Der dunkle
Siegfried
eine Heldenmutation
im allzu langen 19. Jahrhundert

von Volker Gallé


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Siegfried, das Reichsschwert schmiedend .
Foto: James Steakley
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Einleitung

Die Wirkung des Nibelungenstoffs auf die Identitätsbildung der Deutschen beginnt in der romantischen Literatur um 1800 und bricht nach 1945 ab. Unter dieser Perspektive ist das 19. Jahrhundert als langes Jahrhundert zu betrachten, im moralischen Urteil seiner Gewaltexzesse als allzu langes Jahrhundert. Friedrich Schlegel spricht 1802 in seinem Gedicht „Am Rheine“ von Franken, Deutschen und Burgunden aus einer vergangenen Zeit, in der „der Mann dem Mann noch traute, deutsche Lust im Walde blühte.“ (Grimm S. 37) Das politisch-literarische Narrativ entwickelte sich seit dem Vormärz zum Instrument politischer Propaganda. Zu diesem Zweck wurden die im Epos angelegten Ambivalenzen der Figuren und ihrer Dramaturgien reduziert und entsprechend des jeweiligen Zeitgeistes montiert, auch im Nebeneinander sich widersprechender Versatzstücke. In „Siegfrieden – Politik mit einem deutschen Mythos“ schreibt Herfried Münkler 1988: „1945 waren die dem Nibelungenlied entnommenen mythischen Sinnangebote erschöpft...Der Mythos war zu Ende agiert, der Bann löste sich. Seit 1945 haben die Nibelungen keine Gewalt mehr über die Köpfe der Deutschen, und die Deutschen sind keine Nibelungen mehr.“ (Münkler, S. 131/132) Die deutsche Mythologie „war so gründlich desavouiert“, so Dieter Borchmeyer in „Was ist deutsch?“ von 2017,“dass schon bald nach 1945 selbst die Autorennamen und Titel der einstigen Erfolgsbücher wie derjenigen von Karl Simrock weithin vergessen waren. Den dadurch entstandenen mythologischen Leerraum mit neuen mythischen Narrationen zu füllen, war angesichts des Kollapses der Mythen des Dritten Reiches im Westen ideologisch verpönt.“ (Borchmeyer, S. 349) Das galt insbesondere für den Nibelungenstoff, und zwar nicht nur im politischen Sprachgebrauch, sondern auch in Theater und Literatur. Die Verdunkelung des Stoffes und seiner Figuren zwischen der Reichsgründung 1871 und der Befreiung von der Nazidiktatur 1945 wirkt bis heute nach und hat den Nibelungenstoff bis zum Ende des 20. Jahrhunderts immer wieder tabuisiert oder dekonstruiert. Das Narrativ wurde allerdings ungebrochen weiter vermittelt in den Sagenbüchern der deutschen Jugendliteratur, mit leicht veränderten Namen wie Sigurd und Geschichten im Comic und im Film der sechziger Jahre. Mit Wagners Ring blieb es in dessen Bearbeitung der nordischen Überlieferung auch auf der Opernbühne präsent. Dabei hat man – genau wie zu Zeiten der politischen Propaganda , nur mit umgekehrtem, jetzt negativem Vorzeichen – die subversive Ambivalenz des Narrativs nicht sehen wollen. Erst mit der konsequenten Wiederaufnahme des hochmittelalterlichen Nibelungenliedes in die Bearbeitung als Kulturprofil der Stadt Worms hat sich das ab 2000 in der Breite der Theater-, Literatur- und Wissenschaftslandschaft schrittweise geändert. Doch es blieben und bleiben auch hier unverarbeitete Reflexe auf Missbrauch und Tabuisierung des Stoffes, sowohl mit Blick auf deutsche Identitätsmuster als auch im Geschmacksurteil der Nibelungenfiguren. Das gilt insbesondere für Siegfried, dessen beliebte Deutung als blonder Macho-Depp sowohl die Geschichte als auch das Potenzial dieser Figur lahm gelegt hat. Gerade deswegen gilt den Mutationen Siegfrieds im allzu langen 19. Jahrhundert mein besonderes Interesse.

