ATTILA
UND ETZEL
Was man von den Hunnen erzählt



von Volker Gallé

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Etzel sendet Botschaft nach Worms, ..
Hundeshagen Handschrift, 15. Jh.
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Die Hunnen richten Blutbäder an, sind zu Pferd tückisch schnell wie ein Pfeil – und äußerst schlecht gekleidet. Für den römischen Geschichtsschreiber Marcellinus waren sie nicht nur „die furchtbarsten aller Krieger, weil sie im Nahkampf mit der Waffe ohne Rücksicht auf sich selbst fechten“, sondern auch optisch ein Grauen. Das Reitervolk nahe des Eismeeres, schrieb er, trägt Gewänder, die aus Fellen von Waldmäusen zusammengenäht sind, und schützt seine Beine mit Ziegenfellen. Was für Marcellinus als eine barbarische Erscheinung galt, ist heute ein Trend: Eiszeit-Chic heißt das Mode-Thema für den Herbst 2003...Die Designer haben die Wildnis entdeckt, und überetzen sie in eine neue Mischung aus Folk, Fantasy und Military...Gefeiert wird der einsame Wolf, der Einzelkämpfer.“

So zu lesen in der „Welt am Sonntag“. Da die Hunnen nicht vom Eismeer stammen, sondern aus Mittelasien und sich irgendwo zwischen dem Pamir (Tadschikistan/Mongolei) und der Ukraine aus Nomadengruppen zu einem Kriegsheer zusammengefunden haben – das Eismeer liegt etwa 3000 km weiter nördlich - , sie der Propaganda früherer Zeiten weniger als Einzelkämpfer denn als Horden angsteinflößend waren und Ammianus Marcellinus, der Ende des 4. Jahrhunderts eine 31-bändige Geschichte des Römischen Reiches verfasst hat, wahrscheinlich nie einen Hunnen gesehen – sagt der Text – wie so häufig in der Rezeption – mehr über unsre heutige Zeit als über die historischen Hunnen aus. Aber dazu später noch einmal.

In einem Interview spiegelt der amerikanische Sprachwissenschaftler und Kriegskritiker Noam Chomsky die Debatte um Saddam Hussein in dem seit Jahren geläufigen Vergleich von Saddam als „Reinkarnation von Attila dem Hunnen“. Grausamer Diktator, Asien, unbarmherzige Krieger ohne Todesfurcht, Bedrohung des Westens – das sind die Versatzstücke dieses Bildes. Interessant übrigens, dass die Deutschen – spätestens seit der Hunnenrede Kaiser Wilhelm II. beim chinesischen Boxeraufstand 1900 – selber im Westen „huns“ genannt werden, obwohl sie sich ihrerseits als Bollwerk gegen östliche Horden verstehen. Die Entmischung der östlichen Steppenvölker, zu denen Germanen, Slawen, Hunnen, Mongolen, Ungarn, Türken etc. gehören, diese Entmischung, die z.B. mit einer „Nordisierung“ der Germanen einhergeht, ist also – wie so vieles – ein Propagandaakt des 19. und 20. Jahrhunderts. Andrerseits stellt sich in der Tat die Frage, ob Attila ein Warlord wie Saddam war, der eine von imperialen Interessen Roms angeregt und gestützt, der andere von imperialen Interessen der USA. Vielleicht aber war Attila schon einen Schritt weiter, ein Staatsmann, der in einer Art „Pax hunnica“ im zerfallenden spätrömischen Reich für Integration und öffentliche Ruhe sorgte, zumindest bei seinen Verbündeten und in seinem Herrschaftsbereich.

In der Überlieferung zu Attila jedenfalls – so hat es der Germanist Helmut de Boor 1932 erstmals zusammengetragen – gibt es drei Stränge, zwei negative, nämlich den nordischen und den romanischen, und einen positiven, nämlich den westgermanischen, der sich in der mittelalterlichen Epik widerspiegelt (Nibelungenlied und Dietrichsepik) sowie vor allem in Ungarn fortsetzt und erhalten hat.

