Die Nibelungenstadt

Rezeption und Stadtbild in Worms
im 19. und 20. Jahrhundert


von Dr. Gerold Bönnen

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Aufmarsch am Siegfriedbrunnen, 1933, Foto Stadtarchiv



Zur Entwicklung des Stadtbildes
bis zum Einsetzen der Nibelungenrezeption

Vor der Darlegung der Einflüsse der Rezeption auf das Stadtbild ist zunächst ein knapper Überblick über Leistungen und wesentliche Merkmale der Wormser Stadtentwicklung in der Ära des Stadtbaumeisters Karl Hofmann und des bedeutenden Oberbürgermeisters Wilhelm Küchler vonnöten (1885-1898) . In diesen Jahren kam es vor dem Hintergrund einer rasanten Wirtschaftsblüte (vor allem durch die Lederindustrie) zu einer stürmischen Stadtentwicklung und -modernisierung und nachhaltigen planerischen und baulichen Leistungen auf dem Weg zum 'Neuen Worms', wie es sich am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht ohne Stolz präsentiert hat. Politisch dominiert wurde die Stadt bis 1914 von den Nationalliberalen und dabei einer relativ homogenen Schicht von bürgerlichen Honoratioren, die die Modernisierung der Stadt mit ihren um 1900 rund 40.000 Einwohnern stark vorangetrieben haben. Das Vorbild für Stadtbaumeister Hofmann, der 1889 einen umfassenden Stadtbauplan vorgelegt hatte, war die historische Bedeutung der Stadt. Die Größe von Worms als Stadt des Reiches mit dem romanischen Dom als Vorbild, an dessen umfassender Restaurierung Hofmann auch als Dombaumeister hohen Anteil hatte, war für diesen Vorbild, Maßstab und Ansporn seiner Arbeit. In Architektur und Stadtgestaltung erfolgte seit den 1880er Jahren im historisierenden Stil ein ganz bewußtes Anknüpfen an die als vorbildhaft empfundene mittelalterliche Blütezeit, die seit ca. 1870/80 wachsende Beachtung und Würdigung gefunden hatte (1879 Gründung des Altertumsvereins, Bemühungen um die Ordnung des Stadtarchivs ab 1881, Herausgabe einer vierbändigen Stadtgeschichte durch Heinrich Boos ab 1897). Daß dabei lange Zeit das Nibelungenlied keine, die geschichtliche Bedeutung der Stadt selbst dagegen sehr wohl eine Rolle spielten, zeigt etwa ein Blick in das 1886 ausgemalte Gewölbe des Stadtarchivs, das noch keinen Bezug zur Dichtung aufweist, jedoch auf andere Aspekte der Stadtgeschichte (Worms als Lutherstadt, Jüdisches Worms, Städtebünde etc.) eingeht. Im neuen Rathaussaal der 1880er Jahre wurde ein Gemälde aufgehängt, das die Übergabe der bekannten Urkunde König Heinrichs IV. an die Wormser im Jahre 1074 zum Thema hatte.

Die Einflußnahme der Nibelungenrezeption
auf das Stadtbild bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs (ca. 1890-1914)

