Höfische Heldendichtung
im Umkreis des Nibelungenlieds



von Ellen Bender

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Buchmalerei, Codex Manesse, um 1330 ...

Was ist höfische Heldendichtung?

Neben den Nibelungensagen stehen die Sagen von Hilde und Kudrun sowie die Sagen von Dietrich von Bern als eigene große germanisch-deutsche Heldensagenkreise. Den drei Sagenkreisen gemeinsam ist, das sie in die Geschichte germanischer Stämme aus der Völkerwanderungszeit zurückreichen, jedoch ihre dichterische und höfische Ausprägung vor allem in mittelhochdeutschen Epen des 13. Jahrhunderts erhielten. Gemeinsam ist ihnen die dichterische Wurzel im sangbaren Lied, das in Strophen (und nicht in Reimpaaren) vorgetragen wurde, wie Nibelungenstrophe, Kudrunstrophe, Walther-Hildegund-Strophe, Rabenschlachtstrophe. Gemeinsam ist ihnen die anonyme Überlieferung; Dichternamen werden nicht genannt. Und gemeinsam sind ihnen auch die Namen bekannter Helden, wie z.B. Hagen, Etzel-Attila, Dietrich; die Figuren werden jedoch in unterschiedliche Handlungszusammenhänge gebracht. Heldensagen nennen geschichtliche Gestalten und geschichtlich bekannte Orte. Sie sind ortsgebunden und erwecken dadurch oft genug den Eindruck, dass sie geschichtliche Tatsachen wiedergeben. Der Vergleich mit historischen Quellen aber zeigt, wie sehr Geschichte und geschichtlich wichtige Persönlichkeiten nur Mittel zum Zweck geworden sind, nämlich zur Stilisierung und Deutung imponierender menschlicher Verhaltensweisen.

Der Held und seine Historie.


Wer war Dietrich von Bern? Die Frage nach dem historischen Urbild der Sagengestalt kann von der Forschung klarer beantwortet werden als die nach den historischen Vorbildern von Siegfried oder gar von Hilde und Kudrun, den Hauptgestalten der anderen beiden germanisch-deutschen Heldensagenkreise.

Als unbestritten darf heute gelten, dass in Dietrich von Bern der Ostgotenkönig Theoderich der Große fortlebt. Er wurde um 453 in Pannonien geboren und wuchs in Konstantinopel, dem Zentrum des oströmischen Reiches, auf. In den Dietrichsagen ist vom politischen Wirken Theoderichs kaum die Rede. Nur die „Gesta Theoderici“ aus dem 7. Jahrhundert wissen noch, dass es die Goten sind, über die Theoderich als König gebietet. In der mittelhochdeutschen Heldendichtung ist der Volksname durch die Bezeichnung des Herrschergeschlechts der „Amaler“ ersetzt. Dietrich ist der hervorragendste „Amelunc“; im NL sind es die „Amelungen“.

In der deutschen Dietrichdichtung ist der große Ostgotenkönig weniger durch sein Leben im östlichen Mittelmeerraum- er war übrigens als Knabe Geisel in Konstantinopel- als durch seine Herrschaft in Italien bekannt. Er lebt als „Dietrich von Bern“ in der mittelhochdeutschen Dichtung. Die Benennung Dietrichs nach Verona = mittelhochdeutsch „Bern“ geht vermutlich auf die Langobarden zurück. Aber die Residenz Theoderichs war nicht Verona sondern Ravenna = mittelhochdeutsch “Raben“; deshalb also der Name „Rabenschlacht“, das ist die Schlacht um Ravenna.

Heldenschema.