Der jugendliche Held der Republik

Zu Beginn der Nibelungenrezeption Anfang des 19. Jahrhunderts war Siegfried ein jugendlicher Held, ein heller Siegfried, mit dem die Hoffnung auf politischen Aufbruch verbunden wurde. „Jung-Siegfried war ein stolzer Knab“, heißt es in Ludwigs Uhlands Ballade von 1812. Der Text bleibt ganz im Literarischen und erzählt - anders als Schlegel 1802 – Siegfrieds Geschichte nach. Der junge Mann schmiedet ein „gutes Schwert“, mit dem er in die „Wald und Feld“ hinauszieht, um „Riesen und Drachen“ zu schlagen. Im Aufbruch des jugendlichen Helden endet das Gedicht. Weder der Drachenkampf noch das Bad im Blut mit der Folge der Körperpanzerung noch die Intrigen am burgundischen Hof und der Tod auf der Jagd sind Thema. Siegfried steht voller Zuversicht am Anfang seiner Heldenreise. Gunter E. Grimm schreibt im Nachwort seines Lesebuchs mit Nibelungengedichten, Siegfried sei um 1800 „ein unbezwinglicher Held, ein Selbsthelfer und Kraftkerl, wie der „Sturm und Drang“ ihn liebte, ein unbeschwerter und freiheitlich gestimmter Naturbursche.“ (Grimm, S. 305). Er atmet noch den Aufbruchsgeist der Aufklärung, der sich im Bild von der deutschen Freiheit sowohl bei Montesquieu als auch bei Herder wiederfindet und die republikanischen Fantasien des in der Renaissance wieder entdeckten Germanenbilds von Tacitus aufgreift. Goethes Götz von 1773, aber mehr noch Schillers Karl Moor von 1782 erzählen vom Aufbruchsgeist der jungen Bürgergeneration, die von der französischen Revolution begeistert ist und dann vom Terror der Jakobiner enttäuscht wird. Sowohl aus griechischer Mythologie als auch aus oft christlich gewendetem jüdischem Messianismus entstehen poetische Heldenerwartungen wie in Hölderlins Patmos-Hymne von 1803. Dort heißt es eingangs: „Nah ist und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Robert Charlier schreibt in seinem Buch „Heros und Messias – Hölderlins messianische Mythogenese und das jüdische Denken“: „Hölderlin spielt in den Erweiterungen der Hymne auf den Mythos von Kadmos an, der einen Drachen bezwang. Die Zähne des Ungeheuers säte er aus, worauf ihm eine Schar Kämpfer aus dem Boden erwuchs, die mit ihm Theben befreite.“ (Charlier, S. 11) Auch hier findet sich also ein Drachenkämpfer, wenn auch kein germanischer. Die Autorengeneration der zwischen 1740 und 1825 Geborenen - also von Goethe und Schiller über Hölderlin und Arndt bis zu Heine – formulierte immer wieder die Aufbruchsstimmung junger Männer, aber auch die Resignation ihres Scheiterns und Hoffnungsfantasien für die Zukunft. Es entwickelten sich im zunächst politisch offenen Bild vom Drachenkämpfer zwei Richtungen, je nach dem, wer als Drache benannt wurde, entweder das napoleonische Frankreich oder der Feudalstaat. Anfangs konnte beides noch in unterschiedlichen Kompositionen verbunden sein. Freiheit konnte sowohl Befreiung von Napoleon als auch Abschaffung der Monarchie, bzw. Verpflichtung des Monarchen auf eine bürgerliche Verfassung bedeuten. Deutsche Freiheit und damit nationale Identität changierte ebenfalls in diesem Bedeutungsfeld. Ein Nationalbegriff ohne Republik entwickelte sich in den nächsten Jahrzehnten zunehmend in der preußischen Traditionslinie, am Rhein - man spricht hier auch von Dritten Deutschland neben den restaurativen Staaten Preußen und Österreich - beharrte man auf den Errungenschaften der napoleonischen Zeit im Rheinbund, die sich früh in Verfassungen niedergeschlagen hatten. Beides findet man auch in Nibelungengedichten. So giftet der preußische Beamte Max von Schenkendorf 1814 gegen den aus Worms-Herrnsheim stammenden Karl Theodor von Dalberg, Fürstprimas des Rheinbundes in seinem Gedicht „Auf der Wanderung nach Worms“:

„Des Hagens böse Taten
erlebten wir aufs neu.
Vom Dalberg ward verraten
des Stammes Ruhm und Treu.“

(Grimm, S. 68)

So wie Hagen Siegfried erschlagen habe, habe Dalberg das deutsche Reich verraten, eine frühe Dolchstoßlegende, wenn man so will. Und sie ist gegen die von der Aufklärung beeinflussten Reformer gerichtet, die sich ihrerseits eher als junge Helden verstanden. Kaiser Franz war zum Zeitpunkt des Gedichts bereits 46 Jahre alt, Dalberg 60 Jahre, das heilige römische Reich deutscher Nation rund 650 Jahre und der Rheinbund gerade mal 8 Jahre. Man sieht bereits hier, wie die Ambivalenzen des Mythos die politischen Zuschreibungen und ihre Reduktionen leicht unterlaufen können. Mit Blick auf die politische Verwendung des Nibelungennarrativs schreibt Herfried Münkler: „In welche politische Richtung dieser nationale Mythos weisen werde, stand zunächst freilich keineswegs fest. Es waren eher die republikanisch-progressiven Gruppen, die auf das Nibelungenlied als nationalen Mythos setzten.“ (Münkler, S. 63) Der chauvinistische Ton der Befreiungskriege, hauptsächlich aus Preußen befördert, ist auf Restauration des Alten bedacht und damit ein temporärer Widerstand gegen die Aufbruchsstimmung im sich als jung und natürlich verstehenden bürgerlichen Lager, eine erste Verdunkelung der republikanischen Utopie. Siegfried als junger Held, der den Drachenstaat des feudalen Zeitalters bekämpft wird – da ist Siegfried also noch nicht von Hagen erschlagen wie zum späteren Zeitpunkt der Geschichte, noch ist er frei und ziemlich unhöfisch, agiert in der Wildnis - dieser junge Siegfried wird im republikanischen Lager als Lichtgestalt mit messianischen Zügen beschrieben. Der protestantische Pfarrer Friedrich Ludwig Weidig (1791 – 1837) aus dem hessischen Butzbach, Co-Autor Büchners beim 1834 erschienenen „Hessischen Landboten“, schrieb im gleichen Jahr, zwei Jahre nach dem Hambacher Fest, das Gedicht „Siegfrieds Schwert“ und zieht eine mit der Stadt Worms verbundene Identitätslinie deutscher Freiheit von Siegfried zu Luther:

„Da lag der Hort versenket,
und ob manch deutsches Herz
mit Wehmuth und mit Schmerz
des Hortes auch gedenket:
Versenkt blieb Siegfrieds Schwert.