Fragt man nun, seit wann eine Rezeption der um 1200 entstandenen mittelalterlichen Dichtung, die der unbekannte Verfasser zum großen Teil am sagenumwobenen Hof der Burgunder in Worms angesiedelt hat, in der späteren Nibelungenstadt überhaupt faßbar ist, so wird man ernüchtert feststellen, daß erst ganz spät Zeugnisse für ein solches Selbstverständnis vorliegen. Im Grunde ist eine lokale Aufnahme und Vereinnahmung der Dichtung bzw. ihre Wirkmächtigkeit nicht vor 1889/90 nachzuweisen - erstaunlich genug, bedenkt man, daß in verschiedenen Orten des Odenwaldes bereits vor der Jahrhundertmitte der Bezug auf die Stelle der Ermordung Siegfrieds durch Hagen in Gestalt einer Reihe von Siegfriedsbrunnen und anderen Örtlichkeiten nachweisbar ist . Greifbar wird ein Bezug erst anläßlich der Einweihung des als Stätte deutschsprachigen Volkstheaters geplanten und gebauten Städtischen Spiel- und Festhaus 1889 unter Anwesenheit Kaiser Wilhelms II. Er nahm in seiner Rede explizit auf Worms als Stadt der Nibelungendichtung Bezug und gab damit lokalen Bestrebungen und Ansätzen, die sich bis dahin erst in Straßenbenennungen u.a. manifestiert haben, weitere Impulse . Der Bezug auf die Nibelungen war dabei durch die Werke von Richard Wagner gleichsam gefiltert und in eine bestimmte Rezeptionsrichtung verschoben. An eine eigenständige lokale Überlieferung oder in bildlichen Quellen faßbare Tradition konnte man kaum anknüpfen - ein Zeichen für das Ausmaß, in dem Worms bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein beschauliches Dasein als hessische Landstadt führte. Die Aufnahme der Thematik erfolgte von vornherein eingebunden in den Zusammenhang des von den Werken Wagners so nachhaltig beeinflußten Nationalmythos und war von diesem folglich nicht zu trennen. Zu bedenken ist dabei, daß in einer anderen Nibelungenstadt, in Passau, zur gleichen Zeit (ab 1888) mit der repräsentativen Ausmalung des Rathauses Motive des Nibelungenliedes aufgegriffen und popularisiert wurden . Es ist vielleicht kein Zufall, daß in Worms kurz darauf, im Jahre 1890, die Planung des ersten öffentlichen Bauprojekts, eines denkmalartigen Monumentalbrunnens mit stadtbildprägender Wirkung an der zur Neuordnung anstehenden Stelle Hagenstraße/Marktplatz nachweisbar ist (Grundfläche ca. 18 x 18 m), das erste Zeugnis einer bewußten Nibelungenrezeption vor Ort bzw. eines entsprechenden baulichen Zeugnisses. Der als Stifter auftretende, 1886 nobilitierte Lederindustrielle Cornelius Wilhelm von Heyl, als Nationalliberaler politisch (Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, Reichstagsmitglied, Mitglied der 1.Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen) die führende Kraft und auf kulturellem Gebiet sehr stark als Mäzen und Förderer engagiert, wurde fortan zu einem besonderen Protagonisten des Nibelungengedankens. Kein geringerer als Stadtbaumeister Hofmann selbst wurde zunächst mit dem Projekt betraut. In seinem Erläuterungsbericht vom Januar 1891 betonte er, es gelte, diejenigen Formen anzuwenden, in welchen sich zur Entstehungszeit der Nibelungensage der deutsche Sinn am reinsten ausgesprochen hat. Formen, welche an die der ehrwürdigsten Zeugen aus romanischer Zeit anklingen . Die Planung sah als sichtbaren Zielpunkt für eine der Hauptverkehrsadern der Stadt einen mit vier großen Bildwerken zu den 'vier Haupthandlungen der Nibelungensage' versehehen, von einer Siegfriedfigur bekrönten Aufbau vor. Der Standort war von herausragender stadtbildprägender Bedeutung. Geplant war die Anlage neben der Dreifaltigkeitskirche im geplanten Erweiterungsbereich des Rathauses direkt am Marktplatz und damit in zentraler innerstädtischer Lage. Warum das Vorhaben zunächst in der Versenkung verschwunden ist und die angekündigten Ansichten des Denkmals nicht angefertigt worden sind, ist unklar. Erst später wurde die Idee - allerdings erheblich kleiner - wieder aufgegriffen und als Siegfriedbrunnen verwirklicht, der nach kriegsbedingten Verzögerungen 1921 zur Aufstellung kam. Deutlich wird, wie wenig sich das 'Nibelungische' von der allgemeinen Tendenz zum historisierenden Bauen, in Worms verstärkt durch den Rückbezug auf die Romanik des Domes, trennen und unterscheiden läßt. Daß hier die nordischen Sagenmotive weitaus stärker im Mittelpunkt standen als das Nibelungenlied in seiner Eigenschaft als literarisches Zeugnis des Hochmittelalters läßt schon das Ausmaß des Einflusses der spezifischen Wagnerschen Nibelungenrezeption auf die frühen Wormser Vorstellungen erkennen.

Wenige Jahre nach diesem ersten Vorstoß konnten - kurz nach Hofmanns Wechsel auf die Architekturprofessur an der TH Darmstadt 1897 - zwei seiner Projekte in Worms vollendet werden, die schon bald nach ihrer Fertigstellung im Frühjahr 1900 mit dem Begriff 'Nibelungenstil' belegt wurden.

