Nibelungen-Gedichte
ein Lesebuch

Kriemhilds Rolle
bei der Ermordung Siegfrieds

eine Buchpräsentation von Gunter E. Grimm

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Buchcover (Ausschnitt))..


Das Buch (1) enthält eine Sammlung von Gedichten, die auf irgendeine Weise vom Nibelungenstoff handeln. Dazu gehören die Nibelungen-Gedichte im engeren Sinn, Gedichte also, die Personen oder Konstellationen des mittelalterlichen Epos aufgreifen, aber auch solche Gedichte, die das Nibelungenlied lediglich erwähnen oder bloß Anspielungen auf die alte Sage enthalten. Unter diesen Gedichten musste selbstverständlich eine Auswahl getroffen werden. Die Reihe der Autoren beginnt, kurz nach der Wiederentdeckung des Nibelungenliedes durch Jacob Hermann Obereit im Jahre 1755, mit Johann Heinrich Füssli, und sie endet mit Franz Fühmann. Es ist zuweilen erstaunlich, wer alles sich mit dem Nibelungenstoff beschäftigt hat. In aller Ausführlichkeit Goethe und Uhland, Hebbel und Wagner, aber auch so bekannte Dichter wie Tieck, Brentano und Heine griffen auf nibelungische Themen zurück.
Hinter der Anthologie steht eine ausgedehnte Sammeltätigkeit. Die Suchaktionen wurden systematisch vorgenommen, doch verdanken sich einige Funde auch schönen Zufällen, etwa beim Schmökern in Zeitschriften und Werken, oder den Mitteilungen interessierter Leser des Internetportals www.nibelungenrezeption.de, das sich auf breiter Ebene (Geschichte, Politik, Kunst, Literatur, Musik) mit der Rezeption des Nibelungenstoffes beschäftigt.
Es gibt zahlreiche Epen, Dramen und vor allem Romane, die sich mit einer Nacherzählung oder Neuaufbereitung des gewaltigen Stoffes beschäftigen. Sie können, aus Umfangsgründen, in keine Anthologie gepresst werden. Bei Gedichten ist das ein anderer Fall. Denn auch die Lyriker haben sich des Themas angenommen, weil die Nibelungensage zahlreiche ergiebige Szenen und interessante Charaktere bietet. Deren Gefühlsregungen reichen von Wertschätzung, Freundschaft, Liebe über Jammer, Klage, Rache bis zu tödlichem Hass. Für Dichter also ein reiches Spektrum, in Rollengedichten ihre Einfühlungskraft zu zeigen. Unter den Ni-belungengedichten finden sich zahlreiche Balladen. Der Romantiker Ludwig Tieck hat zwei umfangreiche Romanzen über Siegfrieds Jugend geschrieben, Ludwig Uhland eine Ballade „Siegfrieds Schwert“, Emanuel Geibel dichtete „Volkers Nachtgesang“ und Felix Dahn hat „Hagens Sterbelied“ verfasst. Am bekanntesten wurde sicherlich die Ballade „Die Nibelungen“ von Agnes Miegel. Sie durfte früher in keiner Balladen-Anthologie fehlen.

Die insgesamt 62 Verfasser werden in der Regel mit einem Bild und einer kurzen Biographie vorgestellt, wie das Beispiel Karl Simrocks zeigt.





Die abgedruckten Gedichte sind nicht nur Produkte des individuellen Gestaltungsvermögens, sondern auch Zeugnisse des Zeitgeistes und des Zeitgeschmacks. Weil man vom 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Nibelungensage für einen nationalen Stoff hielt, stehen diese Texte in engem Zusammenhang mit dem Verlauf der deutschen Geschichte. Sie sind chronologisch angeordnet, weil sich in der Chronologie die Veränderung der Werte spie-gelt, mit denen die Autoren die Figuren und Motive des Nibelungenstoffes versehen. Die folgenden sechs Stationen mögen diese These erhärten.