Im lateinischen Waltarius (9. oder 10. Jh.), im Nibelungenlied (um 1200) und im Rosengartenlied (13. Jh.), also etwa 400 Jahre lang, ist Attila/Etzel ein toleranter und höfischer Staatsmann Der Waltharius z.B. beginnt (Zeile 1 bis 10) mit einer Beschreibung eines hunnischen Landfriedens, der nur der „Pax romana“ vergleichbar ist:

Brüder, ein Drittel des Erdkreises trägt den Namen Europa,

welches mancherlei Völker nach Sitte, Sprache und Namen

scheidet, ferner nach Tracht und den Göttern , die sie verehren.

Wohlbekannt ist Pannoniens Volk in der Zahl der Bewohner,

das wir jedoch die Hunnen zumeist gewohnt sind zu nennen.

Dieses tapfere Volk, durch Kriegsmut und Waffentat glänzend,

unterwarf nicht allein die ringsum liegenden Länder,

sondern es drang auch vor zu des Ozeans Küstengestaden,

dem, der sich beugte, Bündnis gewährend, Empörer bezwingend.

Länger als tausend Jahre, so heißt es, währt ihre Herrschaft.“

Da wäre die Idee vom ewigen, tausendjährigen Frieden, die Mischung der Völker und das römisch-imperiale Prinzip: „dem, der sich beugte, Bündnis gewährend, Empörer bezwingend“. Im Nibelungenlied wiederholt sich dieses Bild, so z.B. in der 22. Aventiure „Wie Kriemhild von Etzel empfangen wurde“ (Strophe 1338 und 1339):

Vor Etzel sah man auf den Straßen viele kühne Ritter ganz unterschiedlicher Sprachzugehörigkeit reiten, eine große Menge Christen und Heiden...Viele Russen und Griechen waren dabei; Polen und Walachen sah man geschwind und kräftig auf ihren vorzüglichen Pferden vorbeireiten. All ihre Bräuche pflegten sie.“

Und dass Etzel auch persönlich ein höfischer Fürst war, beweist seine Gastfreundschaft, die auch schweren Konflikten standhält, so z.B. als Volker von Alzey bei einem Turnier einen hunnischen Ritter tötet. Etzel beschreibt den Vorfall als Unfall (Strophen 1895-1897):

Einem Verwandten des Hunnen, den er (Etzel) bei dem Getöteten stehen sah, riß er ein großes Schwert aus der Hand. Damit trieb er alle zurück; denn er war sehr zornig: „Wie würde ich meine Gastpflicht gegenüber diesen Helden verletzen, wenn ihr hier in meiner Gegenwart diesen Spielmann erschlüget“, sagte König Etzel, „das wäre Unrecht. Ich habe sehr wohl gesehen, wie er geritten ist, als er den Hunnen erstach, und dass es ohne seine Schuld beim Straucheln des Pferdes geschehen ist. Ihr müsst meine Gäste in Frieden lassen.“

Die Salzburger Germanistin Margarethe Sprigneth beschreibt den Hunnenhof in ihrem Aufsatz von 1996 so: „Sein Hof ist eine begehrte Ausbildungsadresse für die nachkommende Rittergeneration. Die offensichtlich gewaltfreie Koexistenz von Christen und Heiden demonstriert die religiöse und weltanschauliche Toleranz des Herrschers. Etzels Hofhaltung scheint vorbildhaft und erfüllt wie andere idealtypische Höfe der mittelhochdeutschen Epik die zeitgenössischen literarischen Standards.“ (S. 36/37) Etzel sei mit Karl oder Artus vergleichbar (S.36). Dazu passt der gotische, also germanische Name Attila, der nichts anderes als Väterchen bedeutet. Allerdings lässt das Nibelungenlied auch diesen scheinbar vorbildlichen Hof scheitern. Den Untergang der Burgunder und eines großen Teils der Hunnen kann auch der höfische Attila nicht verhindern.


Von der Literatur zur Geschichtswissenschaft: Dass zu Attilas Reich und Heer andere Völker, ja im wesentlich vermischte Gruppen – und wir wissen heute, dass es sich bei den Völkern des 5. Jh. eher um ethnisch gemischte Kriegergruppen handelte als um kulturell und sozial einheitliche Ethnien – dass zu Attilas Reich und Heer nicht nur Hunnen gehörten, beschreibt auch der Historiker Gerhard Wirth in seinem Atillabuch von 1999: „Neben Hunnen und anderen Stämmen ihres Untertanenverbandes, Goten, Gepiden, Skiren, gehörten zu diesem Heere auch Kontingente der Thüringer, dazu sicher Slaven aus dem Umfeld. Es wäre denkbar, dass die archäologisch fassbaren hunnischen Enklaven in Polen, Schlesien und der Slovakei zusätzlich auch als Aushebungs- und Werbezentren fungierten.“ (S.99)