Es handelt sich dabei um die im März 1900 eingeweihte Rheinbrücke (Ernst-Ludwig-Brücke) mit ihren beiden markanten Brückentürmen und die sogenannte 'Nibelungen-schule' an der Rheinfront, die gleich einem monumentalen Stadttor stadtbildprägend ausgeführt wurde. Die seither viel verwendete Bezeichnung stammt - dies hat Fritz Reuter mit Recht betont - nicht von Hofmann selbst. Als Merkmal der öffentlichen Großbauten der Zeit in Worms ist festzuhalten, daß mit diesen Monumenten ganz allgemein die architekto-nische Heraufbeschwörung einer großen geschichtlichen Vergangenheit verbunden war.
Die Heraushebung als 'Nibelungenstil' ist eine Folge der fortschreitenden Stilisierung der Dichtung zum Nationalmythos und zu seiner Entdeckung als etwas für Worms Spezifisches seit etwa 1890.


Brückenturm (Nibelungenturm), Foto Stadtarchiv Worms

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Zugleich ist die Bauweise Ausdruck des in der Bürgerschaft starken Bewußtseins von der geschichtlichen Größe der Reichs- und Bürgerstadt. Die Hochzeit des neoromanischen, an die spezifische lokale Geschichte anknüpfenden Wormser Stils von Hofmann ging nach dessen Weggang und dem zusätzlichen Einschnitt durch den Wechsel an der Stadtspitze 1898 (von Oberbürgermeister Küchler zu Köhler) zu Ende. Vor dem Hintergrund schärferer politischer Auseinandersetzungen unter den Stadtverordneten begann der neue Baumeister Georg Metzler mit einer Hinwendung zur Moderne, wobei bis 1914 eine Reihe bedeutsamer Bauten des Darmstädter Jugendstils entstanden sind. Ganz eindeutig der zentrale bauliche Mittel- und Bezugspunkt der Wormser Nibelungenrezeption war das Ende 1910 fertiggestellte Cornelianum , nachdem es kurz zuvor beim Bau des 1904 fertiggestellten neuen Bahnhofes Anklänge an die Nibelungenthematik gegeben hatte. Seit Anfang der 90er Jahre wurde die Frage der Gestaltung der bereits im Zusammenhang des Brunnenprojekts skizzierten städtebaulich zentralen Position diskutiert, auch im Hinblick auf eine geplante Erweiterung des sich östlich anschließenden Rathausareals. Seit 1900, kurz nach der Verleihung des Ehrenbürgerrechts an Cornelius Wilhelm von Heyl, nahm das Vorhaben der repräsentativen Schenkung eines Baues an die Stadt durch die Familie konkrete Gestalt an. Anläßlich der Eheschließung seines Sohnes mit Prinzessin Mathilde von Isenburg-Büdingen stiftete von Heyl der Stadt 1907 die Mittel für den Wiederaufbau des in der Franzosenzeit [gemeint ist die Stadtzerstörung von 1689, G.B.] bei dem Stadtbrand zerstörten freirreichsstädtischen Amtshauses als Anbau an das Rathaus, als Symbol der von den Altvorderen übernommenen und in einer stolzen Geschichte sich offenbarenden Kraft des Wormser Bürgertums. Weiter war die Rede vom ununterbrochenen Aufschwung der historisch altberühmten Stadt, die sich durch ihren reichen Sagenkreis und ihre vielen Sehenswürdigkeiten ... den ersten rheinischen Städten würdig anreiht... Neben einem Trausaal und Volksbädern (Ziel war dabei die "Befestigung der sozialen Bande innerhalb der verschiedenen Berufsstände") stand ein Festsaal für größere Veranstaltungen im Mittelpunkt der Planungen. Als Architekt zur Realisierung dieses Konzepts eines "Volkshauses" gewann von Heyl den namhaften Stuttgarter Professor Theodor Fischer, der mit der Stadt einen entsprechenden Vertrag schloß.

Als Thema der reichen ornamentalen Ausgestaltung begegnet das Nibelungenlied (davon erhalten ist in erster Linie das Relief 'Siegfrieds Einzug in Worms'), vor allem in dem nach der Einweihung 1910 bis 1915 von Karl Schmoll von Eisenwerth geschaffenen Wandbilder-Zyklus, die letzte, in der Tradition des 19. Jahrhunderts stehende Bearbeitung des Nibelungen-Themas in dem dann sogenannten Nibelungensaal.

Brunhildes Empfang, Karl Schmoll von Eisenwerth, 1912 ..

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Er fungierte bis 1945 als der repräsentative Festsaal der Stadt schlechthin. Vor dem Gebäude war von Anfang an ein -wie erwähnt - erst nach dem Krieg aufgestellter Siegfried-Brunnen geplant, der bis heute an dieser Stelle steht und die Thematik in Verbindung mit einer strengen Neoromanik nochmals aufgreift.