Da taucht voll geistgen Werthes
ein Bürger an dem Rhein
Tief in die Fluth hinein
und holt den Glanz des Schwertes,
der edle Gutenberg.

Neu strahlt in lichter Klarheit
durch seine Kunst das Schwert,
das Fried und Sieg gewährt,
das Sieg gewährt der Wahrheit
und Fried im geistgen Krieg.

Der Bürger an dem Rheine
reicht Luther drauf das Schwert,
der schwingts, dass neu bewährt
zu Worms sein Glanz erscheine
vor Kaiser und vor Reich.“

(Gallé, S.175)

Friedrich Engels schrieb unter dem Pseudonym „Friedrich Oswald“ 1840 im „Telegraph für Deutschland (Münkler, S. 18): „Siegfried ist der Repräsentant der deutschen Jugend. Wir alle, die wir ein von den Beschränkungen des Lebens noch ungebändigtes Herz im Busen tragen, wissen, was das sagen will. Wir fühlen alle denselben Tatendurst, denselben Trotz gegen das Herkommen in uns, der Siegfrieden aus der Burg seines Vaters trieb; das ewige Überlegen, die philiströse Furcht vor der frischen Tat ist uns von ganzer Seele zuwider...Für Riesen und Drachen haben die Philister auch gesorgt, namentlich auf dem Gebiete von Kirche und Staat....Man steckt uns in Gefängnisse, Schulen genannt, wo wir statt selber uns zu schlagen das Zeitwort schlagen so recht zum Spott durch alle Modi und Tempora griechisch durchkonjugieren müssen...Polizei beim Denken, Polizei beim Sprechen, Polizei beim Gehen, Reiten und Fahren, Pässe, Aufenthaltskarten und Douanenscheine – es schlage der Teufel Riesen und Drachen tot!“
Das ist die bekannte Rebellion der jungen Männer. Engels Kritik richtet sich gegen Lehrpläne, Zensur und Zollgrenzen. Das hört sich republikanisch an, aber eine solch rebellische Haltung kann, wie die Geschichte zeigt, auch von rechts kommen oder aus religiös begründetem Fundamentalismus oder auch einfach nur kriminell sein, aus Lust an Gewalt. Siegfried sucht für seinen Tatendurst Ziele, Werte, Narrative. Er ist verführbar, aber auch neugierig und aufopferungsvoll.
Heinrich Heine waren diese Ambivalenzen bewusst. Im gleichen Jahr wie Engels schreibt Heine ein Deutschlands-Gedicht, das das Land als erwachenden, noch unbeholfenen Riesen zeigt, der für seine Feinde gefährlich ist. Wer diese Feinde sind, läßt er offen.

Deutschland ist noch ein kleines Kind,
Doch die Sonne ist seine Amme;
Sie säugt es nicht mit stiller Milch,
Sie säugt es mit wilder Flamme.
Bei solcher Nahrung wächst man schnell
Und kocht das Blut in den Adern.
Ihr Nachbarskinder, hütet euch
Mit dem jungen Burschen zu hadern!
Es ist ein täppisches Rieselein,
Reißt aus dem Boden die Eiche,
Und schlägt euch damit den Rücken wund
Und die Köpfe windelweiche.
Dem Siegfried gleicht er, dem edlen Fant,
Von dem wir singen und sagen;
Der hat, nachdem er geschmiedet sein Schwert,
Den Amboß entzwei geschlagen!
Ja, du wirst einst wie Siegfried sein,
Und töten den häßlichen Drachen,
Heisa! wie freudig vom Himmel herab
Wird deine Frau Amme lachen!
Du wirst ihn töten, und seinen Hort,
Die Reichskleinodien, besitzen.
Heisa! wie wird auf deinem Haupt
Die goldne Krone blitzen!

(Sommer 1840)

In der letzten Strophe greift Heine den Barbarossamythos auf, also die Hoffnung auf die Wiederkehr eines Volkskönigs, eines sozialen Kaisertums (Borchmeyer S. 391). Dieser Siegfried-Barbarossa werde ein „royaume de lumière et de plaisir“ regieren, wie er 1835 in „De L’Allemagne schreibt. (Borchmeyer, s. 391). Für die Franzosen bedeutet „lumière“ nicht nur Licht, sondern ist auch ein Begriff für die Aufklärung. Es geht also um einen aufgeklärten Herrscher. Richard Wagner setzt dieses Bild 1850 (Borchmeyer S. 304) ganz im Sinn der Revolution von 1848 fort, wenn er schreibt: „Wann kommst du wieder, Friedrich, du herrlicher Siegfried! und schlägst den bösen nagenden Wurm der Menschheit?“ Um den Berg des Volkskönigs kreisen zwei Raben, die sich von Nordost und Südost vom „Raube des Reichs“ mästen. Damit sind Preußen und Österreich gemeint. „Wagners Barbarossa“, so Herfried Münkler“, „ist die Personifikation des dritten Deutschland, das sich weder den Habsburgern noch den Hohenzollern unterwerfen, sondern seinen eigenen unabhängigen Weg in die Zukunft gehen will.“ (nach Borchmeyer, S. 304). Bereits 1820 gibt Heine die Richtung seiner deutschen Romantik an, nicht zu christlich, nicht zu ritterlich: „Deutschland ist jetzt frey…und deshalb soll auch die deutsche Muse wieder ein freyes, blühende, unaffektiertes, ehrlich deutsches Mädchen seyn, und kein schmachtendes Nönnchen und kein ahnenstolzes Ritterfräulein.“ (Kupferberg, S.89) Es sind die Frauen, die den Riesen frei machen. Im „Wintermärchen“ heißt es beim Betreten deutschen Bodens: „Der Riese hat wieder die Mutter berührt, und es wuchsen ihm neue Kräfte.“ (Borchmeyer s. 286) Siegfried ist in Heines Verständnis ein Muttersohn und die Muttersprache ist seine Heimat, ganz wie bei Hölderlin, dessen republikanischer Held, bzw. Messias nach der Niederlage in Mutter Erde bewahrt wird, bis es wieder Zeit ist aufzustehen. 1833/34 in „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ beschreibt Heine die Ambivalenz der deutschen Riesenkraft, die auch die „unsinnige Beserkerwut“ kennt: „Thor mit dem Riesenhammer springt empor und zerschlägt die gotischen Dome…Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlos Idylle erscheinen möchte.“ (Waldmann, S. 148) Und dennoch spricht sich Heine für die Nutzung der Mythen aus. Es kommt ihm aber darauf an, wie erzählt wird und auf welche Seite sich die Helden schlagen: „Heines mythologische Sympathien gelten nur einem Mythos, der eine Gegenwelt wider die herrschende restaurative Wertordnung bildet.“ (Borchmeyer S. 282)