Alle höfischen Heldendichtungen stellen das Heranwachsen des Helden dar, z.B. das Heranwachsen Dietrichs in den Dietrichdichtungen oder das Heranwachsen Siegfrieds im NL oder das Heranwachsen Hagens und Hetels in der Kudrun. Der junge Königssohn übt sich jeweils im Waffentragen und in Schwertkämpfen. Er lernt beim „ritterspil“ die ritterlichen Regeln kennen. Die Schwertleite bildet mit einem Fest den Abschluss der ritterlichen Erziehung des jungen Helden. Der Ritterschlag pflegte im Hochmittelalter in das 21. Lebensjahr des jungen Adeligen zu fallen. Der Knappe wurde gewöhnlich erst mit seiner Mündigkeit in den Ritterstand aufgenommen. Doch bestand auch die Möglichkeit, dass der Ritterschlag zusammen mit der Waffennahme im 15. Lebensjahr erfolgte. Im NL endet das Heranwachsen Siegfrieds mit der Schwertleite, die sich mit seiner Königsweihe verbindet. Der Held ist nun hoffähig und muss sich in Abenteuern, sogenannten „âventiuren“ und Kämpfen bewähren. Zu seinem Glück fehlt ihm nur noch eine Frau, die seinen Machtbereich erweitern und dem Land einen Erben schenken soll. Er holt sich den Rat eines väterlichen Freundes und der besten Männer des Landes ein. Sie raten ihm zu einer Brautwerbung und nennen auch schon den Namen der jungen Dame. In der Heldendichtung ist es stets eine schwierige Brautwerbung, bei der der Held viele Hindernisse aus dem Weg räumen muss, um die Schöne heimzuführen. Im Kreis um Dietrich von Bern gibt es die Brautwerbung überhaupt nicht. Die Erzählungen von Exil und Heimkehr bleiben rein männlich, Sache zwischen König und Gefolgsmann. Die Dietrichepik des Mittelalters hat den Mangel an Frauendienst Dietrichs nicht ohne Verwunderung zur Kenntnis genommen und in ihren Spätformen versucht, auch Dietrich in Frauenâventiuren zu verflechten. Die Frauenlosigkeit Dietrichs ist der Grund, weshalb ich die Dietrichdichtung im folgenden vernachlässigen werde. Mich interessiert in mittelalterlicher Dichtung eben besonders das Verhalten des Ritters der frouwe gegenüber.

Eine wichtige Rolle spielt die Mutter und das Mutterbild des jungen Ritters. Die frühe Heldensage scheint einen besonderen Einfluss der Mutter auf den Helden gekannt zu haben.

So heißt es von Siegfried „daz Sigelinde kint“ und nicht „daz Sigmundes kint“.

Die Mutter weiß in der Regel um die Gefahren und rät von der Werbungsfahrt ab. Der Held aber beschwichtigt die Mutter und zieht bewaffnet mit seinen Mannen los. Immer wieder wird die Beraterrolle der Mutter stark hervorgehoben, z.B. die Sigelinds, die Siegfried abrät oder die Gerlinds, die ihrem Sohn Hartmut zur gefährlichen Werbung um Kudrun rät.

Der Held muss seine Braut „verdienen“. In der Artusepik geschieht dies durch eine Kette von Kämpfen und Bewährungen. Aber während der Held der Artusepik durch eine Reihe von Einzelkämpfen die Liebe der Angebeteten erringt, werden in der Heldenepik ganze Völker in die Kämpfe involviert, z.B. kämpft Siegfried im NL gegen die Sachsen, der Hagen der Kudrun gegen die Hegelinge, Herwig gegen die Normannen, Dietrich gegen seinen Oheim Ermenrich und die Römer, wobei sein römischer Gegenspieler Odoakar war und der Walther der Waltherdichtung gegen Gunther, Hagen und die Rheinfranken bzw. Burgunden. Neben dem Herrscher steht die Mannschaft, aus der einzelne hervortreten, um sie zu repräsentieren: der wilde Wate, Frute von Dänemark und der Sänger Horand in der Kudrun, der greise Waffenmeister Hildebrand und der Draufgänger Wolfhart in der Dietrichdichtung sowie Witege, Heime, Alphart. In ihnen erfüllen sich die großen Forderungen der Treue, Ehre und des Kampfes bis zum Untergang. Der Heldenroman der Stauferzeit umgibt seine Helden weit mehr mit den Massen ritterlicher Heere als der Artusroman und steigert ihre Kämpfe zu ritterlichen Schlachten.

