bedeutsamen Stellen platziert, die diesen ersten Teil einführen beziehungsweise beenden.[54]

Weil Kriemhilds „Falkentraum“ ihren Gatten Siegfried einzuführen hat, platziert der Dichter diesen Traum in der ersten Aventiure. Die zwei anderen Träume haben wiederum zum Zweck, dessen Tod einzuleiten, und sind unmittelbar vor Beginn der Jagd, die das Ende des ersten Teiles markiert, eingefügt.

Ein Argument, womit Kriemhild Siegfried hätte überzeugen können, nicht mit der Jagdgesellschaft mitzureiten, wäre gewesen, ihm zu beichten, dass sie Hagen seine verwundbare Stelle verraten hatte, aber gerade das erzählt sie ihrem Gatten interessanterweise nicht.[55] Gerade dies „torst ir niht gesagen“ (928,1), sondern sie versucht ihn anhand der Traumbilder davon zu überzeugen, dass es am Hof Missgunst geben könnte, womit sie auf Brunhild zielt.

Burghart Wachinger zieht alles in Erwägung, um gerade das Verschweigen dieser essenziellen Information nachzuvollziehen: ein gespaltenes Bewusstsein Kriemhilds, gar eine Schuld und auch einen möglichen Fehler, der dem Erzähler in der Psychologie seiner Figuren unterlaufen ist, um dem Publikum die Frage Hagens mehr als Kriemhild in Erinnerung zu rufen.[56]

In dieser Szene ist der Abschied das einzige Mal als eine geschlossene Handlung dargestellt, da Siegfried mit einem Kuss kommt und nach dem dazwischen liegenden Dialog der zwei Liebenden mit einem Abschiedskuss geht. Auch ist diese Szene neben der Abreise der Burgunder ins Land König Etzels (1554-1558) einer der beiden großen Abschiede im Nibelungenlied – ein Abschied vor dem Weg in den Tod.[57]

Teilschlussfolgerung

Kriemhild wird drei Mal durch Unheil verkündende Träume Einblick in die Zukunft gewährt, die ihr so Siegfrieds Tod offenbaren.

Auch Helmbrecht wird, in seinem Fall durch vier Träume, ein unheilvolles Schicksal offenbart – wohlgemerkt mit dem Unterschied, dass er seine Träume nicht (wie Kriemhild, die ihren ersten Traum nicht richtig zuordnen kann, da sie das Opfer und die Täter noch nicht kennt) erst im Laufe der Jahre bekommt.

Die Reaktion auf die Träume ist bei beiden Protagonisten jedoch dieselbe. Beide nehmen die Trauminhalte so ernst, dass sie aktiv versuchen, sie nicht wahr werden zu lassen, indem sie Umstände vermeiden, die den Traum wahr werden lassen könnten. Leider müssen sie erkennen, dass sie gescheitert sind und die offenbarten Zukunftsbilder, die in beiden Fällen prophetischer Natur waren, wahr werden. Die allegorisch verschlüsselten Bilder haben also erreicht, sich ernsthaft mit ihnen zu beschäftigen, Schlüsse zu ziehen und entsprechend zu handeln beziehungsweise zu versuchen zu handeln.


[1] Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Hrsg. von Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler. D. Fischer Verlag. Frankfurt a. M. 1982.

[2] Die Bibel – Altes und Neues Testament (Einheitsübersetzung). Herder. Freiburg, Basel, Wien. 1980

[3] Emil Ploß: Byzantinische Traumsymbolik und Kriemhilds Falkentraum. In: GRM 39 (1958). S. 218 bis 226.

[4] Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung und Nachwort von Wolfgang Spiewok. 2 Bde. Stuttgart 1981.

[5] Moriz von Craûn. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Ulrich Pretzel. Übersetzung, Kommentar und Nachwort von Albrecht Classen. Stuttgart 1992.

[6] Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort versehen von Rüdiger Krohn. 3 Bde. Stuttgart 1985.

