Der Heldenarchetyp
anhand von Beispielen
aus dem Nibelungenlied


von Dr. Irene Berkenbusch-Erbe

.....
Siegfried im Film: „Die Nibelungten“, Fritz Lang, 1924..

Über das Nibelungenlied, speziell über die Helden Siegfried und Hagen von Tronje ist schon sehr viel geforscht und geschrieben worden. Dies geschah aber in der Regel unter literaturgeschichtlichem oder althistorischem Aspekt oder im Interesse der Märchenforschung. Seit dem 19. Jahrhundert haben sich aber in wachsendem Maße bis heute auch Disziplinen wie Ethnologie, Religionswissenschaft und die Psychoanalyse für die Heldendichtung aus Altertum und Mittelalter interessiert, denn sie beinhalten die Grundthemen des Menschen, die bis heute aktuell sind.

Zum Verhalten eines Helden gehört vor allem Mut, Selbstbewusstsein, vielleicht auch Nonkonformismus. Somit sind Helden und Heldinnen nicht allein unter historischem und literaturgeschichtlichem sondern auch unter psychologischem Aspekt wert betrachtet zu werden. Auch heute sind Helden omnipräsent in Literatur, Film, bildender Kunst, Religion, Politik und nicht zuletzt im Computerspiel. Ihre Geschichten faszinieren uns, weil sie archetypische Verhaltensmuster beinhalten, in denen wir uns hinsichtlich unserer Lebensziele, Herausforderungen und Kämpfe wiedererkennen. Das ganze Leben ist imgrunde eine kontinuierliche Heldenreise, und es gibt inzwischen auf psychologischem Gebiet zahlreiche Tagungsangebote unter dem Titel „Heldenreise”, die zur Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis beitragen wollen. Es wird davon ausgegangen, dass in jedem Menschen, somit auch in uns, das Grundmuster des Helden vorhanden ist. „Wir alle sind Helden” (JOSEPH CAMPBELL, Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt a.M./Leipzig1999, S.10). Die Heldenreise wird als eine symbolische bzw. archetypische Auseinandersetzung mit den eigenen inneren Kräften der Seele verstanden. Mythologische Helden können Vorbilder auf der Heldenreise sein. Der positive Held und die positive Heldin führen uns den vorbildlichen schöpferischen Menschen auf der häufig schwierigen Suche nach seiner Bestimmung vor Augen, zeigen uns gleichzeitig aber auch die Schattenaspekte des Menschseins, wie Selbstüberschätzung, Macht und Gewalt. In Anlehnung an den Schweizer Arzt und Psychoanalytiker Carl Gustav Jung (1875-1961) ist die Heldenreise als Bewusstseinsentwicklung und Individuationsweg des Menschen zu verstehen. Im Sinne von Jung versteht Campbell die Muster und Figuren der mythologischen Heldenfahrt als Archetypen. Was das bedeutet, soll anhand des Helden Siegfried im Nibelungenlied gezeigt werden.

Was sind Archetypen?
Der Begriff leitet sich aus griech. arché (Anfang, Ursprung, Ausgangspunkt für die Erkenntnis) und typos (Form, Bild, Gestalt, Muster) ab. Bereits Aristoteles definierte ihn als „das erste, von dem etwas ist, wird oder erkannt wird”.
Archetypen sind somit Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster, Ur- oder Grundformen, die in der Struktur des menschlichen Geistes verankert sind. Sie haben zu allen Zeiten und in den unterschiedlichsten Kulturen ähnliche Bilder hervorgebracht. Vor allem die elementaren Erfahrungen wie Geburt, Ehe, Mutterschaft, Trennung und Tod haben in der Seele des Menschen eine archetypische Verankerung. Diese Grundmuster und Grundstrukturen erkannte Carl Gustav Jung in den vielfältigen Bildern und Phantasien seiner Patienten sowie in Symbolen und Mythologien alter Kulturen und nannte sie „Archetypen“. Archetypen können sich in verschiedenen Erscheinungsbildern ausprägen, (z.B. Vater-, Mutter-, Kindarchetyp, Heldenarchetyp, Archetyp der(s) alten Weisen etc.).
Archetypen sind kulturelle Muster, die als Geschichten, Mythen und Märchen durch kulturelle Vermittlung weitergegeben werden. Somit können allgemein gültige Aussagen auf andere Personen oder teilweise auf alle Menschen übertragen werden.