Attila herrschte von 445 bis 453, die Hunnen bewegten sich ab 375 Richtung Mittel- und Westeuropa. Über diese Zeit gibt es nur römische oder griechische Quellen, eine hunnische Perspektive fehlt völlig. Aus der allgemeinen Rezeptionsgeschichte der antiken Quellen wissen wir, dass dort nicht nur Eigenbilder auf die Fremden übertragen (Interpretatio romana) und politische Propaganda betrieben wurde, sondern das man auch literarische Topoi wie den von den Barbaren einfach wiederholte, ohne sie mit aktuellen Informationen zu vergleichen. Um so wichtiger ist also eine Bewertung der Quellen. In der Regel werden die Quellen als glaubwürdiger angesehen, die direkt aus der Zeit des Geschehens stammen und deren Autoren am Ort des Geschehens waren. Als „zuverlässig und unvoreingenommen“ (Springeth S. 30) gelten daher vor allem die Berichte des Byzantiners Priskos, der im Jahre 449 als Mitglied einer oströmischen Delegation längere Zeit am Hunenhof weilte und Attila persönlich kennengelernt hat. Persönliche Kenntnis hatte auch Cassiodor, der spätere Berater König Theoderichs. Der oströmische Geschichtschreiber Jordanes dagegen hat diese beiden Vorlagen 90 Jahre später in seine Geschichte der Goten übernommen und bearbeitet.

Der Hof Attilas und seien Kultur waren, wie Wirth und Howarth, dessen Attilabiografie von 2001 stammt, mit Blick auf die frühen Quellen übereinstimmend urteilen, römisch, bzw. griechisch geprägt. Persönlich, so Priskos, habe sich Attila durch seine Vorliebe für ein schlichtes Gewand vom Pomp seiner Umgebung abgehoben. Howarth weiter: „Er zeigte sich als fürsorglicher Vater und seiner Frau räumte er einen würdevollen Platz an seiner Seite ein. Seine engsten Freunde waren ihm restlos ergeben...Den Botschaftern gegenüber war er höflich und auch mit den Finessen der Diplomatie vertraut, selbst wenn er deutlich machte, dass er nur den, der die Gesandten geschickt hatte, als in jeder Hinsicht mit ihm gleichgestellt betrachten konnte. Er besaß Größe genug, nach einem Sieg Großzügigkeit walten zu lassen, selbst gegenüber einem korrupten und kriecherischen Möchtegernattentäter.“ (S. 99/100)

Im Nibelungenlied also und der mittelhochdeutschen Epik allgemein spiegelt sich also das Bild der authentischen frühen Quellen und die Perspektive der mit Attila verbündeten Germanen. Darin ist er vom Warlord bereits aufgestiegen zu einem imperialen Herrscher. In Mitteleuropa ist dieses Bild weitgehend untergegangen und wird erst durch die nach 1968 sich ständig verstärkende Kritik des Kolonialismus allmählich wiederbelebt. Erhalten hat es sich dagegen über alle Jahrhunderte hinweg in Ungarn, wo die historischen Hunnen ihren Siedlungsschwerpunkt hatten. Der Westen reiht die Ungarn (10. Jh./955 Sieg Ottos des Großen über die Ungarn auf dem Lechfeld) wie die Hunnen, Mongolen und Türken in die Reihe der Bedroher aus dem Osten ein, aber die Ungarn haben – anders als die Hunnen - eine eigene Überlieferung bilden können. So heisst es in einer ungarischen Quelle von 1358: „Die Magyaren, d.h. die Hunnen, haben auch zum 2. Mal Pannonien erobert. Der Herr hat also den Magyaren Pannonien zurückgegeben, so wie zur Zeit des Moses den Söhnen Israels sämtliche Ländereien des Kanaan vererbt wurden“ (Istvan Nemeskürty, 1996, S. 24). Die Ungarn sprechen von einer 2. Landnahme. Die Abstammung der königlichen Arpaden wurde von Attila hergeleitet. Debatten zu diesem Thema gab es allerdings hin und wieder zwischen Adel und Klerus. Letzterer stellte dem Heiden Attila den christlichen König Stephan gegenüber. Im 15. Jh. (Howarth, S. 235), als Ungarn unter König Matthias Corvinus bis Böhmen expandierte, erlebte der Attilamythos eine neue Blüte. Auch in der Abwehr der Türken um 1670 wurden die Hunnen als Vorbild bemüht. „Ein bedeutendes Ereignis im kulturellen Leben Budapests war 1993 die Aufführung der Rockoper Attila“, berichtet Howarth (S. 237) schließlich. Und der Vorname Attila ist heute noch in Ungarn (siehe den Jazzer Attila Zoller) und in der Türkei (Torjäger von Türkgücü/Kreisliga Worms 02/03 = Attila Acar) beliebt.