Nach bestandener Schlacht wirbt der Held in höfisch vollendeter Manier um die edle Dame seines Herzens. Er respektiert die Regeln des höfisch-ritterlichen Lebens. Die Werbungsfahrt endet glücklich. Der Held erringt seine Braut, auch wenn er manchmal viele Jahre dazu benötigt: Walther erringt Hildegunde nach Flucht und schweren Kämpfen, Siegfried erringt Kriemhild nach über einem Jahr Aufenthalt am Wormser Hof, Sachsenkrieg und Brautwerbung für Gunther auf Isenstein, Herwig erringt Kudrun nach 14-jährigem Leiden der Königstochter in der Fremde am Normannenhof.

Ein höfisches Fest, das die ganze Pracht des Hofes an Schmuck, Kleidern, Speise, Tanz und Spiel entfaltet, beschließt die erfolgreiche Werbungsfahrt.

Die Kudrun endet mit den Versöhnungsheiraten von 4 Paaren, die alle Kudrun stiftet.

Dieses überglückliche Ende ist wohl als Reaktion auf den unendlich leidvollen Schluss des NL gedacht. Für die höfische frouwe, die die sittlichen Werte der Zeit repräsentiert, muss es unerträglich sein, wie die allein dem Gesetz der Rache verpflichtete Kriemhild alles in den Untergang reißt. Die Versöhnungsheiraten, die Kudrun stiftet, sind Reaktion auf den mörderischen Vollzug der Rache, den Kriemhild im Nibelungenlied betreibt. Die Kudrun ist Reaktionsdichtung, gewollter Antityp zum NL. Da sind wir schon in medias res. Der Reiz von NL und Kudrun ist der Antagonismus der beiden Frauen, an denen zwei sittliche Grundqualitäten demonstriert werden: triuwe und staete.

Doch nun der Reihe nach.

Der höfische Heldenroman im Umkreis des Nibelungenliedes ist vor 1250 durch 2 strophische Epen vertreten, nämlich durch das Waltherepos und die Kudrun, die beide andere Möglichkeiten der Konfliktlösung anbieten als das NL, das von Anfang an den Untergang der Burgunden als unabänderliche Folge einer Unrechtstat, nämlich der Ermordung Siegfrieds, fokussiert.

Zunächst zum Waltherepos


Das Waltherepos, das wir aus den kärglichen Fragmenten zweier österreichischer Handschriften aus Wien und Graz kennen, setzt die Nibelungendichtung voraus. Attila, Gunther und Hagen sind von Anfang an tragende Figuren des Waltherstoffes. Doch enthalten die überlieferten Fragmente nur Schilderungen von der Vorbereitung zum Hochzeitsfest Walthers und Hildegundes. Die Waltherstrophe ist von der Nibelungenstrophe abgeleitet; sie überdehnt allerdings die letzte Anzeile durch zwei zusätzliche Hebungen.

Beispiel der Walther-Hildegund-Strophe:

„Swie wir anders rîten, so ist daz diu lere mîn

daz wir da ze Metzen geste niht ensin.

Ortwin hete drinne wol tousent kuener man:

swaz der kunic hernach darumbe geredete mit strite wrden wir bestan.“

Wiener Fragment, Str. 4

„Egal wie wir reiten, das ist meine Meinung, können wir doch in Metz nicht Gäste sein. Ortwin hat wohl tausend kühne Krieger in der Stadt.

Was immer auch der König später darüber sagen mag, mit Kampf werden wir dort empfangen.“

Eine frühe Bearbeitung ist der „Waltharius“, ein spätkarolingisches Hexameterepos in lateinischer Sprache. Nicht nachweisbar ist es, ob der „Waltharius“ des 10. Jahrhunderts als Vorlage zum Waltherepos des 13. Jahrhunderts gelten kann.

Der Waltharius schildert den Kampf Walthers von Aquitanien mit dem rheinfränkischen König Gunther von Worms und seinem Gefolgsmann Hagen von Tronje um einen Goldschatz.

