Die unerquickliche Gegenwart

Georg Langes Nibelungenstadtgeschichte von 1837

von Volker Gallé

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Dom zu Worms, um 1830 / Stadtarchiv Worms ..


Von 1833 bis 1839 lehrte Dr. Georg Lange, vormals Privatdozent in der Philosophischen Fakultät der Universität Gießen, am Wormser Gymnasium. In diese Zeit fällt die Veröffentlichung seiner „Geschichte und Beschreibung der Stadt Worms nebst den alten Sagen, die sich an dieselbe knüpfen“ im Verlag von C.G. Kunze (Mainz), gedruckt bei Kranzbühler in Worms. Im Vorwort heißt es: „Eine Geschichte und Beschreibung der Stadt Worms ist wol schon längst ein allgemein gefühltes Bedürfniß, nicht nur für den Einheimischen, der sich in die historische Vergangenheit seiner Vaterstadt zurückversetzen will, sondern auch ganz besonders für den Fremden, welchem man bis dahin als Wegweiser bei der Wanderung durch die Stadt nichts für diesen Zweck Geeignetes bieten konnte...Daß ich schon jetzo in diesem Erstlingsversuche auch auf die Sagen und Volksgedichte des Mittelalters, welche sich an Worms knüpfen, einen Blick geworfen, wird mich hoffentlich des Dankes aller derjenigen versichern, welche mit Sinn und Gemüth die oft so unerquickliche Gegenwart durch die ehrwürdigen Erinnerungen an die Geschichten und Sagen einer großartigen Vergangenheit zu beleben und zu verschönern lieben.“ (S. 8/9)
Bereits 1825 war eine ausführliche „Geschichte der Stadt Worms“ des Darmstädter Privatlehrers Philipp August Pauli (1782-1854) bei Kranzbühler erschienen, in dessen „Vorbericht“ der Autor ankündigt, demnächst würden „antiquarisch-historische Forschungen, das Nibelungenlied betreffend, von mir und Herrn Baur, Lehrer am Pädagogium zu Darmstadt“ (S. IV) erscheinen. Dieses Werk ist allerdings nie erschienen. Insofern ist das eigentlich Neue an Langes Stadtgeschichte die Verknüpfung mit der mittelalterlichen Überlieferung, die Inszenierung von Worms als Sagenstadt, die sein Vorgänger Pauli bereits im Auge hatte. 1755 war die Handschrift C des Nibelungenlieds von Jacob Hermann Obereit in der Schlossbibliothek Hohenems (Vorarlberg), also im Bodenseeraum, wiederentdeckt worden. Der Schweizer Gymnasialprofessor Christoph Heinrich Myller publizierte sie erstmals vollständig in seiner von 1782-87 erschienenen „Samlung deutscher Gedichte aus dem XII., XIII. und XIV. Jahrhundert“. Im Zuge der antinapoleonischen deutschen Nationalbewegung verlagerte sich der Bearbeitungsschwerpunkt des Nibelungenliedes von Süd- nach Norddeutschland, der Text wurde zum Nationalepos stilisiert und um ihn herum entwickelte sich als neue Wissenschaftsdisziplin der Germanistik mit ersten Professuren in Hannover (1805) und Berlin (1810). Gleichwohl wurden auch Vorlesungen zum Nibelungenlied an süddeutschen Universitäten angeboten, so in Gießen durch Ludwig Christian Zimmermann (1814/1815/1816) und in Heidelberg (Johann August Zeune 1816, Franz Joseph Mone 1817/18/19/20). Zeune hielt bei einer Vorlesungsreise 1816 den ersten Vortrag zum Nibelungenlied in Worms. Georg Lange könnte ein Schüler von Zimmermann gewesen sein.
