Die Geburtsstunde der Germanistik

das Nibelungenlied
und Friedrich von der Hagen

von Volker Gallé

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Friedrich von der Hagen ..


„Eine auf keiner bisherigen Deutschen Universität gewesene Professur ist die, des Professors von der Hagen, der Vorlesungen über die Geschichte der älteren Deutschen Poesie, überhaupt und insonderheit über das Niebelungen-Lied in der Ursprache grammatisch und antiquarisch halten wird.“1

Mit diesen Worten wies die Berliner Zeitschrift Minerva im Jahre 1811, also vor etwa 200 Jahren, auf den Beginn der Germanistik als universitäre Wissenschaft hin. Die Berliner Universität war 1810 neu gegründet worden und Friedrich von der Hagen hatte gegen erhebliche Widerstände die Einrichtung eines Lehrstuhls  für „Deutsche Alterthumskunde“ durchgesetzt, für den er als außerordentlicher Professor am  28.  September 1810 berufen worden war. Die Zeitschrift Minerva zitiert nach dem Vorlesungsverzeichnis, in dem es heißt: „F.H. de Hagen, Cum in vetustioris omnino Germanorum poeseos historiam, tum in Epos illud quod der Nibelungen Lied vocatur, isagogen offert, una cum grammatica et antiquaria poematis huius in prisco sermone suo interpretatione ternis p.(er) hebd.(domas) horis.“2  Schon allein dadurch wird deutlich, dass sich die deutsche Philologie aus der Vorherrschaft der klassischen Philologie herausarbeiten musste. Bereits fünf Jahre zuvor hatte Georg Friedrich Benecke in der bereits 1734 gegründeten Universität Göttingen eine außerordentliche Professur für neuere Philologie erhalten, wohl mit Unterstützung des klassischen Philologen Heyne, der als graue Eminenz der Universität galt. Im Sommersemester 1806 las Benecke dann unter dem Thema „Anleitung zur Kenntniß der älteren Deutschen Literatur, und zum Verständnisse der besonders aus dem Schwäbischen Zeitalter übrigen Gedichte.“3  1805 gehörte das ehemals kurhannoveranische Göttingen zu Preußen. Im Frieden von Tilist 1807 gingen Preußen alle Gebiete westlich der Elbe, so auch Göttingen, verloren. Preußen schrumpfte nach der durch Napoleon erlittenen Niederlage auf die Hälfte seiner vorherigen Größe. Grundlage der Befreiungskriege von 1813 mit ihrem vaterländischen Pathos waren aber die Stein-Hardenbergschen Reformen, die Gedanken der Aufklärung in einem neuen Preußen zu verankern suchten. Zu diesem Reformpaket gehörte auch die Gründung der Berliner Universität durch den Liberalen Wilhelm von Humboldt, nach dem sie heute benannt ist. In der Rigaer Denkschrift von 1807 formulierten die Reformer: Der „Wahn, dass man der Revolution am sichersten durch Festhalten am Alten und durch strenge Verfolgung der durch solche geltend gemachten Grundsätze entgegen streben könne, hat besonders dazu beigetragen, die Revolution zu befördern und derselben eine stets wachsende Ausdehnung zu geben. Die Gewalt dieser Grundsätze ist so groß, sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, dass der Staat, der sie nicht annimmt, entweder seinem Untergange, oder der erzwungenen Annahme derselben, entgegensehen muss; Ja selbst die Raub- und Ehr- und Herrschsucht Napoleons und seiner begünstigten Gehilfen ist dieser Gewalt untergeordnet und wird es gegen ihren Willen bleiben. Es lässt sich auch nicht leugnen, dass unerachtet des eisernen Despotismus, womit er regiert, er dennoch in vielen wesentlichen Dingen jene Grundsätze befolgt, wenigstens ihnen dem Schein nach zu huldigen genötigt ist....Also eine Revolution im guten Sinn, gemach hin führend, zu dem großen Zwecke der Veredlung der Menschheit, durch Weisheit der Regierung und nicht durch gewaltsame Impulsion von Innen oder Außen – das ist unser Ziel, unser leitendes Prinzip. Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung: diese scheint mir die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeit-Geist. Die reine Demokratie müssen wir noch dem Jahre 2440 überlassen, wenn sie anders je für den Menschen gemacht ist.“4 In dieser Atmosphäre also entstand die Germanistik. Im Vordergrund stand zunächst die Textedition, aber neben der damit verbundenen sprachwissenschaftlichen Forschung spielte die literarische Überlieferung, in erster Linie als epische Poesie verstanden, eine Rolle bei der Motivation zur Forschung wie bei der Vermittlung. Eine Spezialisierung und die Wissenschaft lange prägende Verengung auf den sprachwissenschaftlichen und texteditorischen Anteil findet man erst ab 1820 in der Abwendung des Mainstream von den Gründergeneration um Friedrich von der Hagen. Sie geht einher mit dem Siegszug des im19. Jahrhundert dominanten Historismus gegenüber den eher didaktisch-pragmatischen Ansätzen von Humanismus und Aufklärung, die eine moralische Besserung der Leser von Geschichtserzählungen zum Ziel haben und sich weniger der akribischen Erforschung historischer Quellen als deren Deutung verpflichtet fühlen. 