Walther ist wie Hagen als Geisel an Etzels Hof aufgewachsen und ihm freundschaftlich verbunden. Er flieht mit Hildegunde und einem Schatz von Etzels Hof. Der fränkische König Gunthari will ihm den Schatz abjagen. Es kommt zum Kampf an einem Ort, der im „Waltharius“ Vosagum heißt und im NL Waskenstein genannt wird. Nach 11 Waffengängen, die alle tödlich für die Rheinfranken enden, kämpfen nur noch Walther, Hagen und Gunther. Dabei verliert Hagen sein Auge, Gunther einen Fuß und Walther die rechte Hand. Danach schließen sie Frieden.

Das Kernstück der Waltherdichtung ist die Erzählung von den elf Einzelkämpfen, in denen der Held die fränkischen Krieger besiegt, die König Gunthari von Worms gegen ihn herangeführt hat. Der Sieg wird v.a. durch den Schauplatz ermöglicht. Waltharius erwartet die Krieger am Eingang einer Schlucht, wo 2 Berggipfel, zwischen denen sich die Schlucht hinzieht, ihm die Seiten und den Rücken decken. Der Zugang ist so schmal, dass jeweils nur ein einzelner gegen ihn anrücken kann. Als Hagen, der Walthers Kampfweise sowie seine Entschlusskraft und Tapferkeit selbst in den schwierigsten Lagen genau kennt, diesen in solcher Stellung sieht (V. 572), rät er zu versöhnlicher Haltung. Und Hagen wiederholt dem ihn kniefällig um Hilfe bittenden König Gunthari seine Bedenken (V. 1101). Doch umsonst. Der Dichter stellt ausdrücklich fest, dass die Enge der Örtlichkeit nur Kampf von Mann gegen Mann zulässt, so dass keiner dem anderen zu Hilfe kommen kann (V. 692ff.). Als Schauplatz des Kampfes wird im NL der „Waskenstein“ genannt, den viele Forscher mit dem Wasigenstein in den Vogesen identifizieren.

Der Waskenstein ist keine Erfindung des NL-Dichters, sondern Realität. Damit wird die Waltherdichtung zu einer ortsgebundenen Sage.

An drei Stellen spielt das NL unmittelbar an Walther und Hildegunde an: Str. 1756, 1797 und 2344. Auch Hagens Kenntnisse hunnischer Persönlichkeiten und Verhältnisse, wie die des Weges ins Hunnenland, fußen auf dem Waltherstoff. Es gibt eine Reihe gleicher Motive:

1.) In beiden Epen sind die Hauptschauplätze Worms und der Hunnenhof. Zwischen diesen

weit auseinanderliegenden Schauplätzen werden die Figuren hin und her geführt.

2.) Walther und Hagen lebten in ihrer Jugend als Geiseln am Hunnenhof König Etzels und

wurden von ihm zu Heerführern gemacht.

3.) Etzel sandte Hagen zurück zu Gunther, während Walther mit Hildegunde entfloh. NL

1756: „Hagenen sande ich wider heim: Walther mit Hiltegunde entrann“.

Im Waltharius V. 116ff. wird die Rückkehr Hagens nach Worms begründet. Nach dem Tod des Frankenkönigs Gibico hat dessen Nachfolger Guntharius den mit den Hunnen geschlossenen Vertrag gelöst. Als Hagen dies erfuhr, sei er heimlich vom Hunnenhof geflohen und zu seinem neuen Herrn heimgekehrt.

Das NL hat den Namen der Franken (Franci) des Waltharius nicht übernommen, sondern erzählt von den Burgunden, und der Vater Gunthers ist nicht Gibico, sondern Dancrât aus der Fassung C. Als Heimat Walthers nennt das NL Spanye (Str. 1797), nicht das Aquitania des Waltharius. Weiterhin interessant ist die symbolische Schildgebärde Hagens, die der Dichter des NL nennt. In Str. 2334 NL heißt es bei der Frage Hildebrands an Hagen: „nû wer was der ûf einem schilde vor dem Waskensteine saz?“ Der Waltharius weiß von diesem Sitzen auf dem Schilde nichts.