Bereits in der von der französischen Aufklärung geprägten Sturm-und-Drang-Epoche (1767-1785) hatten sich die europäischen Autoren den jeweiligen Nationalsprachen und ihrer Geschichte zugewandt, wie z.B. Herders Beschäftigung mit der Ossiandichtung deutlich zeigt. In der Romantik, so bei den Gebrüdern Schlegel, geht es zum Einen um die Rehabilitation des Mittelalters als Epoche, zum Anderen um die dauerhafte Qualität des Poetischen als Maßstab für Literatur, denn „nur das Belebte und Beseelte hat eine Geschichte“ (A.W.Schlegel, Berliner Vorlesungen III, 9). Novalis fordert, die Welt müsse romantisiert werden: „Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedere Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert....Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisiere ich es.“ (nach: Theorie der Romantik, Stuttgart 2000, S.51/52). Das ist es wohl auch, was Lange mit Verschönerung der unerquicklichen Gegenwart durch großartige Vergangenheit meint, und das leistet vor allem die Literatur des Mittelalters, die als Sagenüberlieferung an der Grenze von Geschichte und Geschichten, von Fakten und Mythologie changiert.
Bereits 1832 hatte Lange als Privatdozent in Gießen seine Arbeit „Untersuchungen über die Geschichte und das Verhältnis der nordischen und deutschen Heldensage“publiziert. Er hatte den 2. Band der Sagabibliothek des dänischen Wissenschaftlers Peter Erasmus Müller (1776-1834) übersetzt und kritisch kommentiert, den ersten Band hatte der Mediävist Karl Lachmann (1793-1851), Begründer der philologischen Textkritik und Gegenspieler der ersten germanistischen Generalisten, im Jahre 1816 herausgegeben. Müller, im Hauptberuf lutherischer Bischof von Roskilde, hatte 1817-20 die altnordische Literaturüberlieferung erstmals geordnet und in seiner „Sagabibliothek“ herausgegeben. Müllers 2. Band überliefert die nordischen Sagen von den Völsungen bis zur Edda und vergleicht sie bereits mit der Nibelungenliedüberlieferung. Lange verweist in seinem Vorwort darauf, dass die ältere mediävistische Literatur Müllers Arbeiten und damit die altnordische Überlieferung nicht berücksichtigt hatte. Es geht ihm um eine Parallelität zwischen der Entwicklung der homerischen Epen und der mittelalterlichen Heldenposie in der Tradition eines nationalen Epos und er untersucht dabei das Verhältnis symbolisch-mythischer und sagenhaft-historischer Elemente sowie die Rolle der Volksüberlieferung durch Sänger und deren Unterbrechung durch die christlichen Institutionen. Bereits 1826 hatte lange in Fulda die Schrift „Versuch, die poetische Einheit der Iliade zu bestimmen“ veröffentlicht. Damit greift er Johann Jakob Bodmers Wort vom Nibelungenlied als deutscher Ilias aus dem 18. Jahrhundert auf.
Nach der Wormser Stadtgeschichte erschien von ihm noch eine Stadtgeschichte Frankfurts. Außerdem schrieb er wohl die Texte zu der auch Worms beinhaltenden, bekannten Stahlstichsammlung „Originalansichten der historisch merkwürdigsten Städte in Deutschland“, die in zwei bänden zwischen 1837 und 1843 im Verlag von Gustav Georg Lange erschien. Inwieweit Georg Lange zur Darmstädter Langefamilie gehört, die Buchhändler, Verleger und bildende Künstler hervorgebracht hat, konnte bisher nicht endgültig geklärt werden.