Daraus wird auch klar, dass der Beginn der universitären Germanistik nicht gleichzusetzen ist mit dem erwachenden Interesse an nationalen Sprachen und ihren literarischen Zeugnissen. In Deutschland beginnt dieses Interesse bereits mit Reformation und Humanismus und hat von Anfang mit den Problemen des Volksbegriffs zu kämpfen, der einmal eine republikanische Perspektive besitzt in der Hinwendung an die ganze Bevölkerung und die Kommunikation in deren Volkssprache und zum anderen die einengende Perspektive auf eine geografisch und historisch bestimmte Sprachgemeinschaft, die sich als politische Einheit versteht und gegenüber anderen Völkern abgrenzt. In der aufklärerischen Sturm-und-Drang-Philosophie Johann Gottfried Herders hat die Hinwendung zu den Volksüberlieferungen eine republikanische Komponente und ist eingebettet in die Utopie einer sich zu Menschheitsidealen in gegenseitiger Befruchtung entwickelnden Völkerfamilie. Dem Deutschen – damals gleich gesetzt mit einer nordischen Überlieferung, die Kelten und Germanen noch in einem dachte – wurde seit Montesquieu eine besondere Affinität zur Freiheit zugesprochen. Dieser Freiheitsbegriff ist keineswegs identisch mit dem nationalen Befreiungsbegriff eines Turnvater Jahn beispielsweise, sondern zieht sich über die Klassik bis zu Romantikern wie Heine in die Revolution von 1848, bleibt der Republik verpflichtet und repräsentiert noch im 20. Jahrhundert mitten in der Nazi-Barbarei das Bild von einem „anderen Deutschland“. Die Hinwendung zur mittelalterlichen Literatur und damit die Geburtsstunde der Germanistik ist also nicht von vorneherein als historische Fundamentierung nationaler Herrschaftsinteressen zu sehen. Im Übrigen verlief diese Entwicklung in vielen europäischen Ländern auf verwandten Ebenen, wie z.B. die Geschichte der englischen Literatur seit Macphersons Ossian Mitte des18.Jahhrunderts zeigt.