1. Station: Klassizismus
Im 18. Jahrhundert herrschte in Kunstdingen ein klassizistischer Geschmack. Das lässt sich sowohl in der Bildenden Kunst als auch in der Literatur belegen. Dafür steht beispielhaft Johann Heinrich Füssli (1741-1825). Er stammte aus Zürich, studierte zunächst Theologie und Sprachen, erlernte aber auch die Malkunst. 1761 zum evangelisch-reformierten Pfarrer ordiniert, wurde er jedoch wegen Mitwirkung an einem Pamphlet gegen den Landvogt von Grüningen gemaßregelt, verließ die Schweiz und ging schließlich nach London, wo er zunächst als Übersetzer von Johann Joachim Winckelmanns Werken, dann aber ausschließlich als Maler tätig war. In Rom lernte er den von Winckelmann beeinflussten und damals hochgeschätzten Maler Anton Raphael Mengs persönlich kennen. Seit 1779 ließ Füssli sich endgültig in London nieder und machte eine Karriere als Maler. In England kennt man ihn unter dem Namen Henry Fuseli.
Füssli hat sich mit dem Nibelungenlied zwar seit 1798 beschäftigt, doch setzte die intensive und produktive Phase 1805 ein. In wenigen Monaten erschuf er eine Folge von Nibelungen-blättern, die zu seinen besten Leistungen gehören. Vom Nibelungenlied inspirierte Gedichte wie „Der Dichter der Schwesternrache“ und „Chremhilds Klage um Sivrit“ begleiteten die Entstehung der Zeichnungen, von denen er acht als Gemälde ausführte. Das letzte stammte von 1820. Die Grundlage seiner Illustrationen bildete die erste, 1782 erschienene Edition des Urtextes von Bodmers Schüler Christoph Heinrich Myller; später erwarb er zwei weitere Übersetzungen. Er kannte sich in der deutschen und der nordischen Version der Sage aus.
August Wilhelm Schlegel hatte zwischen 1801 und 1804 in Berlin Vorlesungen gehalten, die das Nibelungenlied als deutsches Nationalepos priesen und Dichter und Bildhauer animierten, nibelungische Sujets zu wählen. Ob Füssli von dieser Vorlesung erfahren hat, ist nicht bekannt. Jedenfalls ist seine Sichtweise von der nationalen der Romantiker völlig verschieden. Seine Gestalten sind alle von Winckelmanns Ideal der „edlen Einfalt und stillen Größe“ ge-prägt. Wie antike Helden erscheinen sie nackt oder sind von antiken Gewändern umhüllt. Füssli erblickte in Siegfried einen besseren Achill, einen strahlenden Helden und Halbgott. In seiner Deutung der Kriemhild-Gestalt geht Füssli jedoch weit über das mittelhochdeutsche Epos hinaus. Seine alkäische Ode „Chremhilds Klage um Sivrit“ bietet auch für die Bildge-staltungen den interpretatorischen Ausgangspunkt:

So oft des Nachts mein Herz erbebt, Teuerster,
Umfangt mein Geist dich! Wachend, in Träumen fährt
Mit jedes Pulses Flügelschlage
Nieder zu dir die verliebte Seele!
Du weißt, Geliebter! Bräutigam, du nur weißt,
Warum ich noch nicht an deine Brust gelegt
Im Grabe dich umfass’ und ewig
Unzertrennt auf deinem Antlitz ruhe!
Wärst du gerächet; strahlete Palmung dir
Am Arme; läge Hagens enthalstes Haupt
An deiner Ferse Sporn geworfen –
Würde dies Leben wohl Chremhild halten?
[…]
Teuer ward dir meine Liebe, mein Bräutigam!
Chremhildas Trutz, nicht Tronis verzagter Schuß
Durchbohrte Sivrits Brust ...
Nicht daß du ihr den Gürtel gelöset, hat
Sie deinen Mord gebrütet; dein Geist entfloh,
Weil du an Chremhilds Brust ihn bandest
Und mit dem Ringe dich mir vermähltest! (NG, S. 13)

Indem Füssli die Figur der Kriemhild Gewissensqualen leiden lässt, die man als heimliches Eingeständnis ihrer Schuld am Tod Siegfrieds deuten könnte, vertieft er ihren Charakter, ja modernisiert ihn ins Psychologische. Ihr Streit mit Brunhilde vor dem Wormser Dom war der Auslöser der Racheaktion, ihr törichtes Vertrauen in Hagen bot die Handhabe für die Meu-chelmörder. Kriemhilds Selbstbezichtigungen sind Füsslis eigene Erfindung. Diese geradezu wilde Trauer zeigt sich besonders in den Bildern Kriemhild wirft sich auf den toten Siegfried, Kriemhild hält Totenwache für Siegfried, Kriemhild klagt an der Leiche Siegfried im Dom zu Worms Gunther und Hagen des Mordes an und Kriemhild bei der Totenwache für Siegfried von Verkörperungen ihrer Selbstanklagen heimgesucht.


Kriemhild wirft sich auf den toten Siegfried (Ölbild von 1817)

Füsslis hat den Schock Kriemhildes, wie sie den toten Siegfried vor ihrer Türe findet, mehrfach gestaltet. Die beiden späteren Gemälde erreichen jedoch nicht die „lapidare Wirkung“ der getuschten Federzeichnung, wie Gert Schiff sicherlich zu Recht bemerkt.


Kriemhild hält Totenwache für Siegfried (1805)

Gert Schiff hat im Zusammenhang der getuschten Federzeichnung „Kriemhilds Totenwache“ auf „den Adel der Erfindung“ hingewiesen, „wie Kriemhild den Kopf des Toten umfängt und ihr über seine Brust gesenktes Haupt auf die im Schmerz geballte Faust stützt“, und die Dar-stellung als in ihrem „für Füssli ungewöhnlich tiefen Gefühlsgehalt fraglos mancher großen Pietà oder Adonisklage“ an die Seite gestellt. (2)


Kriemhild klagt an der Leiche Siegfried im Dom zu Worms Gunther und Hagen des Mordes an (1805)


Kriemhild bei der Totenwache für Siegfried von Verkörperungen ihrer Selbstanklagen heimgesucht (1805)


Füssli greift in seiner Bildgestaltung übrigens die Dreistufung auf, die William Blake bei seiner Darstellung der Hexen in Shakespeares „Macbeth“ angewendet hat.