[7] Brackert: Wernher der Gartenære: Helmbrecht. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Hg. übersetzt und mit einem Anhang versehen von Helmut Brackert, Winfried Frey, Dieter Seitz. Frankfurt am Main, 1972.

[8] Ursala Hennig: Das Nibelungenlied nach der Handschrift C (Altdeutsche Textbibliothek 83) Tübingen 1977.

[9] Klaus Speckenbach: Von den troimen. Über den Traum in Theorie und Dichtung. In: „Sagen mit sinne“. Festschrift für Marie-Luise Dittrich zum 65. Geburtstag. Hg. von Helmut Rücker, Kurt Otto Seidel. (GAG 180) Göppingen 1976, S. 177.

[10] Klaus  Speckenbach: 1976 , S. 179. Er weist auch weiterhin noch darauf hin, dass selbst die Tatsache, dass die Träume in Dichtungen normalerweise erfundene sind, nichts daran ändert.

[11] So sieht zum Beispiel Otfried Ehrismann darin die epische Funktion von Träumen: „Die Frauen werden von Warnträumen gequält, aber die Männer missachten die Warnungen.“ (vgl. Otfried Ehrismann: Nibelungenlied. Epoche – Werk – Wirkung. München 1987.S. 52.) Dass es auch Texte entgegen dieser Tradition gibt, wird sich anhand des „Helmbrecht“ zeigen.

[12] Helmut  Brackert: Nibelungenlied: Das Nibelungenlied. Zweiter Teil. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Hg. übersetzt und mit einem Anhang versehen von Helmut Brackert. Frankfurt am Main 1994, , S. 273 bis 278.

[13] Ebenda.

[14] Hulda Henriette Braches: Jenseitsmotive und ihre Verritterlichung in der deutschen Dichtung des Hochmittelalters. Utrecht 1961, S. 95.

[15] Ebenda.

[16] So bemängelt beispielsweise Jerold C. Frakes die bisherige Fokussierung der Forschung auf mögliche Quellen des Nibelungenliedes und auf enthaltene Motive und Symbole, denn nur „few studies have concentrated on the dreams themselves“. (vgl. Frakes Jerold C. Frakes: Kriemhild’s three dreams. A structural interpretation. In:

Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 113 (1984). S. 173.

[17] Die Aventiureneinteilung ist in den verschiedenen Ausgaben des Nibelungenliedes sehr unterschiedlich. Die hier genannte bezieht sich auf die benutzte Ausgabe von Ursala Hennig (siehe Literaturverzeichnis).

[18] Es ist nicht nachvollziehbar, weshalb Albrecht Classen der Ansicht ist, Ute deute den Falken nur „als Liebhaber“, sehe dessen tragischen Tod aber nicht voraus. (Albrecht Classen: Transpositions of dreams to reality in middle high germannarratives. In: Shifts and transpositions in medieval narrative. A Festschrift

for Dr Elspeth Kennedy. Edited by Karen Pratt. Cambridge 1994, S. 112.) Ob sie ihn als Gatten oder als Liebhaber deutet, steht nicht im Text, sie spricht nur von einem edel man. Und sie macht Kriemhild auf dessen möglichen Verlust aufmerksam, denn got [welle in] behüeten, sonst muss Kriemhild ihn schiere vloren hân. Außerdem muss hier wohl die Tatsache in Betracht gezogen werden, dass Ute eine treusorgende Mutter ist und ihre unerfahrene junge Tochter wohl nicht mit grausamen Traumdeutungen belasten will.

[19] Burghart Wachinger geht hier noch weiter, indem er die Möglichkeit in den Raum stellt, dass alle Vorsätze vergessen sind, als wären sie nie da gewesen, nicht nur von Kriemhild, scheinbar auch vom Erzähler, wenn nur der richtige Mann kommt. Einschränkend meint er aber, dass Kriemhilds Vorsatz, ohne Mann zu bleiben, „nicht ausdrücklich aufgehoben“ wird. Daher soll dieses entschiedene Nein Kriemhilds als Pointierung des Gesprächs zwischen Mutter und Tochter angesehen werden. (Burghart Wachinger: Studien zum Nibelungenlied. Vorausdeutungen, Aufbau, Motivierung. Tübingen 1960, S. 42.)