Die Entwicklung von der germanistischen Forschung über die Stadtgeschichten bis zum illustrierten Reiseführer – in Koblenz war 1828 der erste Rheinreiseführer erschienen, 1826 wurde die Stahlstichtechnik in London patentiert, vor allem englische Maler und Schriftsteller, aber auch die französischen Romantiker reisten an den Mittelrhein -, diese Entwicklung entsprach dem Zeitgeist. Der Tourismus, der sich zunächst im Mittelrheintal konzentrierte, begann auch in Worms. Langes Stadtgeschichte richtet sich daher an Einheimische wie an Fremde, die durch die Stadt wandern. Es ist zu vermuten, dass Lange deswegen die sagenhafte Stadtgeschichte nicht allzu sehr gegen die Gegenwart ausgespielt hat. Am Ende des historischen Kapitels resümiert er: „Die Stadt zählt 8326 Einwohner (darunter 4957 evangelische, 2550 katholische, 811 jüdische und 8 Mennoniten) in 963 Wohnhäusern. Handel und Gewerbefleiß sind in raschem Zunehmen begriffen; mehrere bedeutende Fabriken sind theils schon seit einiger Zeit gegründet, theils noch im Entstehen begriffen. Der Werth des Grundeigenthums, der Preis der Cerealien und des Weins lässt nichts zu wünschen übrig. Die Stadt verschönert sich zusehends.“ (S.69) Die romantische Verschönerung hat also offenbar auch einen praktischen Wert. Lange beschreibt Neubau und Gebäudesanierung, die Anlage einer gepflegten Promenade, eine „frische Blüte“ der öffentlichen Schulen durch das 1829 neu organisierte Gymnasium, an dem er als einer von 6 Lehrern tätig war, und einen besonderen Sinn der Bürger für Religiösität, der sich in der „erhaltenden Sorgfalt“ für die jeweils drei Kirchen beider großer Konfessionen ausdrücke. Und er schließt mit dem Wunsch: „So sehen wir Worms trotz der schweren Stürme, welche in den letzten 3 Jahrhunderten über seinem Haupte gewüthet, einer immer schöneren Zukunft entgegengehen. Möge sie recht bald und in vollem Maße einer Stadt zu Theil werden, an welche sich seit den ältesten Zeiten so großartige und ruhmwürdige Erinnerungen aufknüpfen!“ (S. 70).
Dem Buchtext vorangestellt ist neben dem Vorwort ein Gedicht, das die Bedeutung von Worms als Stadt bedeutender historischer Ereignisse auf den Punkt bringt:
Ein Denkmal längst entschwundner schönrer Zeiten,
stehst du, o Worms, am dunklen Rheinesstrome!
Du sahest einst Germaniens Völkerkraft,
du sahst die Herrlichkeit des alten Roms,
du sahst den Glanz des deutschen Kaiserthums,
du sahst den Mann, der einst mit kräftgem Sinn
der Welt die Glaubensfreiheit wieder gab!
Und blieb dir nichts aus jener hehren Zeit,
als Deines Domes Pracht und Deiner Kirchen Zier,
so weilt doch gern der Geist auf Deiner Stätte,
an die so manche große That sich knüpft.
Vergleicht man die Schwerpunktsetzung mit späteren und heutigen Profilbildungen, so fällt zunächst auf, dass neben deutschen Mythen und historischen Schlüsselszenen auch die Herrlichkeit Roms gepriesen wird. Es gibt also keine nationale Abgrenzung zur antiken Kultur. Es fehlt die bedeutende jüdische Geschichte der Stadt; allerdings ist der jüdischen Geschichte im Anhang ein umfangreiches Kapitel gewidmet, das vor allem das hohe Alter der jüdischen Gemeinde Worms herausstellt.

Die Stadtgeschichte beginnt mit dem Verweis, sie verliere sich „in dem grauen Alterthume“ (S. 1). Schon vor der Ankunft der Römer habe hier eine gallische oder keltische Stadt gestanden, was der Name „Borbetomagus“ zeige. Die Geschichtsschreibung beginnt mit den Vangionen. Die Entwicklung einer bürgerlichen römischen Stadt beschreibt Lange als zivilisatorischen Fortschritt und er wundert sich, dass – anders als in Mainz – bis dato noch keine römischen Bauten gefunden worden seien. Er verweist darauf, dass Schannat in seiner Wormser Bistumsgeschichte von 1734 vermutet habe, in der Gewann Katterloch habe sich ein Amphitheater befunden und der Name sie abgeleitet von „catabuli locus“, der Bezeichnung des dazugehörigen Tierkäfigs, hält das aber für eine gewagte Hypothese. Im Rathaus, so berichtet er, würden ein römischer Sarkophag und fünf Grabsteine aufbewahrt. Den Burgundern spricht er Worms als Königsstadt zu und bezeichnet die historisch überlieferten Namen Gislahar und Gundahar als „Namen, welche wir in der im Nibelungenlied verherrlichten Volkssage im verklärenden Schimmer der Dichtung wiederfinden.