Unser Waltherepos des 13. Jahrhunderts übernahm die Änderungen des NL: Gunther und die Wormser sind jetzt wie im NL Burgunden, nicht Franken (vgl. auch V. 1085ff.), Walther stammt aus Spanye, Walther reitet donauaufwärts heim, hier gerät er auch dann in Kämpfe mit den überlieferten hunnischen Stationen, Hildegunde heißt von Arragon, da sie dem Spanier Walther benachbart sein musste. Das Ende ist glücklich. Der versöhnliche Ausgang scheint so weit gesteigert, dass sogar Gunther zu Walthers Hochzeit geladen werden kann.

Der Ersatz Aquitaniens durch Spanye lag nahe, da in westgotischer Zeit Aquitanien und Spanien vereinigt waren.

Es gibt auch den altenglischen „Waldere“, der als älteste Fassung der Geschichte von Walther und Hildegunde gilt, leider jedoch nur fragmentarisch überliefert ist.

Man darf weiter vermuten, dass der Dichter die Hildesage gekannt hat. Darauf weisen die Namen Hildegunde und Hagen in Verbindung mit dem Grundmotiv der Brautentführung und der daran geknüpften Verfolgung mit schweren Kämpfen hin.

Hildegunde ist allerdings ein ganz anderer Frauentyp als Hilde oder gar Kriemhild.

Sie ist gefühlsbetonter, voll Demut und Angst. Ihre Empfindsamkeit bezeugt eine weichere, höfische Einstilisierung des Heldenstoffes. Und hinter Walthers übergroßer Besorgnis um das Wohlergehen Hildegundes und dem freudenreichen Abschluss ihrer Flucht, die gleichzeitig eine Brautwerbungsfahrt durch ganz Europa ist, offenbart sich die Macht der Minne als eine kühne Tat.

Damit kommen wir zur Hilde- und Kudrundichtung.

Die Geschichten um Hilde und Kudrun, Mutter und Tochter, sind einander so ähnlich, dass sie nicht unabhängig voneinander entstanden sein können. Der Kern ist eine Hildedichtung, ein spätnordisch-wikingisches Lied vom Typ der Brautraubfabel gewesen. Hild heißt die Heldin in den nordischen Quellen. Die erste literarisch fassbare Spur ist eine Anspielung auf die große Schlacht auf dem Wolfenwerde zwischen Griechen und Persern in Lamprechts Alexanderlied um die Mitte des 12. Jahrhunderts. Bei Lamprecht war die Schlacht ûf Wolfenwerde noch die Verfolgungsschlacht des Hildeteils. Von Kudrun hören wir bis zu unserem Epos nichts. Es gibt zwar eine nordische Gudrun, die aber zu den nordischen Nibelungensagen gehört und der eher die Kriemhild unseres NL entspricht. Doch dazu später.


Kudrunepos, wohl zwischen 1230 und 1240 entstanden.

Die Kudrun ist uns nur im Ambraser Heldenbuch auf den Blättern 140r-166r überliefert, aufgeschrieben von Hans Ried 1504-1514 im Auftrag Kaiser Maximilians.

Die Handschrift ist einziger Überlieferungsträger und steht zwischen NL und Biterolf, einem Versepos von 1270, das von dem spanischen König Biterolf erzählt, der an Etzels Hof lebt und von seinem Sohn Dietleib, der sich aufmacht, den Vater zu suchen und in den Kampf mit den Wormsern Hagen, Gernot und Giselher gerät, die vom Sachsenkrieg heimkehren. Es gibt noch eine Reihe weiterer Parallelen zu NL, Waltherepos und Dietrichepen. Doch wollen wir uns jetzt nicht weiter mit dieser Epigonendichtung aufhalten, sondern das Kudrunepos in den Blickpunkt rücken.

Erzählt wird die Geschichte dreier Generationen.