Neben der baulichen Aufnahme des Nibelungenthemas kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch auf einem anderen Gebiet zur Einbeziehung von lokal verankerter Heldendichtung in die Stadtgestaltung im Falle der sog. Rosenfeste. Diese zwischen Historismus und Volksfest (Fritz Reuter) angesiedelte Veranstaltung fand in den Jahren 1904 bis 1907 jährlich statt und war dem Bemühen um eine die Nibelungenstadt Worms repräsentierende Stadtgestalt entsprungen. Unter Aufnahme einer relativ unbedeutenden mittelhochdeutschen Dichtung des 13. Jahrhunderts, dem Rosengartenlied, wollte man im Stadtpark einen neuen 'Rosengarten' errichten, wozu ein Wettbewerb ausgeschrieben wurde. Das Rosenfest, das nach dem Weggang seines umtriebigen Begründers bald wieder einschlief, umfaßte u.a. Aufführungen von Hebbels 'Nibelungen' im Spiel- und Festhaus. Von den zahlreichen, teilweise sehr krausen Gestaltungsvorschlägen für die Grünanlagen wurde zwar keiner realisiert, das durch die Thematik ausgelöste Interesse ist jedoch beachtlich .

Kurz vor 1914 nahmen dann Pläne eines regelmäßigen Festspiels Gestalt an, die auch aus Gründen des Fremdenverkehrs forciert, jedoch erst in den 30er Jahren wieder aufgegriffen wurden. Auch hier spielte die Familie von Heyl - als Begründer des für die Verkehrswerbung zuständigen, betont bürgerlich dominierten Verkehrsvereins - eine mitbestimmende Rolle. Eher in den Bereich des Skurrilen gehört die ernsthafte Prüfung des kommerziellen Vorhabens eines sogenannten "Nibelungenpanoramas". Immerhin ist kein geringerer als Bürgermeister und Baudezernent Metzler Ende 1909 zur Besprechung über ein solches, stark an Richard Wagner orientiertes "Kollosal-Rundgemälde" (95m lang, 10m hoch) nach München gereist, jedoch verlief die Sache im Sande.

Die Entwicklung von 1918 bis 1945

Die politisch, wirtschaftlich und finanziell katatstrophale Situation in Worms und seinem Umland nach 1918 samt der Belastungen infolge der französischen Rheinlandbesetzung ließen größere öffentliche Bauprojekte (zumal repräsentativen Charakters) ebenso wie anderweitige weitreichende Zukunftspläne ganz in den Hintergrund treten . Erst infolge einer allmählichen Normalisierung der Verhältnisse wagte sich der Verkehrsverein im Jahre 1928 wieder an die Nibelungenthematik heran. Unter dem Titel 'Nibelungenwoche' wurden unter Anknüpfung an die Rosenfeste der Jahre 1904 bis 1907 eine Reihe gefälliger Veranstaltungen zusammengebunden (Aufführungen, Vorträge, der Nibelungenfilm von Fritz Lang etc.). Die Verantwortlichen sahen die Woche, die sich als krasser Mißerfolg herausstellte, als Ausgangspunkt für weitreichende, regelmäßig wiederkehrende Festveranstaltungen, bei denen dem Stichwort "Nibelungen" allerdings eine ganz allgemeine Werbefunktion zugedacht war. Im Umfeld dieser Veranstaltung ist auch die erste Kritik an der Art des Umgangs mit dem Stoff erkennbar, die von dem in Worms bekannten linksalternativen Schriftsteller Peter Bender, der 1942 im KZ ums Leben kommen sollte, schneidend formuliert wurde. Es heißt in einem von Hohn und Spott triefenden, in seiner Art bemerkenswerten Zeitungsartikel zu den Aktivitäten, der das Grundproblem der Wormser deutlich machte: So aber, wie es nun einmal ist, wird sich jedermann außerhalb von Worms fragen, warum er ausgerechnet nach dem heutigen Worms fahren soll, um sich derartige Aufführungen mit etwas Rosen drumherum anzusehen. Etwa deshalb, weil der Nibelungendichter den Hauptschauplatz seiner Dichtung in eine Stadt namens Worms verlegt hat und wahrscheinlich auch das Worms seiner Zeit als landschaftliche Vorlage benutzt? Dann müßte man auch nach Sevilla fahren, um sich den "Barbier von Sevilla" anzusehen oder nach Venedig zu Aufführungen des "Kaufmanns von Venedig? Oder will jemand behaupten, dass Worms wegen des Cornelianums mit Siegfriedchenbrunnen, wegen des Hagenblechdenkmals im Wäldchen und einigen Reliefs im Bahnhof in Sachen Nibelungen etwas Besonderes zu bieten hat (...) Zugleich wandte sich Bender gegen den militärischen Mißbrauch der Nibelungen-Symbole und skizzierte neue, friedliche Deutungsmöglichkeiten der Figuren der Dichtung im Sinne einer echten 'Nibelungen-Renaissance'. Allerdings blieb dies eine Einzelstimme. Bezeichnenderweise nahm auch eine in derselben Zeit aufgrund privater Initiative (wiederum der Familie von Heyl) beauftragte Stadtplanung für Worms aus der Feder des bekannten Architekten Wilhelm Kreis keinen Bezug auf die Nibelungenthematik. Im Stil der Neuen Sachlichkeit legte Kreis um 1928 beeindruckende Planungen für die Gestaltung des Rheinufers (Bau einer Stadthalle u.a.) und die allgemeine Weiterentwicklung der Stadt vor. Die Nibelungenrezeption als Faktor des Stadtbildes hatte in diesem Überlegungen keinen erkennbaren Platz. In derselben Zeit artikulierten sich auch vermehrte kritische Stimmen zur Architektur der Vorkriegsbauten, darunter auch zum Baustil des als nicht zeitgemäß empfundenen Cornelianums. Die tief sitzenden Vorbehalte haben vermutlich auch dazu beigetragen, daß der teilzerstörte Bau nach 1945 nicht wieder errichtet wurde. Ein wesentlicher wissenschaftlicher Ertrag der Beschäftigung mit der Thematik war die 1930 aus dem Nachlaß des 1928 verstorbenen Eugen Kranzbühler herausgebrachte, umfassende und bis heute grundlegende Arbeit zum Thema, die unter dem Titel "Worms und die Heldensage" die ältere Rezeption des Stoffes vielschichtig und sorgfältig untersucht hat .