Seitenwechsel des Helden – Nation ohne Republik

Die Niederlage der Revolution von 1848/49 war der Beginn einer Verfinsterung der deutschen Mythologie. Der Wendepunkt in der Nutzung des Siegfriednarrativs ergab sich mit der rückwärtsgewandten Reichsgründung 1871, die das Bedürfnis nach nationaler Einheit unter preußischem Diktat erfüllte und dabei den Anspruch auf republikanische Freiheit für fast fünfzig Jahre eliminierte. Bürgerlichkeit wurde auf wirtschaftlichen Erfolg reduziert und ordnete sich politisch dem alten absolutistischen Adelsideal unter. Zwischen 1849 und 1871 lag ein Zeit von Trauer und Emigration und als Stillstand empfundener Politik. Friedrich Hebbel schrieb seine Nibelungen-Trilogie zwischen 1855 und 1860 als Tragödie. Dass das auch einen politischen Unterton hatte, belegt sein Tagebucheintrag vom 31.12.1850: „Im Allgemeinen ist nichts geschehen: Deutschland liegt zerrissen und zerschliffen da, wie immer, und auch die Europäischen Zustände sind ganz die alten geblieben. Aber der Strom, der im vorigen Jahr doch noch Wellen schlug, ist jetzt völlig wieder eingefroren und die Diplomatie kann Schlittschuh laufen, wie sie will. Was daraus werden soll, weiß ich nicht, aber ich fürchte früher oder später böse Folgen, denn ich sehe nicht, daß die Regierungen sich irgendwo ernstlich bestreben, die unabweisbaren National-Bedürfnisse, deren brennendes Gefühl die Revolution allein hervorrief, auch nur annähernd zu befriedigen, und wahrlich, sie lassen sich auf die Länge nicht mit Gewalt ersticken.“ (Hebbel, S. 369 Nr. 4774) Der Untergang der Burgunder ist auch eine Ahnung von einem Untergang der Deutschen, wie ein weiterer Tagebucheintrag vom 4. Januar 1860 zeigt. „Es ist möglich, daß der Deutsche doch einmal von der Weltbühne verschwindet, denn er hat alle Eigenschaften, sich den Himmel zu erwerben, aber keine einzige, sich auf Erden zu behaupten.“ (Hebbel, S. 158, Nr. 5780)
Die militärischen Erfolge Preußens 1866 gegen Österreich und vor allem 1870/71 gegen Frankreich und die mit letzterem verbundene Reichsgründung belebten das Siegfriedbild im politischen Narrativ erneut. Handlung und Sieg hatten den Stillstand beendet, aber es ist ein Siegfrieden und er spiegelt sich in zwei älteren Herren, nämlich Wilhelm I., damals 74 Jahre, und Bismarck, damals 56 Jahre alt. Letzterer hat zudem die Rolle des Kanzlers, also Hagens und damit kommt auch der Untergang des Helden und die ambivalente Dramatik Hagens zwischen Treue und mörderischem Verrat ins Spiel, wenn auch zunächst unausgesprochen. Julius Rodenberg (1831-1914) dichtet 1872 ein Lobgedicht auf Kaiser Wilhelm. Darin heißt es:

Da kamst Du! - voll heißer Inbrunst stieg
ein Dank zum Himmel, daß es uns beschieden,
Dich so zu sehn – in einer Hand den Sieg,
Und in der andern Hand trugst du den Frieden!

Sieg-Fried des deutschen Volkes! Strahlengleich
Umleuchtet Dich der Ruhm, der wunderbare;
Verwirklicht steigt mit Dir empor das Reich,
das deutsche Reich, der Traum so vieler Jahre.

(Grimm, S. 186)

Felix Dahn (1834-1912), der den Nibelungenstoff immer wieder in lyrischer Form bearbeitet hat, bedichtet Jung-Bismarck „zu einem Bilde des Fürsten Bismarck aus dessen 16. Jahre“ anlässlich des 70. Geburtstags des „Eisernen Kanzlers“ im Jahr 1885. Er variiert damit das bekannte Uhland-Gedicht und sucht die Widersprüche im politischen Mythos neu zu erzählen und damit zu retten.