2. Station Romantik
Ludwig Uhland (1787-1862), der wichtigste Vertreter der schwäbischen Romantik, war Jurist und Philologe und wirkte einige Jahre als Germanistik-Professor an der Universität Tübingen. Mit dem Nibelungenstoff hat Uhland sich auf vielfache Weise beschäftigt. Bereits in dem handschriftlichen „Sonntagsblatt für gebildete Stände“ (Januar – März 1807) publizierte Uhland ein „Bruchstück aus dem Nibelungenlied“. Aus dem Jahre 1812 stammt die Ballade „Siegfrieds Schwert“. Er hat auch ein Drama konzipiert, doch kam sein dramatischer Versuch „Die Nibelungen“ von 1817 nicht über die inhaltliche Skizze hinaus, weil er den epischen Stoff für nicht dramatisierbar hielt. Als Wissenschaftler hat sich Uhland 1807 mit einer Übersetzung des Nibelungenlieds beschäftigt und sich in verschiedenen Vorlesungen mit Inhalt und Gehalt der Nibelungensage und ihrer nordischen Ausprägung auseinandergesetzt.
Seine Ballade „Siegfrieds Schwert“ steht unter dem Einfluss der Tieckschen Reimerzählungen. Die Entstehung der Ballade lässt sich exakt auf den 8. Januar 1812 datieren, ihre Publikation erfolgte im selben Jahr in Friedrich de la Motte-Fouqués Zeitschrift Die Musen. Im Dezember 1809 hatte Uhland an Justinus Kerner geschrieben: „Könnte man nicht den Volksro-man vom gehörnten Siegfried in Balladen im Volkston bearbeiten?“ (3) Tatsächlich findet sich die Schmiedeszene in der „Historia von dem gehörnten Siegfried“, im „Lied vom Hürnen Seyfrid“ und in der „Thidreksaga“, das Motiv des Hürnen-Werdens spielt bei Uhland allerdings keine Rolle.

Siegfrieds Schwert
Jung Siegfried war ein stolzer Knab’,
Ging von des Vaters Burg herab.
Wollt’ rasten nicht in Vaters Haus,
Wollt’ wandern in alle Welt hinaus.
Begegnet’ ihm manch Ritter wert
Mit festem Schild und breitem Schwert.
Siegfried nur einen Stecken trug;
Das war ihm bitter und leid genug.
Und als er ging im finstern Wald,
Kam er zu einer Schmiede bald.
Da sah er Eisen und Stahl genug;
Ein lustig Feuer Flammen schlug.
„O Meister, liebster Meister mein!
Laß du mich deinen Gesellen sein!
Und lehr’ du mich mit Fleiß und Acht,
Wie man die guten Schwerter macht!“
Siegfried den Hammer wohl schwingen kunnt’.
Er schlug den Amboß in den Grund.
Er schlug, daß weit der Wald erklang
Und alles Eisen in Stücke sprang.
Und von der letzten Eisenstang’
Macht’ er ein Schwert so breit und lang.
„Nun hab’ ich geschmiedet ein gutes Schwert,
Nun bin ich wie andre Ritter wert.
„Nun schlag’ ich wie ein andrer Held
Die Riesen und Drachen in Wald und Feld.“ (NG, S. 78f.)

Betrachtet man die Ballade etwas genauer, so scheint sie auf den ersten Blick von einem jugendlich unbekümmerten Schlagetot zu berichten, und der Ton der Ballade erscheint heute ebenfalls ziemlich naiv, künstlich auf volksmäßig getrimmt, eben um Herders in der „Ossian“-Abhandlung erhobenen Forderung nach Volkhaftigkeit Genüge zu leisten. Siegfried ist ein unerfahrener, aber tollkühner Held: Anders als die etablierten Ritter besitzt er weder Schild noch Schwert. Aber er ist lernfähig und verfügt über genug Selbstbewusstsein, um sich einem Schmiedemeister zu verdingen, in der Hoffnung, sich nun selbst Waffen schmieden und die Riesen und Drachen aus eigener Kraft erlegen zu können. Bereits nach den ersten Lehrstunden erweist er sich als unbezwingbarer Schüler, der den Amboss gar in den Grund schlägt und alles Eisen in Stücke zerspringen lässt. Es entspricht seiner stolzen Gesinnung, dass er sich aus eigener Kraft die Waffen schmiedet, mit denen er es den nacheifernswerten Rittern gleichtun kann. Siegfried erscheint als romantischer Märchenheld – mit allen Klischees, die Uhland aber bewusst einsetzt. Es gibt nämlich eine Nebenlesart, die nicht unter-schlagen werden darf.
Berücksichtigt man den historischen Kontext einerseits – Anfang 1812 befand sich Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht – und andererseits die Tatsache, dass Uhland von seinen Anfängen an ein politischer Mensch war, so zielt diese scheinbar so harmlose Dichtung auf die politische Gegenwart. Sie richtet sich gegen die französische Okkupation Deutschlands: Siegfried, das ist Deutschland, und die aufgezeigte Haltung ist die eines Selbsthelfers nicht nur im persönlichen Bereich. Der hier als Sohn eines Burgbesitzers, eines Königs oder reichen Adligen charakterisierte Jung-Siegfried soll nicht „verligen“, also auf seinen Lorbeeren, seinem Erbe oder seinem Zustand als Frischvermählter ausruhen. Die Botschaft lautet: Die Befreiung Deutschlands vom französischen Joch kann nur mit Waffengewalt erreicht werden, und die Waffen muss sich das deutsche Volk selbst schmieden. Insofern lässt sich das Gedicht gera-dezu als politischer Appell lesen, als Aufruf weniger an das Volk, als vielmehr an die Führer des Volkes, den Adel und die Stände, zu sich selbst und zur eigenen Stärke zu finden und den Feind zu schlagen.