“ (S. 5) Noch bemerkenswerter „für die Übereinstimmung dieses Nationalepos mit der wahren Geschichte“ sei der Umstand, dass König Gundicar im Jahre 451 „mit seinem ganzen Volke von Attila vernichtet wurde.“ Das ist ein bekannter Irrtum der Forschungsgeschichte. Der historische Gegenspieler Gundahars war der römische Heermeister Aetius, der sich u.a. hunnischer Hilfstruppen bediente, um 435/436 die Burgunder zu besiegen, deren Reste dann 443 nach Savoyen (Genfer See) umgesiedelt wurden. Attila wurde erst zwie jahre später hunnischer Alleinherrscher; 451 wurde er auf den Katalaunischen Feldern, die bei Chalons-sur-Marne vermutet werden, von Aetius mit Hilfe westgotischer, aber auch burgundischer Truppen zurückgeschlagen. Lange schränkt seine Aussage zur Übereinstimmung von Geschichte und Literatur insoweit ein, dass man Bedenken tragen müsse, das damalige Worms ganz nach der „durch und durch ins Romantische ausgeschmückten Schilderung des Liedes zu entwerfen“. Mit Gewißtheit könne man nur sagen, dass Worms damals bereits ein berühmter Ort gewesen sein müsse, „weil sich sonst das Andenken davon nicht so lebhaft in den Sagen des Volkes erhalten haben würde.“
Interessant an seiner Beschreibung der fränkischen Landnahme ist die Rede von „cisrhenaischen Deutschland“ (S.6), das seitdem Ost- oder Rheinfranken heiße. Die linkshreinischen Gebiete waren zur Zeit der französischen Revolution als Cisrhenanien bezeichnet worden. 1797 hatten die Franzosen versucht, unter diesem Begriff eine deutsche Tochterrepublik zu gründen, insbesondere im Rheinland um Köln und Koblenz, die zweite Republikgründung nach der Mainzer Republik von 1793 auf deutschem Boden. Cisrhenanien war also 1837 noch ein gebräuchlicher Begriff.
Die weitere Geschichtsschreibung folgt dem bekannten Verlauf. Ausführlich geschildert werden die Auseinandersetzung zwischen Bischof und Stadt um die freiheitsrechte, ebenso die innerstädtischen Auseinandersetzungen zwischen Patriziern und Zünften, so vor allem der Aufstand von 1513, der besonders farbig geschildert wird: „Als nun gerade die Fastnacht herangekommen war, eine Zeit, wo schon damals bei Höfen und in Städten am Rhein sich alles mit Mummereien und Schalkswesen erlustigte, beredeten sich die Aufwiegler, dass einige unter ihnen in Reiter, andere in Kühe verkleidet, aufeinander losgehen, und erstere die letzteren gefangen hinweg führen sollten, damit dadurch das Volk an die ehemals vom Rathe erlittene Bestrafung erinnert, zuerst im Spotte, dann zum Aufruhr angeregt werden möchte.“ (S.29) Man versteht diese ausführlichen Schilderungen, wenn man bedenkt, dass das Buch fünf Jahre nach dem Hambacher Fest und drei Jahre nach der Publikation von Büchners und Weidigs hessischem Landboten erschienen ist. Weidig hatte beste Kontakte zum Wormser Demokraten Bandel. 1838 wurde dann mit dem MCV in Mainz der erste Carnevalverein in Rheinhessen gegründet, der unter der Maske der Saalfastnacht demokratisches Gedankengut verbreitete. Besonderes Augenmerk legt Lange auch auf den Luther-Reichstag von 1521, „auf demselben der in seinen Umgestaltungen des verjährten Autoritätsglaubens unaufhaltsam fortschreitende Geist der neueren Zeit öffentlich ins Leben trat“ (S. 34), ein unverkennbarer Hinweis nicht nur auf den Zeitgeist, sondern auch auf seine Prägung durch die damalige Geschichtsphilosophie. Lange beschreibt den Reichstag als Spiegelbild touristischer Wunschvorstellungen und Zukunftsängste: „Eine große, volkreiche und mit allen Bedürfnissen des