In diesen Zügen, fast von Mädchenweiche,
Wer ahnt darin den künftigen Gewaltigen,
Den Sturmumwetterten, den Erzgestaltigen,
Der da zerschlagen wird und aufbau’n Reiche?
Zwar kündet auch dies Antlitz schon die Kraft:
Wie trotzt das Kinn, wie baut so hoch die Stirne
Ein stolz Gewölb’ dem schaffenden Gehirne:
Doch ist „Jung-Bismarck“ nicht „Jung-Siegfried-haft“.
Ihm fehlt die Hornhaut, die ihm sehr vonnöten!
Nicht, weil ihm Dänen, Habsburg und Franzosen
Im offnen Kampf bald Schild und Helm umtosen:
Nicht Feindeslanzen wird sein Herzblut röten.
Doch wehe, weh, dass ihm die Hornhaut fehle,
Wann einst ihn trifft mit giftgetränkten Pfeilen
– Wie schwer, wie schmerzreich diese Wunden heilen! –
Der Undank seiner Deutschen in die Seele.
Doch nicht um Dank und Lohn hat er gestritten:
Aus Dienstpflicht für den König, seinen Herrn,
Und auch aus Lieb’ zu seinem Volk, wie gern
Er stolz sich oft mag dessen Lob verbitten.
Wann er entrückt ist der Parteiung Treiben,
Wird das Gewölk, das ihn umwogt hat, fallen
Und leuchtend in der Weltgeschichte Hallen,
Dicht bei Armin, wird stehn sein Erzbild bleiben.

(Grimm, S.205)

Hier findet sich auch die öfter wissenschaftlich wie propagandistisch hergestellte Verbindung zwischen Siegfried und Arminius, der übrigens manchmal auch noch Luther hinzugefügt wird, und zwar in der Pose des Wormser Denkmals von 1868. Siegfried kehrt auch auf dem Berliner Bismarck-Nationaldenkmal von 1901 wieder. Er trägt das Reichsschwert und begleitet neben Atlas, Germania und Sibylle den Kanzler, der in der bekannten Kürassieruniform auftritt. Germania drückt einen Leoparden, der für den Aufruhr steht, mit dem Fuß nieder.

Auch die Gefahr einer Nation ohne Republik wird früh thematisiert, und zwar vom 48er Georg Herwegh im Gedicht „Die Siegestrunkenen“ aus dem Frühjahr 1871:

Vorüber ist der harte Strauß,
Der welsche Drache liegt bezwungen,
Und Bismarck-Siegfried kehrt nach Haus
Mit seinem Schatz der Nibelungen.

Ihr wähnt euch einig, weil die Pest
Der Knechtschaft sich verallgemeinert,
Weil täglich noch der kleine Rest
Lebendger Seelen sich verkleinert.

Ihr wähnt euch einig, weil ein Mann
Darf über Krieg und Frieden schalten.
Und euch zur Schlachtbank führen kann
Mit der Parol: Das Maul gehalten!

Ach, Einheit ist ein leerer Schall,
Wenn sie nicht Einheit ist im guten.
Wenn ihr korinthisches Metall
uns mahnt an Mord und Städtegluten.

Einheit des Rechtes ist kein Schild,
Der uns bewahrt vor Unterdrückung;
Nur wo als Recht das Rechte gilt,
wird sie zum Segen, zur Beglückung.

Nur diese war's, die wir erstrebt,
Die Einheit, die man auf den Namen
Der Freiheit aus der Taufe hebt;
Doch eure stammt vom Teufel! Amen.

(Grimm, S. 157)