[20] In diesem Zusammenhang betont Siegfried Beyschlag die vorausdeutenden Aspekte schon in dieser ersten Aventiure: „Er [der Falkentraum, J. E.] ist an sich schon Vorausdeutung des Kommenden: des Leides, das Kriemhild aus der Liebe zu dem ihr bestimmten Manne erwachsen wird; dass dieser Traum trotz der spröden Abweisung des Mädchens erfüllbar ist, das spricht die einzige epische Vorausdeutung dieses Abschnittes aus.“ (Siegfried Beyschlag: Die Funktion der epischen Vorausdeutung im Aufbau

des Nibelungenliedes. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 76 1955, S. 40.) Gemeint ist mit dieser epischen Vorausdeutung der oben angeführte Kommentar des Erzählers. Das Publikum wird also mit narrativen Bemerkungen der Vorausdeutung gezielt auf das tragische Ende des Nibelungenliedes hingelenkt.

[21] Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Mit einem Vorwort von Christoph Daxelmüller. 10 Bde. Berlin/New York 1978, Bd. 2, Sp. 1156.

[22] Albrecht Classen: 1958, S.218, 244; O. Otfried Ehrismann :1987, S.109

[23] Otfried Ehrismann:1987, S. 110, der Kriemhild als „naseweis“ charakterisiert.

[24] Aufgrund dieser hütenden Verwandten und der Spröde Kriemhilds spricht Siegfried Beyschlag von der „Motivik der schwierigen Werbung“. Dennoch kann Siegfried diese Schranken durchbrechen und Kriemhild zur Frau gewinnen, wozu Beyschlag bemerkt: „Dass dabei das Ende erst Jahre nach der Vermählung eintritt, erhöht die tragische Spannung solcher Motivik, noch dazu, nachdem sie durch die entsprechenden Vorausdeutungen wachgerufen worden ist.“ (Siegfried Beyschlag:1955, S. 41.) Bei den angesprochenen Vorausdeutungen denkt er an die häufigen Erzählerkommentare zum Ende des Nibelungenliedes. Burghart Wachinger spricht im Zusammenhang mit dieser erst erfolgreichen Werbung – wobei hier beide gemeint sind, die Werbung Siegfrieds um Kriemhild und die Gunters um Brünhild –, die später zum Verhängnis wird, von einer „Eigentümlichkeit“ des Nibelungenliedes. (Burghart Wachinger:1960, S. 40.)

[25] Jerold C. Frakes: Kriemhild’s three dreams. A structural interpretation. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 113 (1984)S. 178f.

[26] Emil Ploß:1958., S. 220; Jerold C. Frakes bestätigt das: „Eagles are just as commonly signifiers of an emperor or king, but may also symbolize impending danger.“ (Frakes:1984, S. 181f.)

[27] Die Begründung für diese Behauptungen wird im Folgenden geliefert.

[28]Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1872-1878 mit einer Einleitung von Kurt Gärtner. Stuttgart 1992., Bd. 1, Sp. 645.

[29]Heinrich Beck: Das Ebersignum im Germanischen. Ein Beitrag zur germanischen Tiersymbolik. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker; N. F. 16) Berlin 1965. , S. 135.

[30] Otfried Ehrismann:1987, S. 110.

[31] Dass viele andere Ritter dies vor Siegfried schon versucht haben, zeigt der Erzählerkommentar kurz nach Kriemhilds erstem Traum: in ir vil hôhen tugenden, der si schône pflac, | lebt diu maget edele vil manegen lieben tac, | daz sine wesse niemen den minnen wolde ir lîp (17,3).