Lebens reichlich versehene Stadt, genug eine Stadt ersten Ranges, musste damals noch unser Worms sein, da es den überaus zahlreichen Besuch aufnehmen konnte...Selbst den ersten Amerikaner, in seiner eigentümlichen Tracht nach Zigeuner Art verschleiert, erblickte man hier mit Verwunderung. Kortez hatte ihn aus Zempoalka in Mexiko seinem König als Huldigung übersandt... ein Fest reihte sich an das andere...Der Taumel der Fastnacht steckte ganz Worms an, so dass es rauschend und nach Sitten der Zeit roh und ungezogen genug herging...Es geht hier zu wie in Rom mit Morden und Stehlen, und von schönen Frauen sind alle Gassen voll“ (S.35-37)
Eine Zäsur in der Aufwärtsentwicklung der mittelalterlichen Stadt wird mit dem Stadtbrand von 1689 gesetzt: „Die altehrwürdige Stadt fällt ein trauriges Opfer des unglückseligen 30jährigen Krieges, noch mehr aber des ewig fluchwürdigen Eroberungskrieges Ludwigs XIV. im Jahr 1689. Es wandelt uns das Gefühl der Wehmuth und des Unmuths zugleich an, sowol im Hinblick auf jene früheren Zeiten, in welchen der Deutsche, fortgerissen vom religiösen Fanatismus, das eigene Vaterland mit der verheerenden Fackel des Krieges überzog, als noch vielmehr auf jene späteren, in denen das übermüthige, jedem Gefühl für das Menschlichkeit und Rechtlichkeit hohnsprechende Volk der Franken die Reichsherrlichkeit des alten Worms in Rauch und Flammen aufgehen ließ.“ (S.49) Ausführlich wird die „vandalische Zerstörungslust“ des französischen Militärs beschrieben und darauf hingewiesen, dass vereinbarte Auflagen, die von den Deutschen gewissenhaft erfüllt von den Franzosen „nach den ihrer Nation eigenthümlichen Begriffen von Treue und Redlichkeit“ (S. 54) einseitig gebrochen worden seien. Die Schilderung des Brands erinnert an die Überlieferung von Neros römischem Stadtbrand: „Rasch vertheilen sich die Brandmörder in alle Straßen und stecken sie mit lautem Jubelgeschrei von allen Seiten in Brand. Bald wälzte sich das Feuer durch die ganze Stadt, und – bis zum anderen Morgen war sie schon in einen wüsten Schutthaufen verwandelt. Mit höllischer Schadenfreude sahen die Raubhorden dem Brande zu, spielten dabei auf Saiteninstrumenten lustige Stücke und äfften und höhnten die jammernden Bewohner, von welchen sich einige hundert auf die benachbarte Rheininsel, die Maulbeerau, geflüchtet hatten und in verzweiflungsvollem Schmerze dem grauenhaften Brande zusahen.“ (S.59/60) Als nächsten „Sturm“ der Geschichte beschreibt Lange die französische Revolution, die ja u.a. zum Brand des Bischofspalastes führen wird. Aber er differenziert: „Abermals ist es Frankreich, welches uns aus seinem Unheil-schwangern Schooße diese verheerenden Stürme zusendet. Aus feilen Königsknechten werden seine Bewohner plötzlich die glühendsten Freiheitshelden, welche Fluch und Verderben über jeden Andersdenkenden ausrufen.“ (S. 64) Und er räumt ein: „Die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit fanden auch hier viele und sogar enthusiastische Freunde. Man pflanzte Freiheitsbäume, sang Freiheitslieder und errichtete Klubs, in welchen begeisterte Redner das Glück der neuen Verfassung mit den glänzendsten Farben schilderten und dem Lande goldene Tage versprachen.“ (S. 65) Begeisterung, Enthusiasmus – das sind Begriffe der Rousseauschen Aufklärung, wie sie vor allem an der Mainzer Universität und deren Umfeld weit verbreitet waren. Am Ende der Stadtgeschichte sieht Lange nach drei Jahrhunderten Zerstörung eine neue Blüte der Stadt beginnen. Die Neuorganisation des Gymnasiums, die neue Promenade uvm. Sind die äußeren Zeichen, aber es geht ihm auch um einen Identitätsappell: „Möge es jeder edelgesinnte Bürger von Worms stets als seine fromme Pflicht betrachten, nach Kräften dazu mitzuwirken, dass sich eine Stadt, in welcher einstmals der Geist deutscher Nation den höchsten Triumph gefeiert hat, dieses großen Namens in allen ihren Handlungen immer würdig erweise, und ihr wenigstens durch diese innere Größe der Gesinnung einigen Ersatz für die wol auf immer entschwundene äußere Bedeutung der früheren Jahrhunderte zu bieten suchen!“ (S. 70)