Das Changieren zwischen Siegfried und Hagen im politischen Mythos ab 1871, also zwischen Sieg, Treue und Dolchstoß, rührt aus der Reduktion des Nibelungen-Narrativs auf ein dramaturgisch unverbundenes Nebeneinander politisch nutzbarer Eigenschaften. Das aber übersieht die Subversivität des Narrativs in Mythos und Epos. Herfried Münkler schreibt: „Der Leser des Epos wußte noch: Siegfried und/oder Hagen zu folgen, führte in Tod und Untergang – aber der enthusiasmierte Bürger des neuen Reiches sah in Hagen und Siegfried nur Symbole einer strahlenden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft...Was den politischen Mythos vom Epos ebenso unterscheidet wie vom historischen Ereignis, ist der völlige Verzicht auf Stringenz und Konsequenz der Erzählung. (Münkler, S. 54) Herwegh hat die Redundanz nicht nur des politischen Nibelungenmythos, sondern auch des wilhelminischen Siegfriedens aufgedeckt. Die Denunziation von republikanischen Freiheiten und aufkommender Arbeiterbewegung als Aufruhr und Ordnungsstörung führte zu einem gesellschaftlichen Stillstand, der der Jugendbewegung um 1900 nur noch militärische Gewalt als Aufbruch anzubieten hatte. Das führt letztlich dazu, dass aus der sich als Siegfried verstehenden republikanischen Bewegung des Vormärz über die Mutation zum Bismarck-Siegfried der Kanzler Hagen eingeführt wird, zunächst bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs in seiner Eigenschaft als treuer Vasall – dabei wird Siegfried ganz ausgeblendet – und dann am Ende des Krieges als Akteur des Dolchstoßes. Damit ist die republikanische Bewegung komplett von Siegfried zu Hagen mutiert, denn ihr wird die Niederlage als Verrat ja in die Schuhe geschoben. Und die Königsfamilie kann sich zumindest in der Selbstbeschreibung wieder zum Siegfried machen, im Felde unbesiegt, eine glatte Lüge. Um die patriarchalische Linie dieses politischen Mythos bildlich zu beschreiben, könnte man auch sagen: Der Vater tötet den Sohn, um seine Macht zu erhalten. Als er die Macht aus eigenem Verschulden verliert, inszeniert er das als Vatermord. Der Patriarch wechselt die Seiten in der Herr-Knecht-Dialektik der Siegfried-Hagen-Dramaturgie nach Bedarf. So ticken Diktatoren, auch heute noch.
Im sich saturierenden Wilhelminismus tritt der Siegfriedmythos immer mehr in den Hintergrund und wird durch den Hagenmythos ersetzt, den Mythos des Machterhalts. Zunächst kommt er als Nibelungentreue daher. Er setzt aber konsequenterweise weniger an der klugen Diplomatie Hagens am Burgunderhof an, also der Bismarckzeit, sondern an der Treue im Untergang am Hunnenhof, also an der latenten Endzeitahnung unter Wilhelm II., die in den Weltkrieg und damit in den Untergang führt. „Nicht vorsichtige, bedächtige Interessenabwägung, sondern die entschlossene Entscheidung wird als das Wesen des Politischen deklariert.“ (Münkler, S. 70) Im Reichstag betont Reichskanzler von Bülows im März 1909 die Nibelungentreue zu Österreich-Ungarn: „Es gibt hier keinen Streit um den Vortritt, wie zwischen den beiden Königinnen im Nibelungenlied. Aber die Nibelungentreue wollen wir gegenseitig wahren.“ (Münkler, S. 70) Das gipfelt im Bild von der Schildwache Hagens und Volkers, Preußens und Österreich-Ungarns, am Hunnenhof, und blendet damit aus, dass die politische Isolation Deutschlands und der Zweifrontenkrieg nach 1914 Ergebnis einer unklugen imperialen Politik war. Warnende Stimmen wurden überhört. Während die Generalstabschefs beider Länder die Gelegenheit für einen begrenzten erfolgreichen Krieg im Sommer 1914 als günstig einschätzten, äußerte Reichskanzler Bethmann-Hollweg am 30. Juli Bedenken: „Wir sind zwar bereit, unsre Bündnispflicht zu erfüllen,müssen es aber ablehnen, uns von Wien leichtfertig und ohne Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltenbrand hineinziehen zu lassen.“ (nach Münkler, S. 73) „Angesichts des bulgarischen Waffenstillstandsgesuchs und des Durchbruchs durch die Siegfriedstellung, der britischen Divisionen gelungen war, sprach sich Ludendorff am 29. September 1918 auf einem Zusammentreffen der Heeresleitung mit dem Kaiser in Spa für ein sofortiges Waffenstillstands-angebot an US-Präsident Wilson und für eine Parlamentarisierung der Regierung aus.“ (wikipedia Ludendorff 29.7.2017). Es waren also die Militärs, die das Ende des Krieges einleiteten, aber durch die Einbindung des Parlaments, die Verantwortung abschoben und damit die Dolchstoßlegende möglich machten. Eine Notiz Oberst von Thaers zum 1.10.1918 lautet: „Als wir versammelt waren, trat Ludendorff in unsere Mitte, sein Gesicht von tiefstem Kummer erfüllt, bleich, aber mit hocherhobenem Haupt. Eine wahrhaft schöne germanische Heldengestalt! Ich mußte an Siegfried denken mit der tödlichen Wunde im Rücken von Hagens Speer.“ (nach Münkler, S. 80) Noch ist nicht benannt, wer die Rolle Hagens spielt. In Hitlers „Mein Kampf“ heißt es dann 1925: „Wer damals nicht mitkämpfte, das waren die parlamentarischen Strauchdiebe, dieses gesamte politisierende Parteigesindel. Im Gegenteil, während wir in der Überzeugung kämpften, daß nur ein siegreicher Ausgang des Krieges allein auch dieses Südtirol dem deutschen Volke erhalten würde, haben die Mäuler dieser Ephialtesse (Ephialtes verriet die Griechen an den Thermopylen an die Perser, der Verf.) gegen diesen Sieg so lange gehetzt und gewühlt, bis endlich der kämpfende Siegfried dem hinterhältigen Dolchstoß erlag.“ (nach Münkler, S. 87) Aus den politisch und militärisch Verantwortlichen, den Tätern, wurden Opfer gemacht. Diese Umdeutung machte aber nicht nur für die alten Militärs, sondern auch für deren soldatisches Gefolge Sinn. Im 1918 erschienenen Buch „Deutschvölkische Gedichte“ von Adolf Bartels wird resümiert, es sei ein „deutscher Fluch“, dass zum Deutschsein sowohl Siegfried als auch Hagen gehöre. Und Josef Weinheber dichtet 1935:

Immer ersteht dem lichten
Siegfried ein Tronje im Nu.
Weh, wir wir uns vernichten
und das Reich dazu.

(Grimm, S. 280)