Daß das Nibelungenthema bereits recht bald nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Worms intensiver diskutiert wurde, ist auf den Mann zurückzuführen, der seit 1933 zum wichtigsten Protagonisten einer starken Instrumentalisierung des Epos wurde, Dr. Friedrich M. Illert, Jahrgang 1892, konservativ-national-katholischer Prägung. Er war nach Kriegsteilnahme und literaturwissenschaftlicher Promotion 1921 Leiter von Stadtbibliothek und Stadtarchiv geworden und brachte es 1934 zum Direktor der sog. 'Kulturinstitute', in denen die kulturellen Institutionen der Stadt zusammenfaßt wurden. Als Stadtarchivar und Museumsleiter erklomm er eine rasch gefestigte Schlüsselstellung in der städtischen Kulturpolitik mit erheblicher Wirkmächtigkeit weit über seinen Tod 1966 hinaus . Illert hat bereits spätestens im Sommer 1933 eine Anregung zur Ausgestaltung eines reichsseitig zu fördernden 'Nibelungenjahres' 1936 gegeben. Erkennbare Formen nahm das Vorhaben jedoch erst seit dem Frühjahr 1934 an, nachdem Illert anläßlich einer feierlichen Kundgebung des AV [Altertumsverein, G.B.] und der Stadt Worms ein unzweideutiges Bekenntnis zu einer nationalsozialistischen Kulturpolitik abgelegt hatte. Welche Ideen, Absichten und Begriffe sind bei diesem Vorhaben tragend geworden? Unter dem 1. Mai 1934 datiert eine von ihm verfaßte gedruckte Eingabe des Kreisleiters, den Oberbürgermeister und der gesamten Einwohnerschaft der Stadt an die Reichsregierung, anläßlich des 1500-jährigen Jubiläums des Untergangs des Burgunderreiches im Jahre 1936 eine Nationalfeier des Reiches, eine Weltfeier der Völker germanischen Blutes zu begehen; Illert sah die Aufgabe der Veranstaltung darin die geschichtliche Ueberlieferung aus ihrer zeitlichen Ferne und dichterischen Verklärung in das wirkliche Erleben des Volkes einzuführen. Verbunden war damit die Bitte, Worms mit dem Ehrennamen "Stadt des Reiches" auszuzeichnen, den mit einer sog. Stundenglocke des Reiches zu weihenden Dombezirk zum Heiligtum der deutschen Nation zu erklären und die für 1936 geplante Olympiade in Worms zu eröffnen. Worms war für Illert als 'heilige Stadt der deutschen Reichsgeschichte' für ein solches großes Vorhaben prädestiniert.