Mitte des 18. Jahrhunderts, genauer gesagt am 29. Juni 1755, entdeckte der Lindauer Arzt Jacob Hermann Obereit (1725 – 1798) in der Schlossbibliothek Hohenems(Vorarlberg) die Handschrift C des Nibelungenliedes. 1757 veröffentlichte der Schweizer Philologe und Schriftsteller Johann Jacob Bodmer (1698-1783) einen ersten Teilabdruck des Nibelungenliedes. Er versuchte den Stoff weiter zu popularisieren mit einer freien Übersetzung in Hexametern unter dem Titel „Die Rache der Schwester“ (1767) und durch drei Stoffbearbeitungen im Jahre 1781. Eine erste vollständige, wenn auch noch fehlerhafte Textedition erschien 1782 in der dreibändigen „Sammlung deutscher Gedichte aus dem XII., XIII. und XIV. Jahrhundert“ des Schweizer Gymnasialprofessors Christoph Heinrich Myller (1740 – 1807), eines Bodmer-Schülers. Trotz der Kritik Friedrichs des Großen an den Texten und von Hagens Anekdote, die letzten Exemplare von Myllers drittem Band seien in einem Breslauer Kaufladen als Tüten verwendet worden, 5 muss festgestellt werden, dass die Edition von Lessing und Herder positiv aufgenommen wurde. Und auch Goethe und August Wilhelm Schlegel begrüßten später die neue Auseinandersetzung mit der hochmittelalterlichen Literatur in deutscher Sprache. Und trotz der Kritik des preußischen Königs wanderte das Bearbeiterinteresse am Nibelungenlied aus dem süddeutsch-schweizerischen Raum um 1800 ins preußische Berlin, angeregt durch vor allem durch Schlegels berühmte Berliner Vorlesungen über Literatur und schöne Kunst von 1803/04. Beeinflusst durch diese Vorlesungen machte sich Friedrich von der Hagen an eine neue Edition. 1805 erschien als seine erste Veröffentlichung „Das Lied der Nibelungen. Probe einer neuen Ausgabe dieses Epos, mit Angabe der Grundsätze, welche bei der Bearbeitung derselben befolgt worden sind“ in der Zeitschrift „Eunomia“. Die „Probe“ umfasste die 15.und 16. Aventiure, die an der Donau spielen. Dass von der Hagen diese Stelle ausgewählt hatte, hing zum Einen mit ihrer Bewertung als „meisterlich“ in Schlegels Vorlesungen zusammen, zum Anderen mit einer Bearbeitung Bodmers, die 1781 unter dem Titel „Die wahrsagenden Meerweibchen“ erschienen war und von der Hagen zuallererst auf den Stoff aufmerksam gemacht hatte. Von der Hagen beschrieb seine Methode als „Wiedererweckung und Erneuung des alten, so lange vergessenen Originals, bloß dadurch, dass es lesbar und verständlich gemacht wird.“6 Der Lautstand war modernisiert worden, so „u“ und „ü“ statt „uo“ und „üe“, Wortlaut und Syntax blieben eng an der Vorlage. Während der Schriftsteller de la Motte Fouqué (1777 – 1843)  und der Schweizer Geschichtsschreiber Johannes von Müller (1752 –1809)  positiv regierten, meldete Jacob Grimm (1785 – 1863) Bedenken an: „man sieht, wie schwankend die regeln sind, die er sich aufstellt...es bleibt allzeit ein zerstörender contrast zwischen den alten und neuen ausdrücken... das original übertroffen zu haben, wird er sich ohnehin nicht einbilden, und am ende hätte er nur denen, die zu träg waren, das original zu lesen, einige mühe erspart.“7  Die Kritik traf und traf nicht. Sie war insofern richtig als von der Hagen mit seiner „Erneuung“ weder die Edition einer Handschrift vorgelegt hatte noch eine Übersetzung. Dies bleib auch bei den weiteren Veröffentlichungen von der Hagens, auch bei den Gesamtausgaben 1807, 1810 und 1816 (Handschrift B/St. Gallen) der Streitpunkt zwischen von der Hagen und der Fraktion Grimm/Lachmann, die sich schließlich in der Wissenschaft mit ihrer Methode durchsetzen sollte. Die Heftigkeit der Debatte zeigt eine Kritik Wilhelm Grimms (1786 –1859) an von der Hagens Gesamtausgabe von 1807: „Es ist eine Modernisierung, die schlechter ist als das Original, und doch nicht modern.“8 Von derHagen reagierte darauf in einem Brief an Johannes von Müller: „Ein gewisser Grimm, ich glaube zu Kassel, hat kürzlich in den Heidelberger Jahrbüchern angefangen meine Nibelungen sehr schnöde anzulassen; ich werde ihm gelegentlich das Maul stopfen.“10  Die Kritik traf insofern nicht zu, als von der Hagens Ziel bei der „Erneuung“ nicht eine kritische Textausgabe oder eine moderne Übersetzung war, sondern die Zurverfügungstellung eines dem Original nahen, aber für Zeitgenossen besser lesbaren Textes als Grundlage für eine dichterische Neubearbeitung. Ganz im Sinne Schlegels dachte von der Hagen an eine Dramatisierung und hatte dabei Goethe und Tieck im Auge. Davon versprach er sich eine Popularisierung des Stoffes und in der Zeit der preußischen Niederlage gegen Napoleon einen Schub an nationaler Identität, offenbar durchaus im republikanisch gefärbten Sinn der Stein-Hardenbergschen Reformen: „Wie man zu des Tacitus Zeiten die Altrömische Sprache der Republik wieder hervor zu rufen strebte; so ist auch jetzt, mitten unter den zerreißendsten Stürmen, in Deutschland die Liebe zur Sprache und den Werken unserer ehrenfesten Altvordern rege und thätig, und es scheint, als suche man in der Vergangenheit und Dichtung, was in der Gegenwart schmerzlich untergeht.“11 Während von der Hagen damit die wissenschaftliche Position von Humanismus und Aufklärung fortführte, ging es der historistisch orientierten Grimm-Lachmann-Fraktion um eine „Philologisierung“ ihres Faches, also mehr um die Sprachdenkmale um ihrer selbst willen. Klaus Weimar schreibt in seiner „Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft“: „Für von der Hagen stellte sich die Aufgabe so, dass er möglichst viele solcher Zeugnisse der vorbildlichen Lebensweise aufzuspüren und zu sammeln hatte...und dass er sie mit den allernötigsten Verständnishilfen...möglichst vielen Leuten zugänglich zu machen hatte...Betrachtet man dagegen die altdeutschen Texte mit...den Grimms als Sprachdenkmale, so stellt sich die Editionsaufgabe ganz anders dar...Sie erfordert ...ein theoretisch ungemein anspruchsvolles Verfahren, mit dem man zuerst die uneinheitlichen Grapheme der Handschriften zurückübersetzt in einheitliche Phoneme, um dann – unter ständigem Handschriftenvergleich und Benutzung eigens angefertigter Reimregister – eine mittelhochdeutsche Grammatik und Metrik zu konstruieren; deren Regeln wirken schließlich auf die Editionsarbeit zurück und leiten die Handschriften- und Textkritik.“ 12 Weimar sieht als Grund für die Durchsetzung der Grimm-Lachmannschen Position in der Wissenschaft die Veränderung in der politischen Landschaft. Nach 1820, der sich ausbreitenden Restauration, waren „gesellschaftliche Nützlickeit oder gar Wirksamkeit“ von Wissenschaft nicht mehr gefragt: „Angesagt war ...Wissenschaftlichkeit, verstanden als Form oder auch nur Indiz allein von sich selbstgesteuerter, methodischer Prozesse der Kenntniserweiterung, wenn nötig, in entschlossener und sehr weitgehender Spezialisierung.“13