[32] V. 823 bis 859

[33] Dô von des drachen wunden vlôz daz heize bluot, | und sich dar inne der chüene recke guot, bade. | dô gehafte im zwischen herten  herte ein linden blat vil breit. | dâ mac man in verhowen: des ist mir sorgen vil bereit. (909)

(845). Kriemhild erzählt Hagen davon, in der Hoffnung, dass dieser ihn dann an dieser einen verwundbaren Stelle besonders im Kampf beschützen würde. Doch Hagen nutzt dieses Wissen genau in umgekehrter Intention

[34] Matthias Lexer:1992, Sp. 1374.

[35] Emil Ploß:1958, S. 222. Heinrich Beck verweist auf den starken Bildgehalt für die Tiermetapher des Ebers, „für den gerade dieses Tier unerschöpflich scheinende Möglichkeiten bot“. (Beck:1965, S. 2.)

[36]. Klaus Speckenbach: Der Traum als bildhafte Rede. In: Uf der mâze pfat. Festschrift für Werner Hoffmann zum 60. Geburtstag. Hg. von Waltraud Fritsch-Rößler unter Mitarbeit von Liselotte Homering. (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 555) Göppingen 1991, S. 424.

[37]Emil Ploß:1958, S. 225.

[38] Vgl. z. Bsp. Otfried. Ehrismann:1987, S. 52; Burghart Wachinger:1960, S. 41.

[39] Siegfried allein weiß nichts von der Gefahr, die bevorsteht. (Vgl. Jerold C. Frakes, S. 184.) Dies zeigt sich laut Burghart Wachinger auch darin, dass Siegfried auf den Ebertraum nicht eingeht. Er beruft sich auf das Recht, da der Frauenstreit zwischen Kriemhild und Brünhild für ihn nur eine Episode war. Die Angst Kriemhilds vor seinem Tod geht also ins Leere, da Siegfried nur ihre Warnung „aus menschlicher Einsicht“, den Hinweis auf die bestehende Gefahr, aufgreift. (Burghart Wachinger:1960, S. 43f.) Hier zeigt sich, dass Siegfried den Traumbildern seiner Frau keinerlei ernsthafte Beachtung schenkt.

[40] Gemeint ist hier jener Eid, den Siegfried tat, um zu beweisen, dass er nicht der erste Mann Brünhilds war, und der scheinbar den Streit zwischen den beiden Königinnen beendete (798-805). König Gunter kennt die Wahrheit, doch weiß er nicht, dass Brünhild Hagen auf ihre Seite ziehen und in diesem eine Feindschaft gegenüber Siegfried entfachen konnte.

[41] Burghart Wachinger:1960, S. 50, der in diesem Vertrauen auf den günstigen Schein den Grund für die lapidare Ablehnung einer tieferen Traumbedeutung durch Siegfried sieht.

[42] Burghart Wachinger weist darauf hin, dass sich bei manchen Abschiedsschilderungen die Erzählervorausdeutungen geradezu häufen. Dies ist vor allem bei einem Abschied auf Nimmerwiedersehen der Fall, wobei es der Erzähler fast nie unterlässt, dies ausdrücklich zu bemerken. ( Burghart Wachinger:1960, S. 29.) Dies ist auch hier beim Abschied Siegfrieds zur Jagd deutlich zu sehen.

[43]Albrecht Classen: Transpositions of dreams to reality in middle high german

narratives. In: Shifts and transpositions in medieval narrative. A Festschrift

for Dr Elspeth Kennedy. Edited by Karen Pratt. Cambridge 1994, S. 114.

[44] 923,2

[45] Jerold C. Frakes:1984, S. 187.