Anfang 1935 wird erkennbar, daß man in Worms mit einem 'nationalsozialistischen großen Festspiel' an ein Gegenstück zu den religiösen und musikalischen Feiern in Oberammergau bzw. Bayreuth, also eine regelmäßige Veranstaltung 'im nationalen Sinne' dachte. Vor dem längst gleichgeschalteten Verkehrsverein trug Illert im März 1935 seine Vorstellungen vor: Danach sollte nach dem 'Aufbruch des neuen Deutschland' in einem von Reichs wegen durchzuführenden 'Weltspiel des Reiches', einem 'erhabenen Volksschauspiel' die 'Erneuerung der Stadt Worms als eines Heiligtums der Deutschen Nation und aller Völker germanischen Blutes' angestrebt werden.

Festspielhaus, 1938, Foto Stadtarchiv Worms

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Diese 'Reichsfeier der Deutschen' wurde in einem internen Papier mit weiteren Programmpunkten angereichert. Darunter finden sich der Einzug des Führers des Reiches in Worms, ein 'Reichstag', eine gewaltige politische Kundgebung und Sonnwendnacht im Dombezirk (Der Führer verkündigt das geschichtliche Heiligtum der deutschen Nation), sportliche Wettkämpfe auf dem mythischen Kampfplatz des Rosengartens; als Festspiel am Rhein ein 'Heroisches Spiel von den Nibelungen', eine Ausstellung der Reichskleinodien und Nibelungenhandschriften und anderem. Innen- und außenpolitisch könne so die Reichsidee und ihre geschichtliche Sendung dem Volk aufbauend auf dem deutschen Nationalepos erschlossen und so die weltgeschichtliche Sendung des deutschen Volkes dokumentiert werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Illert zusammen mit dem später für den Wiederaufbau nach 1945 maßgeblich gewordenen Baurat Walter Köhler (1890-1977) im Laufe der Jahre 1934/35 zu immer weitreichenderen Plänen über den Umgang mit dem Dombezirk kam. Er machte sich zum Fürsprecher eines Aus- und Umbaues zum 'Reichsforum' und einer 'Kultstätte des Deutschtums' bzw. einem 'Reichsgedenkplatz'. Zur selben Zeit fand die Umgestaltung des Platzes vor dem Westchor zu einem NS-Aufmarschplatz statt, für die sogar Parallelen zur Gestaltung zur Filmarchitektur in dem bekannten Nibelungenfilm von Fritz Lang aus den 20er Jahren festgestellt worden sind .