Wer ist ein Held?
Ein Held, eine Heldin ist ein vorbildlicher Mensch, der sich durch Mut und unerschrockenes Handeln auszeichnet. Er ist bereit, sich schwierigen Aufgaben zu stellen und ungewöhnliche Taten zu vollbringen, mit denen er auch anderen hilfreich zur Seite stehen kann.
Zum archetypischen Muster des Helden gehört, dass er eine besondere Herkunft hat. Oft hat er göttliche oder königliche, seltener normal-menschliche Eltern. Schon früh zeigt sich die Besonderheit seiner Persönlichkeit, indem er überdurchschnittliche Fähigkeiten, Kräfte und Talente an den Tag legt. Häufig wird er bereits in jungen Jahren mit einer besonderen, meist schwierigen Aufgabe, einem Auftrag betraut, oder es reizt ihn, an einem fremden Königshof um die Prinzessin zu werben, was in der Regel mit Gefahren verbunden ist.

Die Heldenreise tiefenpsychologisch am Beispiel Siegfrieds
Vor allem aber verläuft sein Leben meist nach einem bestimmten Muster.
Joseph Campbell (1904-1987), der amerikanische Mythenforscher, der sich intensiv mit Geschichten in unterschiedlichsten Kulturen beschäftigt hat, kommt zu dem Ergebnis, dass die Struktur der Geschichten in allen Kulturen und zu allen Zeiten die gleiche ist. Deshalb erkennen wir uns in den Heldengeschichten wieder – mit unseren Sehnsüchten, Herausforderungen und mühsamen Aufgaben, die das Leben stellt.
Es ist die Dramaturgie der Heldenreise, für die er insgesamt etwa 17 Stationen feststellt. Die Stationen der Heldenreise stellen gemäß Jungianischem Denken Standardmuster für die Übergänge und Krisen im Leben dar, die jeder Mensch mehr oder weniger ähnlich erlebt. Sie sind für ihn eine Vorlage, ihr Leben zu verstehen und können der persönlichen Entwicklung einen gewissen Sinn verleihen.
Ich möchte hier (anhand der Skizze nach Campbell) nur die Stationen hervorheben, die für Siegfried im Nibelungenlied bedeutsam sind.


Dramaturgie der Heldenreise

s

I. Der Ruf des Abenteuers:
Angedeutet bereits im Nibelungenlied, (B21) Da heißt es :

Sîfrit was geheizen der snelle degen guot.
Er versúochte vil der rîche durch ellenthaften muot.
Durch sînes lîbes sterke er reit in menigiu lant.
Hey waz er sneller degene sît zen Búrgónden vant!

In der Übersetzung von Helmut de Boor lauet das so:
Siegfried hieß der Knabe; ihn trieb sein Mut hinaus.
Erzog auf Abenteuer in fremde reiche aus.
Um seine Kraft zu proben, ritt er in manches Land.
Hei, wie stolze Recken er dann bei den Burgunden fand.

Hier werden bereits der Ritt ins Land der Burgunden und die Abenteuer am Wormser Königshof vorweggenommen.

II. Überschreiten der Schwelle
Dies kann aber nicht geschehen, bevor Siegfried nicht zum Ritter geschlagen wurde, an ihm also der für einen jungen Königssohn und werdenden Ritter üblichen Initiationsritus, die Schwertleite, vollzogen wurde. Dies wird am Königshof entsprechend gefeiert, ist es doch ein wichtiger Übergangsritus von der Kindheit in das Erwachsenenalter mit allen Aufgaben und Verantwortlichkeiten eines Königssohns und werdenden Ritters. Entsprechend aufwendig und großartig mit „buntem Trubel” (HdB) wird das Fest gefeiert und zwar zur Sonnwendzeit, eine Zeit, die Höhepunkt und gleichzeitg Übergang symbolisiert.