[46]Jerold C. Frakes:1984, S. 187. Friedrich Maurer erklärt die große Feindschaft Hagens damit, dass dessen ganzes Denken und Handeln von der Fürsorge für seine Herren geprägt ist und er damit ein Gegner Siegfrieds sein muss. Darüber hinaus weist er auf Hagens Charakter als eine dämonische Kraft von Anfang an in Siegfrieds Leben hin, da überall, wo Entscheidungen über Siegfried gefällt werden, Hagen die treibende Kraft ist, so beispielsweise mit dem Vorschlag, Siegfried als Helfer mit auf die gefährliche Brautfahrt um Brünhild zu nehmen. (Friedrich Maurer: Leid. Studien zur Bedeutungs- und Problemgeschichte, besonders in den großen Epen der staufischen Zeit. (Bibliotheca Germanica 1) Bern 1951, S. 17.) Burghart Wachinger sieht auch eine persönliche Feindschaft Hagens gegenüber Siegfried. (Burghart Wachinger:1960, S. 114.)

[47] Jerold C. Frakes:1984, S. 182.

[48] Außerdem meint Klaus Speckenbach, dass Traumsymbole in der germanischen Tradition nicht so sehr die durch sie bezeichneten Personen objektiv bewerten, sondern die Einstellung des Träumers zu diesen Personen wird gezeigt. (Klaus  Speckenbach:1998, S. 307.) Auch darin zeigt sich, dass Kriemhild in Hagen und Gunter die Mörder ihres Mannes sieht und deren Ebenbürtigkeit in dieser Sache richtig bewertet.

[49] Daz ist ein michel wunder: vil  dike ez noch geschiht, | swâ man den mortmeilen bî dem tôten sihet: | sô bluotent im die wunden; als ouch dâ geschach; | dâ von man die schulde dâ ze Hagenen gesach.(1056, 1-4) | Die wunden fluzen sêre,also si tâten ê (1057,1)

[50] Gunthêr unde Hagene, jâ habt ir ez getân (1058,3)

[51] Jerold C.Frakes:1984, S. 179.

[52] Friedrich Maurer:1951, S. 13. Die Steigerung der Handlung des Nibelungenliedes hin zur großen Katastrophe im Zusammenhang mit Kriemhilds Entwicklung wurde oft bemerkt. So spricht auch Alfred Gerz vom „heroische[n] Epos, das in unbeirrbar weitergreifendem Kausalzwang, in krassem, innerem Fanatismus die tragische Verwicklung des Einzelschicksals zur erbarmungslosen, endgültigen Kollektivkatastrophe auswuchtet.“ (Gerz, S. 28.)

[53] Daher ist es nicht nachzuvollziehen, weshalb Jerold C. Frakes die Entwicklung Kriemhilds am Ende des ersten Teiles des Nibelungenliedes als abgeschlossen anzusehen scheint: „Kriemhild’s role – from activity to passivity in the dream itself, from passivity to activity to (passive) resignation outside the dream“(Frakes:1984, S. 186.)

Von Resignation kann aber nicht die Rede sein, denn Kriemhild sinnt selbst viele Jahre nach dem Tod Siegfrieds auf Rache, was sich darin zeigt, dass sie alles daran setzt, die Burgunder ins Land König Etzels zu laden und ihnen dort eine Falle nach der anderen zu stellen, bis schließlich alles in einem großen Blutbad gipfelt.

Dass Kriemhild bis zum bitteren Ende kämpft, erklärt Friedrich Maurer unter anderem damit, dass für den Menschen der höfischen Zeit Rache für verletzte Ehre selbstverständlich war und Kriemhild durch den Tod ihres Mannes Ansehen und Machtstellung, also êre, verloren hat. (Maurer:1951, S. 15 und 20f.) Die Königin handelt also gemäß der Sitte, verteidigt ihre triuwe.

[54] Jerold C. Frakes:1984, S. 176.

[55] Frowe, habt ir wan, ob man in muge versniden, ir sult mich wizzen lan, mit wie getanen listen ich daz sül understan. (904, 1-3)

[56] Burghart Wachinger:1960, S. 36. Auch Klaus Speckenbach ist der Meinung, dass Kriemhild Siegfried aufgrund eines schlechten Gewissens wegen ihrer Vertrauensseligkeit nichts von Hagens Besuch erzählt. (Klaus Speckenbach: bildhafte Rede, S. 423.)

[57] Burghart Wachinger:1960, S. 35.