Für Illert war vor allem die regelmäßige Durchführung des nur in groben Zügen skizzierten "Weltspiels" und damit die Propagierung der "Reichsidee" eine 'Überlebensfrage' für die Stadt. Er erklärte sie kategorisch zur 'einzigen Chance zur Wiedergewinnung ihrer vollen Lebensfähigkeit'. Nach innen gerichtetes Ziel war es also, durch Verlebendigung der großen geschichtlichen Vergangenheit als Stadt des Reiches im Sinne der NS-Ideologie für die "geistige Erneuerung der Bewohnerschaft" zu sorgen. Entscheidend für diesen Aufrüstungsgedanken war dabei für Illert die Reichsidee und nicht der Bezug zum Nibelungenlied. Zur gleichen Zeit, in der zweiten Hälfte 1935, lassen sich übrigens Pläne Illerts für eine an die lange Geschichte der Stadt anknüpfende, offenbar ebenfalls bereits in den 20er Jahren projektierte 5000-Jahrfeier von Worms nachweisen. Außerdem wirkte er bei der Planung eines Films über "Worms - die Stadt der Nibelungen" mit, auf den am Schluß noch zurückzukommen ist. Die Sache verschleppte sich im Jahre 1935 immer weiter. Es zeugt von Illerts Zielstrebigkeit und der Bedeutung, der er der Sache beimaß, daß ihn Absagen und Überlegungen zum Aufschub nicht von weiteren Aktivitäten abhalten konnte. Im Januar 1936 hatte das Ministerium nämlich mit Hinweis auf die Kürzung von Haushaltsmitteln zunächst ein finanzielles Engagement abgelehnt. Daraufhin wurde ein durch Unterstützung der Organisation 'Kraft durch Freude' und des Ministeriums zu realisierendes reduziertes Programm als 'örtliche Veranstaltung' vorgesehen. Da jedoch auch diese Planungen zu weitgreifend waren, entschied der Reichsstatthalter und Gauleiter Jakob Sprenger Ende April, die Sache soll als Gauveranstaltung aufgezogen werden. Damit trat im Frühjahr des geplanten Nibelungenjahres eine wichtige Veränderung ein: Anstelle der persönlichen Initiative Illerts, die in der Tendenz stets eher außerhalb der offiziellen Kulturpolitik auf Gauebene stattfand, traten nun die mit Kultur und Propaganda amtlich betrauten Funktionäre auf den Plan. Vor allem schob sich der bisher wenig beteiligte Gauleiter Sprenger stärker in den Vordergrund. Die Initative Illerts blieb in der von ihm gewünschten Form ohne greifbares Ergebnis. Erst Anfang 1937 setzen wieder Hinweise auf die nun unter ganz anderen Vorzeichen in Sicht kommenden Festspiele ein. Zieht man an dieser Stelle eine Zwischenbilanz, so muß zunächst betont werden, daß bei all dem zitierten Gedankengut in starkem Maße Traditionen aus der Zeit vor 1933 nachgewirkt haben. Die Betonung der Nibelungenstadt und ihre bei Illert vorzufindenden Ausdrucksformen sind in vielfacher Hinsicht nicht genuin nationalsozialistisch. Insbesondere die Betonung der Reichsidee läßt sich schon viel früher nachweisen und stellt eine charakteristische Konstante in Illerts Denken dar. Doch zurück zur Nibelungenrezeption. Im Frühjahr 1937 verdichtete sich eine seitens der Propagandastellen in Berlin und Frankfurt betriebene Planung der Wormser Nibelungenwoche. Demnach wurden Hebbels 'Nibelungen' (inszeniert vom Landestheater Darmstadt) als Abschluß der vierten "Reichs-Theaterwoche" für die Aufführung in Worms vorgesehen; bereits mit der Absicht einer festen regelmäßigen Einrichtung. Die Theaterwoche war seit 1934 als Aushängeschild der NS-Theaterpolitik vom Propagandaministerium in unterschiedlichen Städten durchgeführt und finanziert worden. Darüber plante man eine Großkundgebung mit Minister Goebbels im Wassergasschweißwerk. Worms wurde nun zum Befehlsempfänger bzw. zur Kulisse oberster Reichsstellen. Die Veranstaltungen selbst, für die ein freier Verkauf verboten war, fanden im Juni 1937 im Festhaus statt, anschließend gab es einen Empfang im Cornelianum. Die mehrstündige Aufführung der 'Nibelungen' mit namhaften Schauspielern (Agnes Straub, Maria Koppenhöfer, Carl Raddatz) stieß zwar auf ein überwiegend positives Echo, stand in der überregionalen Berichterstattung jedoch bezeichnenderweise völlig hinter dem großen Aufmacher über Goebbels Kundgebung vom Vortag zurück. In seiner Rede ging der Minister nur ganz am Rande auf Bezüge zwischen der aktuellen Politik und dem Nibelungenlied ein und hatte ansonsten andere, rein politische Themen. Der vormalige Protagonist Friedrich Illert war zum Statisten geworden. Bei der folgenden Nibelungenfestspielwoche gaben die im Gefolge des Anschlusses Österreichs im Sommer 1938 eingeladenen Vertreter der Nibelungenstädte von der Donau der Veranstaltung einen zusätzlichen ideologischen Touch. Die Platzpreise lagen wesentlich niedriger Platzpreise als 1937. Im Stadtrat bemerkte der Oberbürgermeister: Es könne sich auch ein ärmerer Volksgenosse den Besuch einer Vorstellung erlauben. Niemand könne sagen, dass das Ganze nur eine Sache für die reichen Leute sei. Letztmals fanden dann kurz vor dem Krieg im Juni/Juli 1939 Nibelungen-Festspiele statt. 1938 und 39 verliefen die Festspiele ohne eine direkte politische Umrahmung und gaben auch der Profilierung als Nibelungenstadt keine weiteren Impulse mehr.