III. Der Weg der Prüfungen
a) Erste Prüfung: Siegfrieds Kampf gegen die Nibelungen, Tötung der Königssöhne
Nibelung und Schilbung im Nibelungenland (das in Norwegen gedacht wird).
Erwerb des Schwertes Balmung, der Tarnkappe und des Nibelungenhortes nach
dem Sieg über die Nibelungen und über den Zwerg Alberich. Vorher hatte
Siegfried bereits über einen Drachen gesiegt und war durch das Bad in dessen Blut
unverwundbar geworden, bis auf die Stelle zwischen seinen Schulterblättern, auf
die ein Lindenblatt gefallen war, wodurch er an dieser Stelle verwundbar blieb.
Diese Informationen über Siegfrieds erste Abenteuer erfahren wir nur indirekt
durch den Bericht Hagens in der 3. Aventüre.
b) Feldzug gegen die Sachsen und Dänen, die den Burgunden den Krieg erklärt
haben. Siegfried, der Gunther sofort seine Hilfe anbietet, erweist sich als strahlender Held, der
im Zweikampf persönlich die beiden feindlichen Könige besiegt.
Im NL heißt es zum Hilfsangebot Siegfrieds:

welt ir vriwent suochen, der sol ich einer sîn
unt trouwe ez volbringen mit êren an daz ende mîn.
(B 156,3f )

Wollt ihr Freunde suchen, seht mich als einen an.
Ich hoff, daß ich´s in Ehren Euch bis zum Tod erweisen kann.

Siegfried kann hier noch nicht ahnen, wie bitter sich sein Versprechen aufgrund der Untreue
seiner verbündeten Mitstreiter bewahrheiten wird.

c) Dritte, entscheidende Prüfung: Brautwerberfahrt um Brünhild nach Island.
Siegfried bietet wiederum seine Hilfe an und erringt durch seine Tarnkappe für
Gunther in drei Kampfspielen den Sieg über Brünhild, die nunmehr bereit ist,
Gunthers Frau zu werden.
d) Vierte Prüfung: Überwältigung Brünhilds mithilfe der Tarnkappe in der
Hochzeitsnacht. Gunther war dazu nicht in der Lage gewesen und hatte Siegfried
um Hilfe gebeten.

IV. Belohnung
(für die Werbung um Brünhild)
Siegfried erhält Kriemhild zur Frau.

V. Rückweg
Siegfried und Kriemhild reisen nach den Hochzeitsfeierlichkeiten in ihr Reich, nach Xanten ab, wo Siegfried nun als König herrscht. Campbell bezeichnet diese Station auch als Rückkehr über die Schwelle. Er meint damit die Schwelle zur Alltagswelt, aus der der Held ursprünglich aufgebrochen war. Er muss nun das auf der Heldenreise Errungene, Gewonnene, in sein „normales” Leben integrieren.

VI. Rückkehr
mit dem „Elixier”, bzw. dem Schatz
Zwar hat Siegfried zu dieser Zeit seinen Schatz nicht, da er noch im Nordland in der Höhle liegt und von Alberich bewacht wird. Dennoch gibt dieser Schatz ihm Macht, Reichtum und einen sicheren Rückhalt, wenn auch nicht vor Ort.

Nach C. G. JUNG ( Gesammelte Werke Bd. 5, § 553) ist das Heldendrama kein einmaliger Vorgang sondern ein symbolisches Vorbild für Abläufe, die sich in verschiedenen Phasen des Lebens und auf den verschiedensten Ebenen ständig wiederholen. Der Archetyp des Helden steuert auch unsere Intentionen und Lebensgestaltung. Wir können unser Leben sozusagen auch als eine Heldenreise bezeichen, als deren Ziel C. G.Jung das berühmte, auf Plutarch zurückgehende „Werde, der du bist“ formuliert, was imgrunde Individuation meint.
Als „Held“ der Individuation befindet sich der Mensch auf einer dauernden Suche
und Wanderschaft, auf der es kein endgültiges Ziel gibt. Es geht um eine fortschreitende Vervollkommnung bzw. Ganzwerdung des Menschen. Deshalb sind die Reise und der Weg ein uraltes Symbol für den Individuationsprozess. (LUTZ MÜLLER, Held, 2011 www.symbolonline.de (01.06.2016).