Der um 1871 verdunkelte Siegfried, der Kanzler-Siegfried, wird im Opfertod erhellt und aus dem Kanzler-Hagen wird ein republikanischer Hagen.
Die republikanischen Intellektuellen knüpfen nicht am Siegfried des Vormärz an, sondern überlassen das Feld des politischen Mythos weitgehend den Rechten. Der Begriff des Deutschen wird in der Satire dekonstruiert, so bei Walter Mehring oder Eugen Roth, die bürgerliche Subjektivität als Impulsgeber von Freiheits- und Menschenrechten wird im Mehrheitsdiskurs der Arbeiterbewegung zugunsten einer Massenvergottung entsorgt. Die wenigen Versuche, den Nibelungenmythos zu einer republikanischen Utopie umzuformen, blieben randständig und muten uns heute eher kurios an. Im von 1926 bis 1933 bestehenden „Bund rheinischer Dichter“ versuchte der in Wiesbaden geborene Autor Alfons Paquet die besondere, politisch am Westen orientierte rheinische Kultur in der Weimarer Republik neu zu beleben. Ein Mitglied dieses Bundes war der Wormser Autor Peter Bender. 1927 erschien sein Roman „Karl Tormann – ein rheinischer Mensch unserer Zeit“. Der Autor spiegelt sich im Protagonisten des Romans. Der verbindet das Konzept einer erotischen Revolution mit Wirtschaftsutopien Silvio Gesells zu einem neuen politischen Rheinmythos, der die freie Liebe von Siegfried, Brunhild und Kriemhild als wahren Schatz anstelle des Rheingoldes deutet: „In rheinischen Burgen und Städten war er..., zwischen Gestalten und Kämpfen des Nibelungenepos. Alle standen am Rhein und schauten zu, wie die wirbelnde Kraft seines Geistes ins Wasser bohrte, abwärts auf den Grund: ein wundersames Leuchten und Flimmern in den kreisenden Fluten begann, endlich war die tiefste Tiefe erreicht, ein Glanz brach hervor, Gold schimmerte unten und heraus stieg eine kraftvolle, lichtumflossene Gestalt, Siegfried, der rheinische Held als das menschgewordene Symbol der strahlenden Sonne. Vor dieser glanzvollen Vision mußte Tormann die Augen schließen... und sah mit einem Schlage die rheinische Welt und Wirklichkeit neu, von Grund auf neu. Gold hatte sie seither durchwirkt und vergiftet, Gold zog alles in die Tiefe, Gold als Geld, das allen Reichtum an Waren und Menschendienst- barkeit in sich faßte, Gold in der Münze und im Keller der Notenbank, wo es die heutige Form des zauberkräftigen, fluchbeladenen Nibelungenschatzes bildete: seine Vision aber verhieß Auferstehung und Triumpf des Lichtgeistes im Hort, Fleischwerdung siegfriedlichen Geistes im Geld, Menschwerdung gotthaften Geistes also, um dessen dichterische Beschwörung sich zuletzt Richard Wagner und Friedrich Hebbel bemüht hatten. Was bei ihnen und beim mittelalterlichen Dichter in Oper, Drama, Epos nur schöner Schein geworden war, gebannt in Wort, Musik, Schauspiel, das sollte jetzt durch ein rheinisches Geld zum Sein kommen, zur leibhaftigen Existenz in kaufenden Menschen, zur Synthese von Dichtung und Wirtschaftsordnung im Rheinstaat, im neuen siegfriedlichen Reiche.“ (Bender, S.474/475) Dazu passt, dass die Wormser Bemühungen um Nibelungenfestspiele in den 20er Jahren aus dem konservativen Lager stammen, die Sozialdemokraten waren da eher skeptisch bis ablehnend. Und auch bei Autoren,die sich für die Republik einsetzten wie Zuckmayer, wurde zwar die vom demokratischen Aufbruch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägte linksrheinische Mentalität thematisiert, aber nicht bewusst an die Achtundvierziger und ihre politischen Mythen angeknüpft. Hier besteht Forschungsbedarf, auch in der Region. Kapitalismuskritik gab es schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Seiten der Reaktion. Sie setzte feudale Gefolgschafts-modelle gegen liberale Oekonomie und konnte so auch antisemitisch oder antiamerikanisch variiert werden. Auch Richard Wagner und seine Jünger sind in diese Tradition einzuordnen. In der Ballade „Sigurd Schlangentöter“ von Moritz von Stachwitz (1822-1847) - sie findet sich auch in seinen 1912 erschienenen „Sämtlichen Liedern und Balladen“ - heißt es:

Ein neuer Drache hütet des Goldes edlen Schein,
ein neuer Drache brütet und will bestritten sein,
das ist das Ellenkrämertum, das jetzt die Welt regiert,
was Poesie, was Lieb und Ruhm! Es lacht und spekuliert.

Erfroren sind die Saaten, die Völker schrein nach Brot.
Es wälzt sich auf Dukaten und lächelt Eurer Not;
ob Euch das Herz im Leibe bricht, ob gar ein Volk vergeht,
das schiert die Krämerseele nicht, die Aktien ersteht.

(Grimm, S. 176)

Sigurd-Siegfried wird als Retter und Erlöser herbeigerufen, der diesen Drachen besiegten soll. In dieser Traditionslinie bewegt sich auch der Nationalsozialismus und hier insbesondere Adolf Hitler. Er sah Wagner als „Religionsstifter und Propheten einer politischen, deutschen Kunst-Religion und sich als den deutschen Messias“ (Friedländer/Rüsen, S.11). Anders als Himmler oder Rosenberg knüpfte Hitler eher an den politisch gewendeten christlich-jüdischen Messianismus des 19. Jahrhunderts an. Der findet sich in der Idee eines Volkskönigs nicht nur bei Wagner, sondern auch bei Heine, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten verbunden, bei Wagner deutsch-national, bei Heine republikanisch-europäisch (Borchmeyer, S. 290 ff.). Daher spielt Siegfried für Hitler nur eine Rolle unter vielen messianischen Vorbildfiguren. Aus Wagners Figurenrepertoire nimmt er auch den Volkstribun Rienzi oder Lohengrin (siehe Manfred Ach). Unter deutsch-nationalem Vorzeichen verschmelzen katholisch-österreichische Mentalitätsmuster mit protestantisch-preußischen. Es entsteht eine mythologische Abstammungsreihe nationaler Erlöserfiguren von Siegfried über Hermann, Barbarossa, Luther, Friedrich dem Großen und Bismarck zu Hitler. Die Dramaturgie eines Entscheidungskampfes auf Leben und Tod zwischen der nationalen Seite und ihren in vielfältigen Masken auftretenden Gegnern einer großen Weltverschwörung schließt die Möglichkeit des Scheiterns ein. Bis zu Görings Stalingradrede hin wird auf der Basis des Nibelungen-Untergangs eine Art Todestrotz verherrlicht und gepredigt. Das ist das Bild der Schildwache von Hagen und Volker. Hagens Mord an Siegfried wird in rechten Kreisen sogar so weit ausgeklammert durch die der Republik zugewiesene Dolchstoßlegende, das Max Braun in seinem 1933 in Ludwigshafen erschienene Roman „Nibelungenland“ Hagen und Siegfried zusammenbringt:

Siegfried stark und Hagen trutzig,
Eures Hüfthorns Klänge fehlen!
Geist von Eurem Geiste möge
und in dieser Stunde beseelen!

Durch den Wald seh ich Euch schreiten.
Heil! Ich grüß euch tapfre Mannen!
Siegfrieds Spuren folg ich sinnend.
Siegfrieds Horn schallt durch die Tannen.

Nun zum letzten Sammeln blaset,
Helden, die dereinst gerungen!
Letzten Kampf gilt es zu kämpfen,
Kampf der letzten Nibelungen!

(Grimm, S. 261)

Die Folgen von Siegfrieds Verdunkelung

Der Seitenwechsel Siegfrieds vom republikanischen Rebellen der Achtundvierziger zum nationalen Sieger von 1871, der die demokratische Erneuerung verhindert zugunsten eines autoritären Paktes von Adel und Kapital, der Wechsel von der hellen jugendlichen zur dunklen patriarch-alischen Seite, zeigt seine ersten Folgen bereits in der Weimarer Republik. Siegfried und damit alles, was zur deutschen Mythologie gehört, aber auch ein Großteil messianisch-utopischer Narrative überhaupt werden auf Seiten der Demokraten und Linken ironisiert und den Rechten als Propaganda-material überlassen. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus 1945 rutscht nicht nur der Missbrauch des Nibelungenlieds, sondern der Stoff selbst in eine Tabuzone. Mit einer zweiten neuen Sachlichkeit wird eine Art Bildersturm popularisiert, die dadurch entstehenden Leerstellen werden durch Importware befriedigt, vom Western bis zur Keltophilie. Die Stoffe der deutschen Überlieferung bleiben unbearbeitet und stehen daher weiterhin der rechten Ideologie zur Verfügung. Als man auf dem Umweg über das afroamerikanische Reenactment den Nibelungenstoff wieder bewusst aufgreift, bleiben die männlichen Rollen weitgehend denunziert. Siegfried beispielsweise tendiert eher zur männlichen Blondinen-Witzfigur als zum jugendlichen Helden einer neu zu beschreibenden Zukunft. Held, Messias, Passion sind Begriffe, die nur mit Vorsicht angefasst werden. Da junge Männer, welcher ethnischen Herkunft auch immer, aber nach wie vor die Herausforderung der klassischen Heldenreise suchen und damit auf die Eroberung einer Position in einer erwachsenen Ordnungswelt zielen, laufen viele falschen Propheten nach, die explizit dunkle Ziele verfolgen. Siegfried und die Nibelungen taugen nicht mehr als politischer Mythos im nationalen Feld – und das ist gut so -, aber sie können im Verbund mit anderen mythischen Narrativen in der Literatur Bearbeitungsstoff sein, um die sich aufwerfenden Orientierungsfragen der Gegenwart neu zu erzählen. Neue Siegfriederzählungen sollten sich dabei der Situation junger Männer heute stellen. Die Nibelungenfestspiele könnten durchaus ein solches neues Siegfriedstück gebrauchen und damit Einfluss nehmen auf den gesellschaftlichen Diskurs.

Literaturhinweise

Manfred Ach, Das Nekrodil: Wie Hitler wurde, was er war, Berlin, 2010
Dieter Borchmeyer, Was ist deutsch? - Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin, 2017
Peter Bender, Karl Tormann – ein rheinischer Mensch unserer Zeit, 1927
Robert Charlier, Heros und Messias – Hölderlins messianische Mythogenese und das jüdische Denken, Würzburg, 1999
Saul Friedländer/Jörn Rüsen, Richard Wagner im Dritten Reich, München, 2000
Volker Gallé, Siegfrieds Schwert im Vormärz – die hessische Opposition in Darmstadt und Gießen und ihre Verbindung zu Worms, in: Heimatjahrbuch der Stadt Worms, 2014, S. S, 170-176
Gunter E. Grimm (Hrsg.), Nibelungen-Gedichte – ein Lesebuch, Marburg, 2011
Friedrich Hebbel, Tagebücher, 3. Band, 1845-54 und 4. Band 1854-63, Berlin, 1905
Yael Kupferberg, Dimensionen des Witzes um Heinrich Heine – Zur Säkularisation der poetischen Sprache, Würzburg, 2011
Herfried Münkler/Wolfgang Storch, Siegfrieden – Politik mit einem deutschen Mythos, Berlin, 1988
Peter Waldmann, Die Erfahrung einer Zwischenwelt – Heinrich Heine und der Rhein, in: Volker Gallé/Werner Nell (Hrsg.), Zwischenwelten – Das Rheinland um 1800, Worms, 2012S. 129- 154