Nach einer eingeschobenen Geschichte der reformierten Gemeinde und der Friedrichskirche folgt das Sagenkapitel, das mit der Eingangsstrophe des Rosengartenliedes in einer Fassung von 1560 beginnt: „An dem Rein da ligt ein Stadt, die ist gar wunesam...“ (S.79) Und weiter im Text: „Die altehrwürdige Stadt Worms steht nicht bloß in der Geschichte in seltener Größe und Bedeutung da; sie ist auch vor allen anderen Städten Deutschlands in den ältesten und berühmtesten Sagen und Gesängen unserer Nation, und zwar vor allem im Nibelungenliede, hochgefeiert.“ (S. 79) Hier haben wir das Alleinstellungsmerkmal im Stadtmarketing bereits vor fast 200 Jahren formuliert: Worms als deutsche Sagenstadt, also als romantische Stadt, eine Stadt mehr des Erzählens, Inszenierens, Singens als der Fakten, eine Stadt, die sich stellvertretend mit deutschen Mythen herumschlägt, die in Wahrheit europäische Mythen sind.
Nach einer kurzen literaturgeschichtlichen Ortsbestimmung des Nibelungenlieds beginnt Lange das Epos nachzuerzählen. Damit greift er eine gängige Methode der frühen Germanistik auf, wie sie 1830 von Karl Rosenkranz in seinem in Halle erschienenen Buch „Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter“ formuliert worden war. Rosenkranz postuliert, der Literaturhistoriker solle sich des Werturteils enthalten und über das Erzählen zur inneren Geschichtsschreibung der Werke vordringen. Gleichwohl versteht er seine Methode als romantisch. Das Mittelalter ist seiner Meinung nach die zeit, „in der das Romantische historisch in Erscheinung getreten ist in der Spannung zwischen dem partikulären Geist eines jeden Volkes und dem universellen Geist der Kirche als die Ausdrucksweise des letzteren und die Verbindung zwischen beiden.“ (Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, Paderborn, 2003, S. 306)
Hier nur wenige Anmerkungen zu Langes Nacherzählung des Nibelungenliedes. So fällt z.B. auf, dass er darauf hinweist, dass Brunhild bei ihrem Weggang aus Isenstein ihres Mutters Bruder als Vogt einsetzt. Das deutet auf ein matrilineares Verwandtschaftssystem hin, wie es heute noch in Polynesien bekannt ist. Vielleicht sind hier frühe Interessen an Matriarchatstheorien angedeutet, wie sie bereits in der ethnologischen Aufklärung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts beliebt waren, vor allem als Gegenbilder zur patriarchalen Gesellschaft des Feudalismus. So hat z.B. der Alzeyer Pfarrer und Satiriker Johann Konrad Schiede 1816 den Roman „Gynaikokratie oder die Regierung der Frauen und Jungfrauen als einziges Rettungsmittel der Welt“ in Frankfurt veröffentlicht. Ausgehend vom Königinnenstreit am Münsterportal schreibt Lange: „Da der hiesige Dom bereits im Jahre 1016 eingeweiht wurde und auch seit dem Jahre 1181 keine wesentlichen Veränderungen mehr erlitt, das Nibelungenlied aber erst in der früheren Hälfte des 13. Jahrhunderts seine gegenwärtige letzte Gestalt empfing, so hat man sich unter dem hier erwähnten Münster kein anderes Gebäude als das jetzo noch stehende zu denken.“ (Anmerkung S. 88) Die in Handschrift C beschriebene Jagd im Odenwald – die anderen Handschriften sprechen vom Waskenwald, also den Vogesen – wird in einer Anmerkung genauer verortet, und zwar im
Lorscher Wald, „wovon der Grund und boden zwar dem Kloster Lorsch, der Königsbann aber dem Stifte Worms gehörte.“ (S. 99) Als Beleg verweist Lange auf einen 1831 erschienenen Aufsatz in den „Quartalblättern des Mainzer Vereins für Literatur und Kunst“. Die Qualle vermutet Lange in Lindenfels, hält aber auch andere Orte für möglich, da der Dichter vielleicht gar nicht an eine bestimmte Lokalität gedacht, sondern einen poetischen Ort gesucht habe.