1. Generation:

Der siebenjährige Hagen ist der Sohn des Königs Sigeband und seiner Gattin Uote von Irland. Uote ist wohl die Stammmutter der Könige im NL wie in der Kudrun. Hagen also wird von einem Greifen in die Wildnis entführt, kann sich aber selbst und drei ebenfalls entführte Prinzessinnen vor den Tieren retten. Sie leben längere Zeit auf einer einsamen Insel, bis ein Pilgerschiff sie auffindet. Hagen zwingt den Kapitän, den Grafen von Garadê, Todfeind seines Vaters, sie nach Irland zurückzubringen; dann versöhnt er den Grafen mit seinem Vater. Hagen wächst zum Mann heran und wirbt um Hilde von Indien, eine der Prinzessinnen des Greifenabenteuers. Die Werbung mündet in ein prachtvolles Fest anlässlich der Hochzeit und Schwertleite Hagens.

2. Generation:

Um die Tochter Hagens, die junge Hilde, wirbt Hetel von Hegelingen.

Da Hagen alle Werber tötet, lässt Hetel durch eine List, nämlich durch seine als Kaufleute maskierten Boten, den wilden Wate, den Sänger Horand und Frute von Dänemark, die junge Hilde auf ein Schiff locken und entführen. Hagen setzt ihnen nach. Er stellt die Entführer, die sich mittlerweile mit Hetel vereinigt haben, zum Kampf. Es kommt zur Verfolgungsschlacht. Auf Betreiben Hildes kommt eine Versöhnung zwischen Hetel und Hagen zustande. Hetel führt Hilde heim. Der Hildeteil endet mit dem Hochzeitsfest und dem Festabschied der Gäste.

3. Generation:

Geschildert werden 7 Jahre des Ehelebens Hetels und Hildes und des Heranwachsens ihrer Tochter Kudrun.

Die Könige Siegfried von Morland, Hartmut von Normannenland und Herwig von Seeland lassen um Kudrun werben, werden aber abgewiesen. Hartmut zieht nun selbst verkleidet an Hetels Hof, kann aber Kudruns Gunst nicht gewinnen. Herwig dringt mit seinen Mannen in Hetels Burg ein und bricht den Kampf erst ab, als ihm die Erlaubnis gegeben wird, um die Hand Kudruns zu bitten. Sie nimmt seinen Antrag an; die Verlobung wird geschlossen. Herwig kehrt in sein Land zurück. Nun fällt Siegfried in das Land seines Nebenbuhlers Herwig ein. Hetel muss dem künftigen Schwiegersohn zu Hilfe eilen.

Inzwischen wird Hetels Burg von Hartmut und seinem Vater Ludwig aus Normannenland erobert. Sie schleppen Kudrun mit sich fort. Hetel und Herwig, von dem Überfall verständigt, verfolgen die Räuber. Auf dem Wülpensand kommt es zur Schlacht. Hetel fällt. Ludwig und Hartmut flüchten bei Nacht. Sie verschleppen Kudrun und die mit ihr geraubten Mädchen nach Ormanîe. Die Verfolger sind zu geschwächt, um weiter zu kämpfen. Sie verschieben die Rache auf den Tag, an dem eine neue Mannschaft herangewachsen ist.

Im Normannenland müht man sich vergebens, Kudrun Hartmut gefügig zu machen. Willig verrichtet sie die niedrigsten Magddienste, die ihr Gerlind, die Mutter Hartmuts, aufträgt, z.B. das Waschen im Winter. Nach 14 Jahren der Entbehrung und Unterdrückung haben ihre Leiden ein Ende. Ein Heer unter der Führung Herwigs, Kudruns Bruder Ortwin und Siegfrieds von Morland rückt zur Befreiung heran. In der großen Befreiungsschlacht findet Ludwig den Tod, Hartmut wird gefangengenommen und Gerlind stirbt von Wates Hand.

Darin erkennen wir auch ein Motiv des NL: Die vâlentinne Gerlind stirbt durch die Hand des alten Haudegen Wate (1523,4) – wie einst Kriemhild durch den alten Waffenmeister Hildebrand.

In der Heimat wird Kudrun Herwigs Frau und versöhnt die Feinde auch mit ihrer Mutter Hilde. Das Hochzeitsfest von vier Paaren besiegelt das glückliche Ende: Herwig heiratet Kudrun, der Entführer Hartmut heiratet Hildeburg, Ortwin, Kudruns Bruder, heiratet Ortrun, die Schwester Hartmuts, Siegfried von Morland heiratet Herwigs Schwester.