Wie bereits angedeutet, kann das Leben des Helden mit seinen verschiedenen Entwicklungsstufen teilweise auch auf uns übertragen werden und uns Orientierung geben. Vielleicht sollten wir unser Leben auch als Quest verstehen, bei der auch verschiedene Aufgaben zu lösen sind und ein angestrebtes Ziel erreicht werden soll. Das Finden des Schatzes könnte dann die Erfahrung bedeuten, zu sich selbst gekommen zu sein und das eigene wahre Selbst gefunden zu haben.

Der Held ein archetypisches Muster?
Wenn wir kleine Kinder, vor allem Jungen im Alter von 4 bis 5 Jahren beobachten und dazu die Ergebnisse der Entwicklungspsychologie einbeziehen, lässt sich häufig im Verhalten der Jungen das archetypische Muster des Helden erkennen.
Die Identifikation mit einem siegreichen Helden soll über eigene Konflikte, als unlösbar empfundene Aufgaben und Unsicherheiten des Älterwerdens hinweg eigene Schwächegefühle kompensieren helfen. Videospiele und Fantasy- Literatur stellen genügend Gestalten als Identifikationsmuster bereit. Der bereits erwähnte, aus der Antike stammende „Stirb-und- Werde”- Auftrag wird nirgends so vehement empfunden wie in der Pubertät und Adoleszenz.


Fallbeispiel
Paul, ein fünfjähriger Junge, kurz vor dem Beginn der Grundschulzeit, wird plötzlich von diffusen heftigen Ängsten heimgesucht. Er erzählt seinem Vater von einem Tiger, der sich nachts unter seinem Bett verstecke und ihn jeden Moment angreifen könne. Das mache ihm eine Riesenangst. Gemeinsam mit dem Vater wird überlegt, was man tun könne. Paul äußert den Wunsch nach einem Schwert, wie starke Helden es haben. Der Vater schnitzt ihm ein großes Schwert aus Holz und schenkt es ihm mit den Worten: „So, Paul, wenn der Tiger unter dem Bett hervorkommen und gefährlich werden sollte, dann kannst du dich wehren. Du hast nun ein gutes, scharfes Schwert.“ Paul ist beruhigt. Gleichzeitig malt er mit ungelenker Hand einen Krieger mit unübersehbar großem Schwert auf die weiße Tür seines Kinderzimmerschranks. Das hilft ihm merklich. Nach und nach schwächen sich die Ängste ab und verlassen ihn schließlich ganz.

Das Fallbeispiel zeigt sehr schön, wie in einer für den Jungen psychisch angespannten, Ängste hervorrufenden Übergangssituation von der unbeschwerten Kindheit zum Eintritt in die Schule der Rückgriff auf ein archetypisches Muster, in diesem Fall ist es der Heldenarchetyp, dem Kind helfen kann, der neuen Herausforderung, die mit Ängsten begleitet ist, zu begegnen.

Vorbildlichkeit und Ambivalenz des Helden Siegfried
Vorbildlichkeit
Abgesehen von seinem Mut, seiner Stärke und Unüberwindbarkeit im Kampf zeichnet sich Siegfried durch Offenheit, Freundlichkeit und steter Hilfsbereitschaft aus.

Helmut de Boor beschreibt Siegfried so:
Der ideale höfische Held strahlt im Glanze jugendlicher Kraft und Schönheit. [….] Ganz Schönheit und Kraft, Treue und Vertrauen geht er durch die Welt, der unerreichte Held eher durch sein Dasein als durch seine Taten, die nicht Mühsal sind wie die des Herkules, sondern Lust an der eigenen Lebensfülle.
(Das Nibelungenlied, Zweisprachig. Hrsg. und übertragen von HELMUT DE BOOR, Köln 2003, Einleitung, S. 19).

Dennoch sticht Siegfried auch durch sein besonnenes und edelmütiges Verhalten hervor, das sich in seinen Taten zeigt. Darüberhinaus erweist er sich als zurückhaltend und bescheiden. So beansprucht er beispielsweise nach seiner Schwertleite nicht, die Herrschaft in Xanten zu übernehmen, was ihm zugestanden hätte und was viele mächtige Herren im Land auch gerne gesehen hätten. Er tritt freiwillig hinter seine Eltern zurück, nimmt aber gerne die königliche Aufgabe des Richteramts wahr. Im Nibelungenlied heißt es dazu folgendermaßen, die Stelle bezieht sich auf den Abschied von dem grandiosen Fest der Schwertleite:

Mit lȏbelîchen êren sciet sich diu hôhgezît.
Von den rîchen herren hôrte man wol sît
daz si den jungen wolden ze eime herren hân.
des engérte niht her Sîvrit, der vil wætlîche man.
(NL, B 42)

Sît daz noch beide lebten, Sígmunt und Siglint,
niht wolde tragen krône ir beider liebez kint,
doch wold´ er wesen herre für allen den gewalt
des in den landen vorhte der degen küen´únde balt.
(NL, B 43)

Das Fest verklang in Ehren, die Gäste zogen fort.
Von des Landes Großen hörte man da und dort,
Sie sähen auf dem Throne den jungen Fürsten gern.
Doch solche Wünsche lagen Siegfrieds edlem Herzen fern.

So lange sie noch lebten, Siegmund und Siegelind,
Begehrte nicht die Krone ihr geliebtes Kind.
Wo Untat zu befürchten der kühne Degen fand,
Darüber wollte er richten mit seiner herrscherlichen Hand.

Hier wird deutlich, dass es Siegfried mehr darum ging, das Herrschersein mit seiner Persönlichkeit auszufüllen als um die formalen Ehren der Herrschaft zu erringen.
Somit gehört zu den Vorstellungen einer Heldenpersönlichkeit, dass der Held von sich selbst absehen kann, was sich auch in Siegfrieds Loyalität und freundschaftlichen Hilfsbereitschaft zeigt. Beides wird vor allem in seinem Verhalten Gunther gegenüber deutlich. „Lauter Freundestreue” und die „einfache Lauterkeit seines vollkommenen Rittertums” (DE BOOR, a.a.O., S. 19) lassen Siegfried die Brautwerbung Gunthers tatkräftig unterstützen, was später zu seiner Ermordung beiträgt. Aber vorher zeigt Siefried seine Loyalität dem König gegenüber, indem er, auf der trügerisch von Hagen inszenierten Jagd – obwohl als erster an der Quelle angekommen - wartet und Gunther den Vortritt lässt, seinen Durst zu stillen.

Fehlerhaftigkeit
Der strahlende Held hat auch Schattenseiten. Siegfried ist eine vielschichtige Persönlichkeit, und an seinem Tod trägt er eine nicht zu gering zu veranschlagende Mitschuld. Vor allem passt sein unheroischer, kampfloser Tod eigentlich nicht zu einem Helden, zeigt aber, dass auch ein Held als ein Mensch mit Stärken und Schwächen gesehen werden muss. Daher kann er für uns überhaupt nur ein Vorbild sein, das macht ihn menschlich. Woran ist Siegfried gescheitert?

Die „Vasallenlüge”
Bei der Brautwerbung um Brünhild gibt Siegfried sich als Vasall Gunthers aus, indem er diesem den Steigbügeldienst erweist, um Gunther vom ersten Augenblick an als den Überlegenen erscheinen zu lassen. An dieser Stelle täuscht Siegfried einen falschen Lehensstatus vor, er missachtet die Ständeordnung, eine Realität, die er später nicht aufrecht erhalten kann, die sich eher gegen ihn stellt. (Zur „Vasallenlüge” vgl. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 28, 2005, S. 382).
Das Nibelungenlied beschreibt diese Szene wie folgt:

vor disem edelen recken, der hie vor mir stât,
wand´ er ist mîn herre: der êren het ich gerne rât.
(B 420,3)

Erlauchte Fürstentochter. Vor mir steht dieser hier;
Denn er ist mein Lehnsherr: der erste Gruß gebührt nicht mir!