Der Elfenbeinturm der Wissenschaft könnte demnach immer dann entstehen, wenn Wissenschaft die Flucht aus Gesellschaft und Politik antritt, sei es weil sie vor der Restauration oder vor ihrem Missbrauch in die innere Emigration geht. Die Gegenbewegung zum Biedermeier der 1820er Jahre ließ nicht lange auf sich warten. So schrieb beispielsweise der Redakteur der Mainzer Narrhalle, Ludwig Kalisch, im Jahre 1849 über „Die gelehrten Philister“: „Dem deutschen Forschungstrieb ist nichts tief und verborgen genug...Unter den deutschen Gelehrten gibt es eine große Menge..., die der Buchstabe tötet und der Geist nicht wieder lebendig machen kann...Der gelehrte Philister studiert nicht um zu lernen; er studiert, um zu studieren. Sein Geist genießt, ohne zu verdauen. Er erdrückt den gesunden Menschenverstand durch die Masse von Gelehrsamkeit, und vor lauter ungewöhnlichen Kenntnissen kennt er das Gewöhnliche nicht...Die Gelehrsamkeit des Stubengelehrten  ist immer wieder eine unnütze; denn ihm ist das bloße Mittel einziger Zweck...Der gelehrte Philister...kann vieljährige Untersuchungen anstellen über das Holz, aus welchem die Arche Noahs verfertigt war...Sein Geist ist schwach, aber sein Sitzfleisch ist willig.“14