3. Station. Vormärz, Restauration
In den Befreiungskriegen gegen Napoleon wird das Nibelungenlied als Symbol für Deutsch-lands Einigkeit eingesetzt. Max von Schenkendorf (1783-1817) etwa in seinem 1814 publizierten Gedicht „Das Lied von Rhein“ beschwört den „heil’gen Rhein“ und identifiziert den Nibelungenhort mit dem alten Kaisertum.

[…] Der Nibelungen Hort
Ersteht und glänzet neu!
Es sind die alten deutschen Ehren,
Die wieder ihren Schein bewähren:
Der Väter Zucht und Mut und Ruhm,
Das heil’ge deutsche Kaisertum! (NG, S. 67)

Nach dem Sieg über Napoleon erhielt Deutschland keine demokratische Verfassung, sondern war weiterhin ein durch zahlreiche Herrschaften geprägter Staatenbund. Die revolutionäre Bewegung des Vormärz und die Autoren des Jungen Deutschland haben sich dezidiert gegen das Spitzelsystem des allmächtigen österreichischen Kanzlers Metternich und gegen die Bevor-mundung der Bürger gewandt.
Der Rhein wurde immer in Zeiten nachbarlicher Krisen beschworen. 1840 versuchte das französische Ministerium Adolphe Thiers von seiner unglücklichen Orientpolitik abzulenken und erhob, gewissermaßen zur Kompensation, wieder die alte Forderung nach der Rheingrenze. Es war die sogenannte „Rheinkrise“, die zu einer empörten Reaktion in deutschen Landen führte und immerhin einige Liedermacher zur Schöpfung noch heute bekannter Kampfgedich-te veranlasste. Nämlich Nikolaus Beckers „Rheinlied“: „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein“, Max Schneckenburgers „Die Wacht am Rhein“ und Ernst Moritz Arndts „Lied vom Rhein“. Aber erst Arndt zitiert im Zusammenhang der französischen Grenzforde-rung das ‚Hortmotiv’.

Nun brause fröhlich, Rhein:
Nie soll ob meinem Hort
Ein Welscher Wächter sein!
Das brause fort und fort. (NG, S. 35)

Der Rhein ist allerdings nicht Fort Knox, und der Nibelungenhort nicht der deutsche Staatsschatz, es handelt sich vielmehr um einen symbolischen Schatz, ein Sinnbild der politischen Einheit Deutschlands, die – damals jedenfalls – noch nicht erreicht worden war und deren Erfüllung während der Zeit zwischen Wiener Kongress und deutsch-französischem Krieg der Sehnsuchtstraum aller deutschen Patrioten war.
In Heinrich Heines (1797-1856) Gedicht „Deutschland im Sommer 1840“ wird dieser Traum ins Lächerliche gezogen. Heine entwickelt hier eine Vision, wie sie für die Dichtungen der Vormärzautoren einigermaßen repräsentativ ist, und beschwört angesichts der Zersplitterung die Einheit, angesichts der Uneinigkeit die Einigkeit.

Deutschland ist noch ein kleines Kind,
Doch die Sonne ist seine Amme;
Sie säugt es nicht mit stiller Milch,
Sie säugt es mit wilder Flamme.
Bei solcher Nahrung wächst man schnell
Und kocht das Blut in den Adern.
Ihr Nachbarskinder, hütet euch
Mit dem jungen Burschen zu hadern!
Es ist ein täppisches Rieselein,
Reißt aus dem Boden die Eiche,
Und schlägt euch damit den Rücken wund
Und die Köpfe windelweiche.
Dem Siegfried gleicht er, dem edlen Fant,
Von dem wir singen und sagen;
Der hat, nachdem er geschmiedet sein Schwert,
Den Amboß entzweigeschlagen!
Ja, du wirst einst wie Siegfried sein
Und töten den häßlichen Drachen,
Heisa! wie freudig vom Himmel herab
Wird deine Frau Amme lachen!
Du wirst ihn töten, und seinen Hort,
Die Reichskleinodien, besitzen.
Heisa! wie wird auf deinem Haupt
Die goldne Krone blitzen! (NG, S. 96f.)