Felix Dahns immer wieder verfilmter Roman „Kampf um Rom“ (1876) stellt die andere Seite dar. Dort sind es zwar die Goten unter Theoderich, die das spätantike Westrom erobern, aber in Italien erinnert man sich daran mit den gleichen Bildern und dem gleichen Schrecken wie an die hunnische Plünderung der antiken Stadt Aquileia, nördlich von Venedig. Für Westrom waren Germanen und Hunnen keine wesentlichen Unterschiede, zumal sie immer wieder in Bündnissen auftraten. Bei beiden Gruppen versuchte man zu zivilisieren. d.h. sie als Warlords gegen Feinde Roms einzusetzen und an den Grenzen anzusiedeln. Bis die Warlords der imperialen Strategie aus dem Ruder liefen und Rom heimsuchten.

Das Hunnenthema wurde im Italien der Renaissance wieder aufgenommen. „Zwischen dem ersten Viertel des 16. Jh. und 1632 sind etwa 20 Auflagen eines Werkes mit dem Titel „La Guerra D’Attila, Flagello die Dio“ (Der Krieg Attilas, Geißel Gottes) erschienen.“ (Howarth, S. 215) Das Bild von der „Geißel Gottes“ stammt übrigens von Isidor von Sevilla (560 –636, also über 100 Jahre nach Attila), geht auf den Propheten Ezechiel (7,10) zurück und verbindet sich mit dem Mythos vom Antichristen. Der Renaissanceautor Barbieri behauptet, Attila sei der Sohn eines Hundes und der Tochter eines ungarischen Königs gewesen, der wegen seiner Christenverfolgung berüchtigt war. Als Hintergrund der venezianischen Mode wird die Spiegelung der Zerstörung von Aquileia durch die Hunnen in der Bedrohung Venedigs durch die Türken vermutet. Attilabilder aus dieser Zeit zeigen ihn mit „kurzen Haaren, langen Ohren, einem Ziegenbart und einem herabhängenden Schnurrbart...Aus seinem Kopf wachsen zwei Ziegenhörner.“ (Howarth, S. 216) Fast wie der Teufel also.

1647 führen Schüler der königlichen, von Jesuiten geleiteten Schule von Rouen das Drama „L’Epée fatale ou le fléau d’Atiila“ (Das tödliche Schwert oder die Geißel Attila) auf. Die Legende vom unbesiegbaren Schwert Attilas - das erinnert sowohl an Siegfried als auch an die Artuslegende - stammt von Jordanes (Mitte 6. Jh., etwa 90 Jahre nach Attilas Tod). 20 Jahre nach der Aufführung von Rouen schreibt Pierre Corneille ein Attiladrama (1667/ 20 Aufführungen durch Moliére im Theatre Petit Bourbon). Darin schildert er ihn ganz treffend auf dem Weg vom Warlord zum Staatsmann. Dass er in der Überlieferung antichristliche Züge angenommen hat, führt Corneille darauf zurück, er könne wie die ihm verbündeten Goten Arianer gewesen sein. Als Problem stellte sich allerdings heraus, Attila in die Hauptperson einer Tragödie zu verwandeln: „Er war weder Christ noch alter Römer oder eine Gestalt aus der griechischen Mythologie. Er vertrat nicht einmal eine Sache, mit der sich das Publikum identifizieren konnte.“ (Howarth, S. 219)