Betrug an Brünhild
Überwältigung Brünhilds durch die Tarnkappe während der Kampfspiele in Island und später bei ihrer Bezwingung im Ehebett.
Siegfried verstrickt sich somit in zahlreiche Lügen, die den Keim für die spätere katastrophale Handlungsentwicklung darstellen.
Weitergabe des Rings und des Gürtels an Kriemhild.
Zur Erklärung, wo er in der Nacht nach der Hochzeitsnacht gewesen ist und um die Überlegenheit über Gunther und den Burgundenhof zu demonstrieren, schenkt Siegfried den von Brünhild in der Nacht geraubten Ring und ihren Gürtel seiner Frau Kriemhild, eine fataler Akt.
In der Szene vor dem Eingang in die Kirche wird Brünhild von Kriemhild durch den Beweis des Besitzes von Ring und Gürtel so gedemütigt, dass sie nur bittere Rache schwören kann. Es fällt ihr nicht schwer, Hagen von Tronje zum Komplizen zu gewinnen, der auch nur darauf aus sein kann, seine Herrin Brünhild zu rächen. Somit ist ein Konfliktpotential entstanden, dass zwangsläufig zum Tod des Helden führen muss. Dabei sind Siegfrieds Taten nicht aus üblen Motiven geschehen, beispielsweise aus Gier nach Macht und Reichtum, sondern aus Motiven von Hilfsbereitschaft, Freundschaft und „minne”. Die Liebe zu Kriemhild, um die er wirbt und die er errringen will, ist die eigentliche Antriebskraft seines Handelns. Das alles sind ehrenvolle Motive, die ihn dennoch in Schuld geraten lassen, sodass Carola Gottzmann feststellen konnte: „Siegfried ist letztlich unschuldig und zugleich schuldig am eigenen Tod.” (C. Gottzmann, Siegfried im Nibelungenlied. Idoneität und Minnedienst,1987, S. 57).

Hagen von Tronje – ein Anti-Held?
Werfen wir nun einen Blick auf Hagen von Tronje. Er ist wohl die schillerndste und widersprüchlichste Heldengestalt im Nibelungenlied. Das wird uns dort bereits selbst bestätigt. So wird er mehrfach als „der degen küene unde balt” (468) oder auch als der „helt von Tronege” (1178,1) und als ein „helt guot” (1503,3) bezeichnet. Kriemhild redet ihn mit „lieber vriunt Hagen” an, und der Dichter bezeichnet ihn sogar als Trost und Helfer der Nibelungen (1526,2), was er ja auf eine Weise auch war. Für Hildebrant dagegen verdient er nur die Bezeichnung als „tiuvel”. Sein Äußeres wiederum ruft Bewunderung hervor. So heißt es von ihm: „Der Held war gut gewachsen... stolz war und selbstbewusst sein Gang”. (B 1734). Dann heißt es aber kurz vorher im Text, dass die Tochter von Rüdeger von Bechlarn bei der Begrüßung Hagen wegen seines furchtbaren Aussehens den Kuss verweigern möchte, sich dann aber doch auf die Bitte des Vaters hin fügen muss, wobei sie „vor Schauder erblasst” B 1665,4; 1666,2 Übs.HdB). Das alles zeigt die widersprüchliche Wahrnehmungsweise des Helden und weist damit bereits auf seinen ambivalenten Charakter hin. Etzel wiederum bezeichnet ihn als „der aller beste degen” (2374 f). Hinzu kommt, dass Hagen sehr hellsichtig bis hin zu skeptisch und misstrauisch ist. Bei fast allen Unternehmungen wittert er – mit Recht – Gefahr oder Verrat, sieht negative Ereignisse voraus, die dann später tatsächlich eintreffen. So warnt er beispielsweise vor der Reise ins Hunnenland, indem es heißt:

Daz er (gemeint ist Gunther) wol möhte rîten in Etzelen lant,
daz rieten im die besten, die er dar under vant,
âne Hagene eine. Dem waz ez grimme leit.
Er sprach zem künege tougen: „ir habt iu selben widerseit,

Nu ist iu doch gewizzen waz wir haben getân.
Wir mugen immer sorge zuo Kriemhilde hân.
”(NL, B1459, 1f):
(…).
Er könne ruhig reiten in König Etzels Land,
So rieten ihm die Höchsten, die er um sich fand.
Dem widersetzte heftig sich Hagen ganz allein.
Er warnte ihn vertraulich: „Wollt Euer eigner Feind Ihr sein?