Aber zurück von der Forschung zum Lehrstuhl von der Hagens. Schon während des Studiums der Recht in Halle interessierte sich der in der Uckermark geborene, illegitime Sohn eines begüterten Freiherren für Literatur und Philosophie, hörte Friedrich Wilhelm Schlegel in Jena, las Jean Paul’s Romane und studierte mit Begeisterung die Schriften Winckelmanns zur griechischen Kunst. 1802 ging er als Referendar ans Berliner Stadtgericht. Nachdem er – angeregt durch die Vorlesungen August Wilhelm Schlegels 1803/04 – im Jahre 1805 seine erste Studie zum Nibelungenlied veröffentlicht hatte, entschloß er sich, aus der iuristischen Beamtenlaufbahn auszusteigen – zumal diese in den napoleonischen Zeiten wenig aussichtsreich schien – und als Privatgelehrter seinen Interessen an altdeutscher Literatur nachzugehen, unterstützt durch das Vermögen seiner Frau und Zuwendungen seines Vaters. Die folgenden Veröffentlichungen, für die ihm 1808 der Doktortitel zugesprochen wurden, brachten dennoch zu wenig ein, und so übergab er den Berliner Universitätsgründern um den Theologen Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) ein an die klassische Altertumswissenschaft angelehntes Studienprogramm für deutsche Altertumswissenschaft  und schlug sich selbst für die Besetzung des neu zu schaffenden Lehrstuhls vor. Das Programm umfasste:

„1. Geschichte der Deutschen Sprache, nach den verschiedenen Zeitaltern und Mundarten, im weitesten Umfange, auch in Beziehung auf die verwandten Sprachen und mit Vergleichung der noch lebenden.

2. Geschichte der Deutschen Literatur:
a.)    der poetischen
b.)    der prosaischen.

3. Ausgeführte Geschichte der Deutschen Poesie und Prosa, auf der vorigen Grundlage

4. Über Sitten, Gebräuche, Religion, öffentliches und häusliches Leben ff. ,
oder was man im gewöhnlichen Sinn unter dem Nahmen der Deutschen Alterthümer  begreift.

5. Die politische Geschichte, Diplomatik ff.
(muß, so weit sie in Beziehung steht, hier überallmitgenommen werden.)

6. Über einzelne alte Schriftsteller und Werke, ganz nach Art der Klassiker, zuförderst zwar über die anerkannt vortrefflichen, als: die Nibelungen, das Heldenbuch, den Titurel, den Tristan und den Reineke Voß.“ 15

Schleiermacher lehnt ab: Es sei kein Geld da und die Zeit sie noch nicht reif. Schließlich erhält von der Hagen doch eine undotierte Privatdozentenstelle, die schließlich im Oktober 1810 – nach weiteren Eingaben – in ein mit 200 Talern im Jahr honoriertes Extraordinariat umgewandelt wurde. Die Nachfrage bei den ca. 200 Berliner Studenten war bescheiden: nur sechs Hörer hielten die Vorlesung bis zum Ende durch. Nach einem zweiten Semester wechselte von der Hagen daher nach Breslau, wo sich eine mit 800 Talern pro Jahr dotierte Bibliothekarsstelle mit einem Extraordinariat an der mit 40 Studenten kleinen Universität vor Ort verband. Und obwohl auch dort der Zuspruch zu den Vorlesungen mit durchschnittlich neun Hörern schwach blieb, wurde die Stelle 1817 in ein Ordinariat  für germanische Philologie umgewandelt. Im Jahr zuvor hatte von der Hagen für die preußische Regierung unter Hardenberg eine Studienfahrt durch Deutschland, die Schweiz und Italien unternommen, um sich u.a. Nibelungenhandschriften anschauen zu können. Von der Reise kehrte der preußisch-nationale von der Hagen als lutherisch-konservativer Befürworter der „Heiligen Allianz“ zurück. Das 1815 zwischen Russland, Österreich und Preußen geschlossene Bündnis stellte das Gottesgnadentum der Monarchen gegen Aufklärung und französische Revolution und beförderte die Restauration. In seinem 1819 erschienenen Buch „Die Nibelungen: ihre Bedeutung für die Gegenwart und immer“ schreibt von der Hagen: „Endlich, in dieser neuesten Zeit, da so sichtbar durch Gottes und des Erlösers Hand das finstere Reich der Vernunftgöttinn, unter der Gestalt einer Schauspielerinn (der neuen Babylonischen Hure), und das darauf folgende Reich der Lüge, unter der Gestalt der eisernen Maske (genannt vultus tyranni), in den Abgrund gestürzt worden, ist die Abschaffung der Knechtschaft und Sklaven, welche aus ihrem Tartarus der neuen Welt der alten Welt über ihr den Untergang drohte, wenigstens ausgesprochen: ein heiliger Bund fast aller Christlicher Könige und Völker ist geschlossen, wie nie zuvor, - und kein Spötter soll uns abhalten, davon das segensreichste zu hoffen.“16 Im Jahre 1824 schließlich erhielt von der Hagen das Ordinariat für deutsche Sprache und Literatur in Berlin. Ihm wurde dabei der Vorzug vor seinem Konkurrenten Karl Lachmann gegeben, der sich mit seiner textkritischen Philologie in der germanistischen Mediävistik auf Dauer durchgesetzt hat. 1911 stellte Josef Körner fest, „während der Name Lachmann jedem Gymnasiasten vertraut sei, wisse kaum der gelehrte Philologe Hagens Verdienste gerecht einzuschätzen.“17 Und von der Hagens Biograph Eckhard Grunewald schrieb 1988: „Das zurückliegende Dreivierteljahrhundert germanistischer Wissenschaftsentwicklung nahm zwar der mit Karl Lachmanns Namen verbundenen Methode der Textkritik ihre (einst bis in die Schulen reichende) dogmatische Geltung, ließ jedoch das hierzu in grundsätzlichem Widerspruch stehende editorische Werk seines Kontrahenten Friedrich Heinrich von der Hagen weiterhin im Abseits liegen.“18