Die nordische Tradition der Attila-Rezeption, die kaum auf historischen Originalkenntnissen beruhen kann, schildert den Hunnenkönig als goldgierigen, triebhaften Gewaltmenschen. In der „Edda“ (13. Jh./ob die Texte mündlich überliefert und damit älter sind, ist strittig, aber für unseren Fall auch unerheblich, da es spätantike Quellen gibt), in der „Edda“ beispielsweise tötet Atli Gudruns, d.h. Kriemhilds Brüder und wird dafür von ihr und Högnis Sohn erschlagen. Diese Überlieferung fußt offenbar auf der Geschichte vom Tod des betrunkenen Attila in der Hochzeitsnacht mit einer Burgunderprinzessin namens Hildiko (Kriemhild?). Erste Kerne dieser Geschichte erzählt Marcellinus, ausführlich wird dann Jordanes Mitte des 6. Jh. Vermutet wird hier als Hintergrund der Sage eine Rachegeschichte der Germanen, die sich von den Hunnen trennten oder zu ihren Gegnern wurden wie eben die Burgunder.

In der europäischen Literatur des 18. und 19. Jh. gibt es mehrere Attilabearbeitungen. Der Wiener Hofdichter Pietro Metastasio, der aus Assisi stammte, schrieb ein Aetius-Drama - Aetius war der Gegenspieler Attilas, der als römische Geisel am Hunnehof gelebt hatte. Dieses Aetius-Drama wurde 1732 im Theatre Royal am Londoner Haymarket aufgeführt. 100 Jahre später, 1832, wurde die Attila-Tragödie von Zacharias Werner ebenfalls in London auf die Bühne gebracht. Darin ist Attila ein gnadenloser Tyrann. Erfolgreich wurde die 1846 in Venedig (Teatro Fenice) uraufgeführte Attila-Oper Verdis, die in Aquileia nach dem Hunnensieg spielt. Verdi belebt die Legende von Papst Leo, der Attila nur durch Worte zur Umkehr aus Italien bewegt habe und spielt damit auf patriotische Gefühle seines Publikums und die Befreiung Italiens aus österreichischer Herrschaft an. „Howarth: „Für das zeitgenössische Publikum hatte diese Szene politische Bedeutung. Denn unter den Anhängern des Risorgimento war die Meinung weit verbreitet, dass Italien seien alte Größe nur unter einem liberalen Papst wiedererlangen konnte.“ (S. 224) Attila ist der Feind Italiens und wird am Ende besiegt, getötet.

Elf Jahre später, 1857 wird in Weimar Liszts „Die Hunnenschlacht“ – das meint die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern - uraufgeführt. Der hat das Thema laut einem Brief gewählt, weil er „reichlich Blech“ brauchte (Howarth, S.226). Vor allem den Ritt der Hunnen bezeichnet Howarth als geeignet für Filmmusik. 1917 wurde erstmals ein Hunnnfilm gedreht, und zwar in Italien. Anfang der 20er Jahre folgten Fritz Langs „Nibelungen“ in Deutschland, die aufgrund des Drehbuchs seiner später bei den Nazis engagierten Frau Thea von Harbou bei den Hunnen das rassistische Raster „asiatischer Untermensch“ bedienen, ein Thema für sich, weil der aus dem katholischen Wien stammende Lang durchaus nationale Perspektiven mit seinem Film verband, dann aber wegen seiner jüdischen Abstammung in die USA emigrieren musste.