Fazit und Ausblick

Nach dem Bruch des Jahres 1945 ging die offizielle Identifizierung mit den Nibelungen stark zurück: Das Cornelianum wurde nicht wieder aufgebaut, vielmehr seine erhaltenen Reste 1959 abgebrochen, in der Fremdenverkehrswerbung und Außendarstellung wurden andere Akzente gesetzt. Der 1956 unternommene Versuch zur Durchführung von Freilicht-Festspielen vor dem Dom-Westchor erreichte keine Wiederholung. Seit den 1990er Jahren ist nun - wie eingangs bemerkt - aus primär touristischen Motiven die Nibelungenthematik wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt worden. Blicken wir noch einmal zurück. Bis zum tiefen Einschnitt des Jahres 1914 waren seit 1890 stadtgestalterische Projekte greifbar, eingebettet in die architektonische Neugestaltung der Stadt im Stil eines lokalspezifischen Historismus, der erst später als 'Nibelungenstil' bezeichnet wurde. Zum unfreiwilligen Protagonisten dieser Richtung wurde der bis heute überragende, von 1885 bis 1897 amtierende Stadtbaumeister Karl Hofmann. Als besonderer Förderer trat die in Worms dominierende Familie von Heyl in Erscheinung. Als Träger der Vorkriegsrezeption und ihrer Formen kann insgesamt das politisch dominierende nationalliberale Bürgertum (unter selbstverständlichem Einfluß der israelitischen Bürger der Stadt) angesehen werden. Zentrales bauliches Zeugnis der Rezeption in Worms ist das Cornelianum, gescheitert sind die Bemühungen um einen Rosengarten und ein Rosenfest. Dominierend ist für die Rezeption weniger eine lokalspezifische Tradition als vielmehr die Übernahme des Trends zur Stilisierung des Liedes als Nationalepos mit stark Wagnerschen Zügen. Nach 1918 verschwand öffentliches Bauen mit Bezug auf das Epos, sieht man einmal von der Umgestaltung des Domumfeldes ab. Erstmals wird in den 20er Jahren punktuell Kritik am herkömmlichen Nibelungenverständnis deutlich. Im Mittelpunkt stehen nun Veranstaltungen, die unter dem Begriff 'Nibelungen' beliebige lokale Darbietungen popularisieren sollen. Unter spezifischen Vorzeichen gewinnt die Idee eines Festspiels von nationalem Rang in den 30er Jahren an Boden. Hinter dem Nibelungentitel verbergen sich dabei die von Friedrich Illert geleiteten Bestrebungen zur Propagierung der Reichsidee, die eher von konservativ-nationalem Denken als von nationalsozialistischer Ideologie geprägt sind. Die Nibelungen-Festspiele 1937 bis 1939 bieten dann Aufführungen des Hebbel-Stückes mit betont politischem Rahmen.

Anhang: "Worms - Die Stadt der Nibelungen" (Film, 1935)

Die Existenz des zwölfminütigen Films ist dem Stadtarchiv im Jahre 1999 bekannt geworden . Er gelangte vermutlich auf dem Wege der Konfiszierung durch die amerikanischen Truppen nach dem Krieg in die USA und wurde in den 60er Jahren in das Bundesarchiv/Filmarchiv (jetzt Berlin) verbracht, von dem das Stadtarchiv 1999 eine Kopie hat anfertigen lassen. Der Film lief als Kulturfilm im Vorprogramm der Kinos und wurde aufwendig hergestellt. Der Tenor ist nicht genuin nationalsozialistisch, vielmehr kommt hier im Grunde eine typisch national-konservative Sichtweise der Wormser Stadtgeschichte zum Tragen, die in vielem die ambivalente Handschrift Friedrich Illerts trägt. Typisch ist auch hier, daß trotz des Titels 'Worms - die Stadt der Nibelungen' das Lied und der Sagenkreis eine selbst eine eher untergeordnete Rolle spielt. Der Streifen ist gleichsam als Summe des in der Zeit vor 1914 zugrundegelegten Selbstverständisses der Stadt zu sehen. In pathetischem Ton gehalten, preist der Film die Geschichte und die Denkmäler der Stadt, wobei die höchst bedeutenden jüdischen Kultur- und Geschichtszeugnisse keine Erwähnung mehr finden. Nach einem Abriß der großen geschichtlichen Vergangenheit werden in einer von Wagnermusik untermalten Sequenz an die Nibelungen erinnernde Denkmäler vorgeführt und mit weiteren baulichen Zeugnissen der Stadt verbunden, die nach dem Text "treu die Wacht am deutschen Rhein" hält. Breiten Raum nimmt die Würdigung des romanischen Domes und des Lutherdenkmals ein.

(Download des Vortrags inkl. der Quellenangaben: Word-Dokument (63 KB))