Heine identifiziert interessanterweise den Hort mit den „Reichskleinodien“, insbesondere mit der Kaiserkrone. Wer ist der „hässliche Drachen“, zu dessen Tötung Siegfried-Deutschland vorherbestimmt ist? Naheliegend ist es, an Frankreich als den militärischen Feind zu denken. Oder sind auch die deutschen Könige und Fürsten gemeint, die aus Eigennutz die Zwietracht schüren und die Einheit Deutschlands verhindern? Der Tonfall seines Nibelungen-Gedichts ist ironisch gebrochen, was den Ernst der Botschaft relativiert. Der spielerische Duktus gewährt dem Leser genügend Freiraum, die ganze Prophezeiung als Ausgeburt dichterischer Phantasie zu werten. Immerhin er-scheint das Ideal auch monarchistisch geprägt, wie das Bild von der goldenen Krone auf Deutschlands Haupt indiziert – Heine denkt wohl an einen Kaiser an der Spitze des Staates, einen de-mokratisch legitimierten Kaiser, wie sich für ihn versteht, einen gewählten Bürgerkönig oder Volkskönig. In dieser Vorstellung verbinden sich moderne demokratische und altmodische ro-mantische Züge. Jedenfalls ironisiert Heine den romantischen Traum von der Wiederherstellung des mittelalterlichen Kaiser-tums Karls des Großen als nicht mehr zeitgemäß.
Für die konservative Verarbeitung des Nibelungensujets sind die Balladen Emanuel Geibels (1815-1884) und Felix Dahns (1834-1912) repräsentativ. Schon 1844 hatte Geibel nach einem starken Mann gerufen:

Ein Mann ist not, ein Nibelungenenkel,
Daß er die Zeit, den tollgewordnen Renner,
Mit eh’rner Faust beherrsch’ und eh’rnem Schenkel. (NG, S. 142)

Besonders die Gedichte Dahns verbreiten teutonischen Ungeist, wie er sich etwa auch in seinen einst viel gelesenen Romanen findet. Dahn entwirft in ihnen das Bild schicksalsgläubiger und todesmutiger Helden, die sich ihren politischen Aufgaben mit vollem Engagement und um den Preis ihres Lebens stel-len. Das todesverachtende Heldenbild hat militaristisch-nationalistischen Tendenzen vorgearbeitet. Im 1856 verfassten Gedicht „Der Bundestag“ beschwört Dahn einen Helden „von echtem Siegfriedsmute“, der den als giftige Drachen apostrophierten Monarchen und Fürsten den Hort ent-reißt und das deutsche Hoffen auf eine Vereinigung der deutschen Staa-ten in Recht und Freiheit erfüllt. Und in einem Widmungsgedicht von 1858 schreibt er:

Kunst, Wissenschaft und Liebesglück und Leben,
Ich würfe rasch sie, ohne Klagewort,
Ein freudig Opfer in den Rheinstrom gleich,
Könnt’ ich dadurch aus seinen Fluten heben
Den lang versunknen Nibelungenhort:
Die deutsche Freiheit und das deutsche Reich. (NG, S. 194)

Auch das 1868 geschriebene Gedicht „Die Rheinmädchen und das Rheingold“ entwirft das nationale Hoffnungsbild vom zweiten Siegfried als dem Gründer eines neuen Reiches, das er als neuer Kaiser beherrschen wird:

Ein Reich wird er gründen wie keines hienieden,
Voll Recht und voll Freiheit, voll Macht und voll Frieden.
Im Chor singen die Rheintöchter:
Wir halten im Rheingold die Krone bereit
Für die kommende deutsche Herrlichkeit. (NG, S. 200)

Den Gipfel nationalistischer Verbohrtheit erreicht Dahn in einem Gedicht, das er 1859 verfasst hatte zu einem Zeitpunkt, als das Gerücht die Runde machte, Russland, Frankreich und Italien hätten Deutschland den Krieg erklärt. Hier ein Ausschnitt:

Und wenn’s beschlossen ist da droben, daß unser Reich versink’ in Nacht, -
Noch einmal soll die Welt erproben des deutschen Schwertes alte Macht:
Soll nicht mehr deutsches Wort erschallen, nicht deutsche Sitte mehr bestehn,
So laßt uns stolz und herrlich fallen, nicht tatenlos in Schmach vergehn.
Zieht einst ein Tag die Schuld der Ahnen, die eigne Schuld vors Weltgericht:
Ihr seid die Schergen, ihr Romanen und Slawen, doch die Richter nicht!
Wir beugen uns den Schicksalsmächten: sie strafen furchtbar und gerecht:
Ihr aber seid, mit uns zu rechten, kein ebenbürtiges Geschlecht!
[…]
Schon einmal ward so stolz gerungen von deutschen Helden, kühn im Tod:
Ein zweiter Kampf der Nibelungen sei unsern Feinden angedroht:
Prophetisch war die alte Sage und grauenhaft wird sie erfüllt,
Wenn an dem letzten deutschen Tage der Schlachtruf dreier Völker brüllt.
[…]
Wir stiegen auf in Kampfgewittern, der Heldentod ist unser Recht:
Die Erde soll im Kern erzittern, wann fällt ihr tapferstes Geschlecht:
Brach Etzels Haus in Glut zusammen, als er die Nibelungen zwang,
So soll Europa stehn in Flammen bei der Germanen Untergang! (NG, S. 198f.)

Hier begegnen bereits rassistische Ingredienzien, die sich in der nationalsozialistischen Ideologie wiederfinden. Was hier an die Wand gemalt wird, hat sich im Zweiten Weltkrieg dann einigermaßen erfüllt. Und Hermann Göring hat sich in seiner berüchtigten Stalingrad-Rede explizit auf den Endkampf der Nibelungen bezogen. Übrigens findet in solchen Untergangsszenarien Hagen durchaus Sympathie: als unerschrockener Kämpfer bis zum bitteren Ende.