1954 spielt Anthony Quinn die Hauptrolle in einer frz-it. Filmproduktion unter dem Titel „Attila, die Geißel Gottes“. Darin ist Aetius ein blasser, überzivilisierter Römer, Papst Leo der christliche Retter und Attila ein jugendlicher Macho-Rebell, eine typische Quinn-Rolle, die auch in den Rock’n-Roll der Zeit passt. Diese Kriegerrolle kehrt heute wieder, wenn wir uns an das Modezitat vom Anfang erinnern und sie passt zum Grundmuster des globalen Neoliberalismus (der Einzelkämpfer). Sie kann aber auch mit Rebellion aufgeladen werden, so z.B. durch kulturelle Zitate aus dem Migrantenmilieu oder aus außereuropäischen Kulturen. Die Mittelalterband „Corvus Corax“ z.B. kleidet sich durchaus hunnisch, benutzt im Haarschnitt Glatze und Zopf, und bemüht archaische Musikelemente, u.a. mit Dudelsack und Trommel, aber eben nicht mit germanischer, sondern mit schottisch-keltischer Assoziation, was die Brücke zur Bikerszene möglich macht. 1998 übrigens ist auch ein historischer Attikaroman von Thomas R.P. Mielke bei Bastei Lübbe erschienen, ganz im Trend der Fantasy- und Rollenspielszene. Das Modezitat vom Anfang zeigt den Leerlauf dieser Wunschmaschine, die sich auch in Rinkes Nibelungen wiederfindet. Die RAF-Fantasien der Generation Golf träumen die Rebellion, zu der man sich selber nicht imstande sieht, warum auch immer. Daher die Oberflächlichkeit Kriemhilds und Giselhers, die von manchem Feuilleton so sehr beklagt wurde. Rinke spiegelt die Situation einer Generation. Und die Spiegelung führt in den Untergang, schließlich. Ein anderes Beispiel, wie die Kriegerrolle wieder aktiviert wird, ist die literarische Demonstration des virilen und vitalen Rebellen, wie sie z.B. der türkischstämmige Schriftsteller Feridun Zaimoglu in seinem Buch „Kanak Sprak“ entworfen hat (S.Gaschke, Zeit 21.8.2003, S.3). Auch das wiederholt die Geschichte. Die Black Panther um Eldridge Cleaver (Seele auf Eis) haben das selbe Spiel des supermaskulinen Kerls schon mal durchgespielt, allerdings nicht literarisch, sondern politisch und verloren: die Gewalt in dieser Gestalt hat die im rebellischen Impetus verborgene Solidarität, vor allem zu Frauen, Kindern und Alten, verraten.

Wenn der rebellierende Naturbursche wie der Warlord und der imperiale Staatsmann also skeptisch betrachtet werden müssen, nicht nur mit Blick auf den Missbrauch des Heldenbilds durch die Nazis, und dazu auch die skeptische Sicht des Männerbunds gehört, der ja auch der Demokratie ursprünglich zugrunde liegt, wie kann dann eine Revision des Attilabildes vorankommen, wie sie derzeit in der Forschung über die Steppenvölker geschieht? Zuerst einmal muss man die Volksvorstellungen des 19. Jh. revidieren: die Warlords, ob Germanen oder Hunnen, waren keine Stämme im Sinn der Ethnologie und auch keine Völker, sondern nach römischem Vorbild gestrickte Kriegergruppen. Dann muß der imperiale Friede auf den Prüfstand. Wenn es ihm nicht gelingt, kulturell kreativ zu werden, d.h. Kulturen zu vermischen, zu kreolisieren – was abseits der offiziellen Politik sowieso geschieht und die Geschichte antreibt -, wird seine Zivilisation an Bürgerkriegen und anderen Konflikten zerbrechen. Dem Einzelkämpfer schließlich fehlt das soziale Netz, die Kommunikation und Moderation gesellschaftlicher Prozesse. Alles in allem wird ein stärkeres Augenmerk für die Kultur benötigt, genauer gesagt ein Dialog der Kulturen, um Politik überhaupt möglich zu machen. Dafür also und nicht für eine späte Verherrlichung oder modische Zitierung Attilas ist eine Betrachtung und Revision des europäischen Attilabildes nützlich.

Und dass es bis dahin noch ein weiter Weg ist – das hat unsere Umfrage unter den WZ-Lesern gezeigt. 91 haben sich an der Umfrage zu Etzel beteiligt. Davon hat die Mehrheit, nämlich 35, das traditionelle Bild, also die nordische und romanische Tradition, des grausamen Herrschers angekreuzt. 28 sahen einen leidenden Vater und 20 einen verliebten Narren – das ist vor allem Rinke, der Etzel im Rückzug auf die Familienrolle zeigt – und nur 8 den toleranten Herrscher, wie er vom mittelhochdeutschen Nibelungenlied gezeichnet wird. Aber wie sie gesehen haben, sind wir mit dem neuen Bild vom keineswegs finstren, sondern durchaus rationalen und diplomatischen Mittelalter – wie es Gerd Althoff, Jan-Dirk Müller und Otfried Ehrismann in die Diskussion gebracht haben – keineswegs am Ende der verstörenden Debatte über Gewalt und der Frage, ob es den in Zukunft auch anders gehen könnte, z.B. über kulturellen Dialog, und wenn ja, wie sich denn dann die Politik verhalten müsste, um das zu befördern. Attila jedenfalls ist keine Lösung, und schon gar nicht als Modetrend für den Herbst 2003.