Was wir getan, mein König, Ihr wißt´s doch selber gut.
Wir müssen stets befürchten Kriemhilds Rachewut.”
(…).
Hagen ist außerdem erfahren und kenntnisreich. Er ist der einzige, der Siegfried bei seiner Ankunft am Burgunderhof erkennt und über dessen frühere Abenteuer Bescheid weiß. Durch sein früheres Leben am Hunnenhof ist er auch in der Lage, die Boten von König Etzel sofort zu erkennen. Andereseits erweist sich Hagen als unzuverlässige, undurchdringliche und betrügerische Persönlichkeit. Die einzige Unternehmung, zu der er rät, ist die Werbungsfahrt nach Island, obwohl er weiß, dass Gunther den Prüfungen Brünhilds nicht gewachsen sein wird. Daher schlägt er vor, Siegfried zur Hilfe auf diese Reise mitzunehmen (B 331). Ihm ist auch klar, dass Brünhild in der Hochzeitsnacht nicht ohne Siegfrieds Eingreifen überwunden werden kann. Diese betrügerischen Handlungen nimmt er in Kauf, wahrscheinlich, um das Burgunderreich durch die Heirat mit einer mächtigen Königin aus dem Norden zu stärken. Als der Betrug später auffliegt, zieht er sich völlig aus der Affäre, ist im Gegenteil sofort bereit, Siegfried aus Rache für die geschmähte Brünhild zu töten. Im Grunde geht es ihm um seinen persönlichen und den Machterhalt seines Landes (B 867f). Im Gegensatz zu Siegfried liegt ihm Bescheidenheit nicht. So verweigert er aus Standesgründen, den Botendienst von Island ins Burgunderland zu übernehmen, das wäre unter seiner Würde (B 531ff). Siegfried dagegen erklärt sich sofort bereit, diesen Dienst zu tun und wird somit von Hagen zum Boten degradiert. An anderer Stelle heißt es von Hagen:
(…) wan Hagene der degen,
der kan mit übermüete der hôhverte pflegen (B 54,1f):

(…) als Hagen nur allein,
Der kann mit seinem Hochmut gar überheblich sein.

Oder er wird als „der vil ungetriuwe man” bezeichnet (B 911), und Hagens heimtückischer Mord an Siegfried wird kommentiert als dass „sô grôze missewende ein helt nu nimmer mêr begât” (B 981,4). Hagen wird also als untreu und seine Tat als Frevel bezeichnet. Frevel war es auch, dass er dem toten Siegfried das Schwert raubt. Leichenraub (rêroub) ist nach höfischer Ethik ein schweres Vergehen.
Er ist listig, stiehlt Kriemhild ihren Besitz, den Hort, versenkt ihn im Rhein und leugnet jede seiner Mordtaten. (B 1043 ff; 1568,1ff).
Rachegefühle bestimmen sein Handeln, Kriemhild gegenüber empfindet er nur Kälte und abgrundtiefen Hass, letztlich auch Siegfried gegenüber, den er imgrunde immer beneidet und als Rivalen empfunden hat.
Als Verwandter und Vasall des Königs Gunther fühlt sich Hagen verantwortlich für Bestand und Machterhalt des Reiches der Burgunder. Er identifiziert sich geradezu mit Königtum und Reich. Das erklärt viele seiner meist skrupellosen, verbrecherischen Handlungsweisen. Nach seinem Mord an Siegfried äußert sich Hagen dementsprechend:

„ez hât nu allez ende unser sórge unt unser leit.
wir vinden ir vil wênic, die türren uns bestân.
wol mich deich sîner hêrschaft hân ze râte getân.” (B 993, 2ff):

Jetzt gibt es keinen andern, der uns zu trotzen wagt.
Für immer hat ein Ende Sorge jetzt und Leid.
Wohl mir: Von seiner Herrschaft hab uns alle ich befreit.”

Nach WOLFGANG SPIEWOK (in: Werkinterpretationen zur deutschen Literatur, Berlin 1986) ist der „Kern (der) künstlerisch-ideellen Aussageabsicht” des Dichters die Machtfrage, die „schließlich die Selbstzerstörung der idealen Ritterwelt als katastrophale Folge machtpolitischer Interessengegensätze” nach sich zieht. (HORST WEBER, Nachwort zu de Boors Ausgabe des NL, S. 726f).

Eine Frage zu Beginn des Vortrags lautete:
Wer oder was ist ein Held?