4. Station: Deutsches Reich
Das Wunschbild von der „kommenden deutschen Herrlichkeit“ wurde bereits drei Jahre später verwirklicht, 1871, mit der Gründung des Deutschen Reiches. Bismarcks Einigung Deutschlands geschah aus preußischem Geist und war eine Maßnahme „von oben“. Das autokratisch begründete „Reich“ war denn auch mit allen negativen Prämissen eines militärisch strukturierten Staates belastet. Für die meisten Zeitgenossen überwog das triumphierende Gefühl, endlich gleichwertig im Kreis der europäischen Nationen dazustehen. Aus dem Patriotismus entwickelte sich ein vehementer Nationalismus, der sich zunehmend als aggressives Streben nach europäischer Dominanz manifestierte.
Für den Zeitgeist während des Kaiserreichs ist die Zunahme von Nibelungenliteratur bezeichnend. Während Karl Simrocks Übersetzung des Nibelungenlieds zwischen 1851 und 1870 19 Auflagen erlebte, konnten zwischen 1870 und 1880 weitere 21 Auflagen gedruckt werden. Siegfried, der mythische Nationalheld, wurde oft mit Hermann dem Cherusker identifiziert, der Drachenkampf aber mit der Varusschlacht gleichgesetzt. Bei dieser wilden assoziativen Manie, aus Mythos und Geschichte Ähnlichkeiten und Identitäten zusammen zu klauben, lag es nahe, in der Gegenwart die Römer mit dem Erbfeind, den Franzosen, in eins zu setzen, und die Siegfried-Arminius-Imago auf Bismarck zu übertragen. Schon Felix Dahn hat mehrfach den Reichsgründer Bismarck, den „Held von echtem Siegfried-Mute“, mit Siegfried identifiziert, wobei aus den einst von Arminius besiegten Römern die von Bismarck niedergezwungenen Franzosen werden.
Die effektvoll im Spiegelsaal von Versailles inszenierte Kaiserkrönung schuf dem jungen Reich allerdings neue Feinde, die Dahn seinerseits erahnt und ‚schicksalhaft’ in Kauf genommen hatte. Nur wenige der dichtenden Zeitgenossen, wie etwa Georg Herwegh, haben die prinzipiell undemokratischen Wurzeln als Grundübel der gesamten reichskaiserlichen Politik verurteilt. Ironisch greift er das verbreitete Drachen-Klischee im hellsichtig-kritischen Gedicht „Den Siegestrunknen“ auf:

Vorüber ist der harte Strauß.
Der welsche Drache liegt bezwungen,
Und Bismarck-Siegfried kehrt nach Haus
Mit seinem Schatz der Nibelungen […].

Die ersehnte Einheit Deutschlands sollte nicht mit dem autokratischen Regiment verwechselt werden:

Ihr wähnt euch einig, weil ein Mann
Darf über Krieg und Frieden schalten
Und euch zur Schlachtbank führen kann
Mit der Parol: das Maul gehalten!
[…]
Einheit des Rechtes ist kein Schild,
Der uns bewahrt vor Unterdrückung;
Nur wo als Recht das Rechte gilt,
Wird sie zum Segen, zur Beglückung.
Nur diese war’s, die wir erstrebt,
Die Einheit, die man auf den Namen
Der Freiheit aus der Taufe hebt;
Doch eure stammt vom Teufel: Amen! (NG, S157f.)

5. Station. Weimarer Republik
Im Ersten Weltkrieg kulminierte der Kult um die Siegfried-Gestalt, Begriffe wie „Nibelungentreue“ und „Siegfried-Deutschland“ sollten das Gemeinschaftsdenken fördern und die Opferbereitschaft aller Schichten stimulieren. Hagen gilt als Inbegriff der Treue, der Gefolgschaftstreue, und das hat kein anderer als Dietrich Eckart in einem Gedicht formuliert, Dietrich Eckart, der Chefredakteur des „Völkischen Beobachters“, dem Hitler den ersten Band von „Mein Kampf“ gewidmet hat. Das Lied der Nibelungen, heißt es in seinem Gedicht „Geduld“, offenbare immer wieder neu

Was deutsche Kraft vermag, und deutscher Mut;
Um immer wieder, immerfort aufs neue,
Der Welt zu künden, bis sie untergeht,
Daß unter Trümmern noch die deutsche Treue,
Daß noch in Flammen sie den Kampf besteht. (NG, S. 244f.)

Die Gleichsetzung Siegfrieds mit Deutschland findet sich häufig bei konservativen Autoren der Weimarer Republik. Siegfrieds Ermordung durch Hagen und die Dolchstoßlegende ließen sich unschwer parallelisieren. Auch Hindenburg hat in seinem „Politischen Testament“ von 1934 diesen Vergleich aufgegriffen: „Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmigen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front […].“ (4) Hagen, im Krieg wegen seiner Nibelungentreue noch gerühmt, galt jetzt als Verkörperung des heimtückischen Verräters.
Der erzkonservative Dichter und Literarhistoriker Adolf Bartels hat Deutschland mit Siegfried verglichen. Die Dolchstoßlegende wird in eins gesetzt mit der Ermordung des lichten Helden. Und zwar von einem Mann aus den eigenen Reihen. So im Gedicht „Der deutsche Fluch“.