Alle Könige, die weit übers Meer nach Minne gefahren waren, bekommen eine Frau. Die Minneauffassung entspricht also ganz dem höfischen Denken, wonach die Macht der Minne als höchstes Gut erscheint. Um ihren Besitz lohnt sich jede Anstrengung, sogar das Wagnis des Lebens. Der fernen und unnahbaren frouwe gelten die sehnsüchtigen Gedanken. Der Held bricht aber nicht allein auf -wie der Artusritter; um ihn sind seine Getreuen geschart. Die Kämpfe werden so zu wahren Völkerschlachten. Darin steht die Kudrun ganz auf Seiten der alten Heldenlieder. Die aber kennen nicht die Minne als Anlass solcher Schlachten und auch nicht die glückliche Versöhnung als Ausgang.

Auch die Kudrunstrophe ist von der Nibelungenstrophe abgeleitet. Sie verwendet allerdings mehr klingende Kadenzen und überdehnt den Abvers der Schlusszeile durch eine weitere Hebung. Dadurch wirkt die Strophe weicher, lyrischer; daneben verwendet sie auch zahlreiche echte Nibelungenstrophen, so dass der Eindruck einer sorglosen Komposition entsteht. Beispiel:

„Ez wuohs in Irlande ein rîcher künic hêr;

geheizen was er Sigebant, sîn vater der hiez Gêr,

sîn muoter diu hiez Uote und was ein küniginne.

durch ir hôhe tugende sô gezam dem rîchen wol ir minne.“ Kudr. Str. 1

„In Irland wuchs ein mächtiger, stolzer König heran, Sigeband genannt.

Sein Vater hieß Ger und seine Mutter Uote. Sie war eine Königin.

Wegen ihrer großen sittlichen Vorzüge war ihre Minne dem König mit Recht angemessen.“

Der Dichter preist hier die moralische Vollkommenheit der höfischen Dame.

Wie das NL stellt das Kudrunepos Frauengestalten in den Mittelpunkt. Das Schwergewicht des Epos (Str. 579-1705) liegt auf der Geschichte Kudruns. Kudrun allein ist von den Frauengestalten (Hilde, Hildeburg, Ortrun, Gerlind) zu einer starken Persönlichkeit durchgeprägt.

Reizvoll ist es, die beiden Frauen, die Kriemhild des NL und die Kudrun des Kudrunepos, zu vergleichen.

Wir denken daran, wie wunderschön Kriemhild im NL vorgestellt wird:

„Ez wuohs in Burgonden ein vil edel magedîn,

daz in allen landen niht schoeners mohte sîn,

Kriemhild geheizen: si wart ein scoene wîp.

darumbe muosen degene vil verliesen den lîp.“ NL Str. 2

Und von Kudrun heißt es:

„Nu wuohs diu maget junge. schoene wart ir lîp,

daz si loben muosen man unde wîp,

wande man si verre von ir lande erkande.

si was geheizen Kûdrûn unde wart erzogen in Tenelande.“ Kudr. Str. 576

„Die Jungfrau wuchs heran. Sie wurde so schön, dass sie Männer und Frauen preisen mussten, weil der Ruhm ihrer Schönheit weit über alle Lande bekannt war. Sie hieß Kudrun und wurde in Dänemark erzogen.“

Und weiter:

„Si wuohs ouch in der mâze, daz si wol trüege swert,

ob si ein ritter waere.“ Kudr. Str. 577,1-2

„Sie wuchs in der Art und Weise heran, dass sie wohl den Ritterschlag empfangen hätte, wenn sie ein Mann gewesen wäre.“

Das heißt nicht nur, dass sie das Alter erreichte, in dem ein Knappe Ritter wurde, ihre Erziehung also höfisch-ritterlich abgeschlossen war. Sondern auch, dass ihre Ausbildung gleichbedeutend mit der eines Mannes, eines Ritters bis zum Ritterschlag war, so dass sie ein Schwert hätte tragen können.

Aha, das „ob si ein ritter waere“ haben wir auch von Kriemhild gehört:

In 1416,4 sagt sie: „ob ich ein ritter waere“ bei der Einladung ihrer Brüder an den Hunnenhof.