In den zehn Jahren zwischen 1812 und 1822 wurden fast vierzig Vorlesungen an deutschen Universitäten zum Nibelungenlied gezählt. Es war bei weitem das dominante Thema am Beginn der Germanistik als universitärer Wissenschaft. Die meisten Orte lagen in Preußen und Sachsen (Breslau, Berlin, Greifswald, Königsberg, Köln und Jena), fast ebenso viele im deutschen Südwesten (Gießen, Frankfurt, Marburg in Hessen, Heidelberg in Baden und Tübingen in Württemberg). In Norddeutschland und in Bayern spielte der Stoff kaum eine Rolle. Neben den bereits bekannten Nibelungenlied-Spezialisten bleibt vor allem Johann August Zeune (1778 – 1853) zu erwähnen. Ab 1810 hatte der mehr als Gründer der Berliner Blindenanstalt bekannte Geograf eine Professur in Berlin inne. Hier hielt er von 1811 bis 1821 auch Vorlesungen über deutsche Sprache und Literatur. 1813 legte er eine Prosaübersetzung des Nibelungenliedes vor, die auch Eingang fand in eine „Feld- und Zeltausgabe“ für den patriotisch-militärischen Gebrauch.  Zeune bot neben seinen Vorlesungen an der Berliner Universität auch öffentliche Vorträge an. Bei einer Vortragsreise im Jahre 1816 sprach er in Frankfurt vor mehr als 300 Zuhörern. Es muß im Rahmen dieser Reise gewesen sein, dass er auch in Worms über das Nibelungenlied gesprochen hat.19  Nach Benecke in Göttingen und von der Hagen in Berlin folgten weitere Germanistikstühle in Breslau, 1817 für von der Hagens Mitarbeiter Johann Gustav Büsching (1783 – 1829), und 1819 in Heidelberg für Franz-Josef Mone (1796 – 1871). Um 1820 liefen die Lehrstuhlbesetzungen mit Generalisten wie Schlegel und im gewissen Sinne auch von der Hagen aus; es folgten Spezialisten der Grimm-Lachmannschen Schule. Damit trat die Popularisierung des Nibelungenstoffs mit Hilfe der Wissenschaft in den Hintergrund. Mit de la Motte Fouqué begannen ab 1808 die Dramatisierungs-Versuche des Nibelungen-Epos, wie sie von der Hagen gefordert hatte. Es folgten Raupachs „Nibelungenhort“ (1834), Geibels „Brunhild“ (1857) und schließlich Hebbels Trilogie von 1862. Bereits 1844 hatte der Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer auf die Schwierigkeit dieses Unterfangens hingewiesen: „Man gebe diesen Eisen-Männern, diesen Riesen-Weibern die Beredsamkeit, welche das Drama fordert, die Sophistik der Leidenschaft, die Reflexion, die Fähigkeit, ihr Wollen auseinanderzusetzen, zu rechtfertigen, zu bezweifeln, welche dem dramatischen Charakter durchaus notwendig ist: und sie sind aufgehoben; ihre Größe ist von ihrer Wortkargheit, ihrer wortlos in sich gedrängten Tiefe, ihrer Schroffheit so unzertrennlich, dass sie aufhören, zu sein, was sie sind, und doch nicht etwas anderes werden, was uns gefallen und erschüttern könnte.“20 Dieses Problem, das von mythischen Bildern und Strukturen gesteuerter Epos für die Bühne als Schauspiel zu bearbeiten, besteht bis heute. Die seit dem bürgerlichen Trauerspiel der Aufklärung übliche Psychologisierung schafft ein Innenleben der Figuren, das nicht nur neu ist, sondern oft auch in Widerspruch gerät zur überlieferten Handlung und den sie steuernden Archetypen. Dadurch entstehen Brüche, Seitenpfade, die mehr verwirren als erklären. Moritz Rinkes Bearbeitung von 2002 für die Nibelungenfestspiele in Worms hat daher manche Schwächen im zeitgenössischen Subtext der Figurenmotivation, so die Andeutung einer Verwandtschaft zwischen Kriemhild und Ulrike Meinhof, aber auch große Stärken in der Verknappung der Szenen und Dialoge, die dadurch nicht nur vielen Inszenierungsmöglichkeiten Raum geben, sondern sich auch an die „Wortkargheit“ der mythischen Helden anschließen. Das epische Element eines Erzählers oder Sängers wie in diesem Jahr bei der Rinke-Hebbel-Montage Dieter Wedels tut dem Stoff aus dem gleichen Grund gut. Schwierig bleibt die Dramatisierung des zweiten Teils, da die Einbahnstraßen-Dramaturgie von Kriemhilds Rache- anders als die Hofintrigen im ersten Teil -  kaum Raum bietet für retardierende Momente, die die Handlung weniger vorhersehbar und dadurch mehrdeutig und spannend machen. Es wäre daher durchaus denkbar, bei zukünftigen Bearbeitungen nicht nur nach neuen Autorenperspektiven zu schauen, sondern auch nach wortarmen Theaterformen aus fremden Theatertraditionen wie dem asiatischen Maskentheater oder den Spektakel-, Tanz- und Operninszenierungen freier Ensembles, die stärker im Bildhaften arbeiten. Der durch die Wormser Festspiele ausgelöste post-nationale Nibelungen-Boom auf der Bühne, im Film und im Roman beweist allemal, dass der weniger philologisch-akademische Blick von der Hagens auf den Nibelungenstoff, der sich aus den Traditionen von Humanismus und Aufklärung speiste, Potenziale der hochmittelalterlichen Texte aufgedeckt hat, die bis heute wirksam und zugleich noch immer unerprobt sind.