Hinter die Nacherzählung des „Hürnen Seyfrieds“ und des „Rosengartenliedes“ stellt Lange ein eigenes Kapitel über den Wormser Stadtnamen und seine Verknüpfung mit der Drachentötersage Siegfrieds. Er beschreibt einen Lautwechsel w-b und s-t vom Germanischen zum Romanischen, und hält daher Worms für eine frühere Form von Borbetomagus. Worms meine also Wurm- oder Drachenstätte. Wahrscheinlich ist es umgekehrt. Borbetomagus ist ein latinisierter keltischer Name, der im frühen Mittelalter germanisiert wurde. B wurde zu w, wie heute noch im regionalen Dialekt üblich; die Drachensage ist dann eine spätere Namenserklärung , eine ätiologische Sage oder Herkunftslegende, die das nicht mehr verständliche Wort im aktuellen Sprach- und Sinnzusammenhang erklärt. Mit Blick auf das Nibelungenlied bezieht Lange den Standpunkt, dass die „ursprünglich reinsymbolische Sigurds-Sage (S. 120), also die nordische Sage zur Zeit der „romantischen Ritterpoesie“, also im Hochmittelalter, mit der ursprünglich historischen Überlieferung vom Untergang der Burgunder verschmolzen wurde. Seit dieser Zeit finde sich auch der Drachen als Wappenhalter der Stadt Worms, der den Petrusschlüssel des Domes in den Klauen halte. Vielleicht sei das auch ein Bild für die Konflikte zwischen Bischof und Stadt. Das Verständnis der Sigurd-Siegfried-Sage als reiner Mythos ohne historischen Hintergrund ist eine höchst moderne Auffassung, die Theorie von den zwei Erzählkernen des Nibelungenlieds gibt es seit seiner Wiederentdeckung. Lange kennt auch die Methode der Lokalisierung historischer Orte, lässt sie teils gelten und zweifelt sie teils an. Mit Blick auf das Rosengartenlied beschreibt er das umgekehrte Verfahren, nämlich dass ein Ort neu nach einem literarischen Vorbild benannt wird: „Und wie man von jeher liebte, Localbenennungen allbekannter Volkssagen, auf wirkliche Localitäten, wo man sich ihre Szenen spielend dachte, überzutragen, so erhielt nun auch das der Stadt gegenüber liegende flache Rheinufer den besonders im Heldenbuch vielgefeierten Namen Rosengarten.“ (S. 121) Den Siegfriedstein hält er für einen heidnischen Opferstein; heute geht man davon aus, dass er früher als steinernes Gewicht einer Baumkelter genutzt wurde. Mittlerweile dient er als überdimensionaler öffentlicher Aschenbecher.
Nach der Sagenabteilung folgte eine Beschreibung der Stadt und ihrer prägenden Gebäude sowie ein Kapitel über das hohe Alter der jüdischen Gemeinde, die u.a. mit Bezug auf jüdische Quellen auf die Zeit vor Christi Geburt datiert wird. Der Wettbewerb um den Titel der ältesten Stadt war in den städtischen Origo-Geschichten des Mittelalters ebenso verbreitet und politisch motiviert wie bei den Adelsgeschlechtern; offenbar galt das auch für die jüdischen Gemeinden untereinander.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Langes Nibelungenstadtgeschichte von 1837 erstmals, aber ganz auf dem wissenschaftlichen Hintergrund der romantischen Epoche und der auf ihren Denkmodellen fußenden Gründung der universitären Germanistik, Worms als herausgehobene Stadt deutscher Mythen präsentiert und in einen touristischen Kontext gestellt. Beides soll als Motor für Stadtentwicklung dienen und den Rückfall in eine Provinzposition kompensieren helfen. Diese Matrix funktioniert auch im frühen 21. Jahrhundert noch immer ausgezeichnet.