Zunächst zu Siegfried.
An Siegfried wurde uns die Ambivalenz eines Helden verdeutlicht. Er ist eine komplexe Persönlichkeit. Neben seinen überragenden Stärken und strahlenden Fähigkeiten mit zahlreichen Erfolgen und Siegen im Kampf besitzt er auch Schattenseiten, das vollkommene Heldenbild ist ohne Risse nicht zu haben. Dadurch leuchtet uns, wie bereits erwähnt, seine Menschlichkeit auf. Erfolg und Scheitern gehört zum Menschsein dazu. Tragisch bei Siegfried ist nur, dass sein Scheitern mit dem Tod endet.
„Siegfried ist kein Guter oder Schlechter, kein Idealmensch, kein Vorbild oder Gegenbild, sondern er ist geschaffen `zur Bewunderung, Sympathie und Erschütterung. Er hat seine Größe, sein Verhängnis und seinen Tod` (E. STUTZ. S. 429)”. (zit. nach JOCHEN ENGELHORN, Siegfried. Der Inbegriff eines Helden? Studienarbeit. Grin 2006).
Grenzenloses Selbstvertrauen, das unschwer in Leichtfertigkeit und in Omnipotenzphantasien ausarten kann, ist Siegfried sicherlich nicht abzusprechen.
Sein Verhalten ist phasenweise deutlich von Selbstüberschätzung geprägt, was letztlich Selbstzerstörung und die Zerstörung Anderer bewirkt.
Allerdings ist im Vergleich mit Hagen von Tronje festzustellen, dass Siegfrieds Handeln weitgehend aus positiven Motiven heraus geschieht. Er handelt aus Gründen von Freundschaft, Loyalität und Großzügigkeit. Dies treibt ihn an, seine heldenhaften Fähigkeiten Freunden und Verbündeten zur Verfügung zu stellen.
Hagen dagegen erweist sich als eher negativer Held, da er seine Stärke, seinen Mut und seine Heldenhaftigkeit eher aus destruktiven Motiven heraus verwendet. Sein zerstörerisches, betrügerisches Handeln kennt keine Grenzen und geschieht aus Rache für die gedemütigte Brünhild, und da sie seine Königin ist, trifft ihn das auch, aus Habgier (der Hort) und aus Machtstreben, persönlich und für sein Burgunderreich.
Das Thema des Vortrags lautete „Der Archetyp des Helden”.
Jeder Archetyp hat eine helle und eine dunkle, eine aufbauende und eine destruktive Seite. Es gibt z.B. den Archetyp der Göttin und den der Hexe, den des Retters und den des Zerstörers. In Hagens Persönlichkeit scheint eher die destruktive Seite eines Helden deutlich zu werden. Trotzdem bleibt die Frage offen, ob Hagen eher ein Verräter war oder in triuwe für seinen König und sein Land gedient hat. Sicher ist beides der Fall, wodurch er wohl der abgründigste Charakter im Nibelungenlied ist.

Vielleicht möchte uns der Dichter sowohl am Beispiel Siegfrieds, als auch Hagens und später auch anderer Helden dieses Epos die höfische Tugend der mâze, gründend auf einer der vier platonischen Kardinaltugenden, der temperantia vor Augen führen und vor den Extremen, vor Radikalität im Denken und im Handeln und vor mangelnder Besonnenheit warnen. Extreme sind immer gefährlich, unabhängig von den Handlungsmotiven, mögen sie auch noch so berechtigt sein. Der Zweck heiligt nicht die Mittel.
Mâze, ebenso wie temperantia bedeuten die Fähigkeit, das rechte Maß zu finden, abwägen und angemessen und besonnen handeln zu können und bilden damit das Gegenteil zur superbia, der übermüete. Das Nibelungenlied, vor allem der zweite Teil, zeigt, dass Obsession und Radikalität nicht anders können, als Zerstörung und Unheil nach sich zu ziehen.
Mit dieser Aussage besitzt der Text heute eine bedeutsame Aktualität.

Textausgaben

Das Nibelungenlied (Handschrift B „Der Nibelunge Nôt”)
nach der Ausgabe von KARL BARTSCH, hrsg. Von HELMUT DE BOOR, 21. 1979,
revidiert und ergänzt von ROSWITHA WISNIEWSKI als 22. Aufl., Mannheim 1988

Das Nibelungenlied, zweisprachig.
Hrsg. und übertragen von HELMUT DE BOOR, Köln 2003