1 Minerva,1811,Berlin, zitiert nach: Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, Paderborn, 2003, S.221, Anm.45 unten

2 nach: Eckhard Grunewald, Friedrich Heinrich von der Hagen, Berlin 1988, S. 18

3 nach: Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, S. 220

4 nach: Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Band 1,München 1987, S. 401

5 nach: Wikipedia-Artikel  zu Myller

6 nach: Grunewald, S. 39

7 nach: Grunewald, S. 45

8 nach: Grunewald, S. 54

10 nach: Grunewald, S.57

11 nach: Grunewald, S. 60

12 Weimar, S.228/229

13 Weimar, S.233

14 Ludwig Kalisch, Streifzug durch die Narrhalla, Berlin 1974, S.144-146

15 nach: Grunewald, S. 17

16 nach: Grunewald, S. 23

17 nach: Grunewald, S.1

18 Grunewald, S. 1

19 nach: Weimar, S. 224, Anmerkung 60, Quellenverweis auf: Albert Schott, Geschichte des Nibelungen-Liedes, in: Deutsche Vierteljahresschrift 2 Heft 1843, Stuttgart/Tübingen 1843, S.173-242; S. 209

20 nach: Hartmut Reinhardt, Tanz mit Tod und Teufel – Über Heldenbilder und Nationalmythen in den Nibleungen-Dramen seit Fouqué, in:  Die Nibelungen in der Moderne, hrsg. von Gerold Bönnen und Volker Gallé, Worms 2004, S.9