Nein, ohne Falsch und harmlos wie ein Kind
Und offenherzig, stets die Seele auf der Zunge,
Ist er ein Deutscher, ist, wie unsre Besten sind,
Ein Mann – und noch ein wackrer Junge.
So fällt er ewig neu durch dunkle Tat,
Von grimmem Neid, der sich Verachtung dünkt, erschlagen –
Und, o, ein Bruder übt allzeit an ihm Verrat,
Denn zweifelt nicht: deutsch ist auch Hagen. (NG, S. 217)

Auch Josef Weinhebers Gedicht „Siegfried – Hagen“ ist dafür ein Beleg. Siegfried, der „Held mit den blonden Haaren“ hätte nie in offenem Kampf gefällt werden können. „Ehrgier, Wurmgift, Neid“ sind die eigentlichen Motive für den Meuchelmord an der für die missgünstigen Konkurrenten nur schwer ertragbaren Lichtgestalt.

Immer ersteht dem lichten
Siegfried ein Tronje im Nu.
Weh, wie wir uns vernichten
und das Reich dazu. (NG, S. 280)

In Börries von Münchhausens Gedicht „Hagen“ beantwortet der finstere Held Fragen, die ein konservativer und angesichts der deutschen Kriegs-Niederlage deprimierter Sprecher stellt:

Hagen, sag, was bleibt uns denn heut:
Ohne Führer das heilige Volk,
Tot die Helden, und hoffnungslos
Deutsches Geschick an Fremde versklavt!? (NG, S. 255)

Unschwer zu ahnen, dass Hagen Durchhalten empfiehlt, Treue um der Treue willen, und Stolz um jeden Preis. Das Gedicht wurde 1921 geschrieben; zwölf Jahre später war die Stunde des „Führers“ gekommen.
Die Uminterpretation der Siegfried-Gestalt folgte der nationalsozialistischen Tendenz, Siegfried als Verkörperung des nordischen Menschen zu begreifen, eine Anschauung, die ihre Wurzeln schon im 19. Jahrhundert hatte. Siegfried, der Inbegriff des nordischen Menschen, wurde zum Stammvater der arischen Rasse, die Gleichung Siegfried = Hermann = Bismarck wurde bis zu Hitler verlängert. Unverfänglicher, nämlich als unbesiegbares Kraftpaket und unerschrockener Kämpfertyp, begegnet Siegfried uns in zahlreichen Gedichten, Dramen und Romanen. Auch dies mit voller Absicht, denn der sport- und kampfgestählte Held entsprach dem in zahlreichen Schulungsstätten propagierten und gezüchteten NS-Ideal.
Andere rechtskonservative Dichter mit einschlägigen Produkten sind Hermann Burte, der in einem Gedicht Hagens Mord an Siegfried rechtfertigt, Friedrich Lienhard, Wilhelm von Scholz, Ernst Bertram. Auch Stefan George gehört mit einigen Produkten in diesen Umkreis.

6. Gegenläufige Tendenzen. Humoristische Tradition
Nun das raunt und runt ganz schön, pathetisch zum Teil, zum Teil rührend kitschig. Es hat aber auch eine andere Tradition gegeben, eine gegenläufige, parodistische und humoristische. Gerade wer den Humor bedient, der läuft von vornherein nicht Gefahr, einer Ideologie zu verfallen.
So hebt sich bereits im 19. Jahrhundert aus dem Kreis der Dichter, die sich mit dem Hort beschäftigt haben, der Rheinländer Karl Sim-rock wohltuend von den nationalen, politischen und mythischen Vereinnahmungen ab. Mit seinen Hortdeutungen scheint er reelle Aspekte anzusprechen. Seine Erzähldichtung „Der Nibelungenhort“ berich-tet von einem schwäbischen Ritter, der auf dem Rhein jahrelang nach dem Golde suchte. Mit Hacken und Schaufeln durchwühlte er den Boden, trank abends goldgelben Wein und sang dabei.

Doch fand er in der Tiefe vom Golde keine Spur,
Nicht in des Stromes Bette, im Becher blinkt’ es nur. (NG, S. 102)

Und er kommt zur Erkenntnis, er tue gut daran, sein Schifflein fahren zu lassen, denn sein Gesang sei der gesuchte Hort („Ich ging den Hort zu suchen, mein Sang, das ist der Hort“). Mit nüchternen Worten: er deklamiert das Nibelungenlied vor einem Auditorium: „Das Lied der Nibelungen, das ist der Nibelungenhort.“ Auf ähnliche Weise hatte im 19. Jahrhundert der Dichter-Rhapsode Wilhelm Jordan durch den Vortrag seines Epos „Nibelunge“ sein Brot verdient.
Simrocks zweites Gedicht „Der versenkte Hort“ berichtet von einem friedliebenden König, dessen Gefolgsleute um einen Schatz kämpften. Da er sieht, wie sie sich ihre Schädel ein-schlagen, gibt er ihnen den guten Rat, es sei doch klüger, den Schatz in den Rhein zu versenken. Was sie auch tun. Wahrscheinlich ist der Schatz mittlerweile zerronnen, jedenfalls glän-zen die Trauben, die am Strome wachsen, wie Gold. Der Hort steht für den Kummer, ihn solle man versenken und dafür lieber das wahre Gold ergreifen, also den edlen Rheinwein trinken.
Auch der Romancier Karl Immermann hat in dem kleinen Gedicht „Auf dem Rhein“ auf humorvolle Weise den Nibelungenhort zitiert: Die Wellen des Rheins wahren den goldnen Schatz bis an den „Jüngsten Tag“, kein Räuber werde die geheime Stelle finden. Der Dichter benutzt – als Pointe – das Hortmotiv als Gleichnis für seine geheime Liebe.

Mir ward ins Herz gesenket
Ein Schatz gleichwie dem Rhein;
Er ist darin ertränket,
Wird ewig drinnen sein. (NG, S. 88)

Im 20. Jahrhundert sind Bertolt Brecht und Walter Mehring zu nennen. Brechts 1922 geschriebenes Gedicht „Siegfried hatte ein rotes Haar“ ist Fragment geblieben. Walter Mehring verlegt in seinem parodistischen Gedicht „Haithabu“ das Dritte Reich ins dänische Mittelalter. Hitler spiegelt sich im „Yngling Gudröd“, die Hitlergenossen Hermann Göring und Joseph Goebbels begegnen als „der grimme Hermann“ und „Joseph, das Kind“, der Bankier Hjalmar Schacht, von 1923 bis 1930 und 1933 bis 1939 Reichsbankpräsident und von 1934 bis 1937 Reichswirtschaftsminister, erscheint als Hüter des Nibelungenhortes. Die erste Strophe als Beispiel:

Uns wird von teutschen Homeren
wunders viel geseit
Von Helden, lobebaeren
von Bodenständigkeit
Swaz Kraft durch Fröude biete
in Reden, Things unde Chören
Von kühner pimpfe strîte
muget Ihr nu wunders endlos hören! (NG, S. 285)

Nach dem Krieg war Eugen Roth als Verfasser humoristischer Gedichte sehr beliebt. Seine erste bekannte Gedichtsammlung „Ein Mensch“ erschien schon 1935, die Nachfolgebände „Mensch und Unmensch“ 1948, „Der letzte Mensch“ 1964. In seinem 1936 veröffentlichten Geschichtsüberblick „Die Frau in der Weltgeschichte“ findet sich ein Abschnitt über das Ni-belungenlied, der zum Abschluss zitiert sei:

Siegfried, nicht nur ein blonder Held,
Nein, auch ein Mann mit sehr viel Geld,
Kam eines Tages frisch und munter
Zu dem bekannten König Gunther,
Und er verliebte fest und fester
Sich in Krimhilde, dessen Schwester.
Im Norden herrschte wo die wilde
Und starke Königin Brunhilde,
Die nun der Siegfried seinerseits,
Da sie für ihn ganz ohne Reiz,
Dem König Gunther zugebracht.
Doch in der ersten Liebesnacht,
Sofern man das so nennen kann,
Schlug sie erbärmlich ihren Mann.
Der traut’ sich nicht mehr in die Klappe,
Bis Siegfried kam in seiner Kappe
Und sie an Gunthers Statt verdrosch.
Draus wurde Haß, der nie mehr losch.
Und als gar sonntags die Gemahlin
Krimhild verhöhnte die Rivalin,
Hat das Brunhild nicht mehr vertragen.
Sie wandte heimlich sich an Hagen,
Der dann, wie allgemein bekannt,
Den Siegfried durch und durch gerannt
Nach jenem Wettlauf an den Brunnen.
Krimhild ging später zu den Hunnen,
Vermählte sich mit König Etzel,
Und jeder kennt dann das Gemetzel,
Genannt »der Nibelungen Not«,
Wo sie schlug kurzweg alle tot.
Seitdem trifft man, was auch kein Wunder,
Nicht oft mehr richtige Burgunder. (NG, S. 282)


Anmerkungen:

(1) Gunter E. Grimm (Hg.): Nibelungen-Gedichte. Ein Lesebuch. Marburg: Tectum-Verlag 2011. Die folgenden Ausführungen basieren weitgehend auf dem Nachwort „Siegfried der Deutsche. Zur Konstruktion und Dekonstruktion eines Nationalhelden in Gedichten des 19. und 20. Jahrhunderts“. S. 304-321.

(2) Gert Schiff: Füssli: „Sivrit, ein beßrer Achilleus“. In: Wolfgang Storch (Hg.): Die Nibelungen. Bilder von Lie-be, Verrat und Untergang. München 1987, S. 125-139. Hier S. 132.

(3) Brief Uhlands an Kerner vom 8. Dezember 1809. In: Ludwig Uhland. Werke. Hg. Hartmut Fröschle/Walter Scheffler. München 1980. Bd. 2. Sämtliche Dramen und Dramenfragmente, dichterische Prosa, ausgewählte Briefe. S. 496.

(4) Zit. nach: Der Schatz des Drachentödters. Materialien zur Wirkungsgeschichte des Nibelungenliedes. Zusammengestellt und kommentiert von Werner Wunderlich. Stuttgart 1977. S. 71.