Kriemhild wäre lieber ein Mann, ein Ritter; dann könnte sie - wie ein solcher - ihre rechtlichen Ansprüche durchsetzen. Ihr Klagen, nicht über denselben Handlungsspielraum wie ein „ritter“ zu verfügen, bringt ihr Dilemma auf den Punkt. Ihre geschlechtliche Gebundenheit zwingt sie zu einem anderen Vorgehen als wenn sie ein Mann, ein Ritter wäre.

In diesen Kontext fällt auch die negative Einstellung der Frauenfiguren Kriemhild und Brünhild zur Ehe. Die Eheverweigerung der Frauenfiguren im NL ist natürlich von der Handlung her motiviert: Kriemhild lehnt Minne ab, weil sie ihr Leiden bringt, Brünhild kann nur den „minnen“, der sie besiegt. Beide möchten dem höfischen Minneideal keinen Glauben schenken. Ihre ehekritische Haltung könnte vielleicht als Ausdruck einer Nicht-Realisierbarkeit des höfischen Ideals der Hohen Minne gedeutet werden.

Von ehekritischer Haltung ist bei Kudrun nichts zu spüren. Im Gegenteil. Sie wartet 14 Jahre lang voller Sehnsucht auf die Ehe mit Herwig, dem sie ihr Jawort gegeben hatte.

Kudrun erfährt Minne vor allem in dem Bewusstsein, dass eine einmal eingegangene Bindung unauflösbar ist. An ihr erweist sich, dass auch die höfische Dame den härtesten Prüfungen gewachsen ist, obwohl die Demütigungen, die sie durch Gerlind erfährt, eigentlich nicht in die Vorstellungswelt einer auf Verehrung der frouwe gegründeten Hofkultur passen.

In der Gefangenschaft ihren Peinigern ausgesetzt, zeigt die Sklavendienste leistende Königstochter staete. Der Weg, den sie geht, ist ein Weg des standhaften Festhaltens an ihrer rechtlichen Bindung und Liebe zu Herwig (1043) und zugleich ein Weg der Auseinandersetzung mit der Rach- und Quälsucht Gerlinds.

Zwar ist Kudrun, mit Kriemhild verglichen, eine nur Leidende und Duldende. Ihr fehlt die Aktivität der heroischen Frau, die auch da, wo sie nicht selbst handelt, die Tat in sich trägt, bis die Männer sie tun. Kudrun dagegen bleibt passiv und wartend, nur gefangen und befreit. Aber dieses unerschütterliche Ausdauern in ihrer langen, standhaften Leidenszeit, in der sie alle Kraft aus sich selbst schöpft, verleiht ihr das Stigma der sittliche Selbstbehauptung. Dieses fehlt der zweiten, persönlich gestalteten Frauenfigur, der „alten wülpinne“ Gerlind (1052,1). Sie ist Handelnde, aber in ihrem Handeln nicht heldenhaft groß, sondern boshaft und ungerecht. Ihr fehlt der Furor der rächenden Kriemhild. Spiel und Gegenspiel fügen sich in die gängige Schablone von Gut und Böse.

Die Stärke des Kudrundichters liegt nicht in der Gestaltung großer Gipfelszenen und Gipfelworte wie im NL beim Frauenstreit, der Ermordung Siegfrieds, dem Burgundenuntergang am Hunnenhof, nein, er liegt in der plastischen Schilderung von Einzelheiten: Kudrun im Elend und Kudrun als Friedensstifterin. Wie eindrucksvoll ist das Bild der unglücklichen Wäscherinnen, die barfuß und im bloßen Hemd im frühen Morgengrauen des Märztages durch den frisch gefallenen Schnee zum Strand hinunterwaten müssen! Und die entscheidende Szene, die Begegnung Kudruns mit den Boten der Befeiung wird durch die vorherige Botschaft des Engels in Gestalt eines Seevogels, der auf den Wellen schaukelt, vorweggenommen. Kudruns starke Gebärde, wie sie Gerlinds Wäsche ins Meer schleudert, bleibt ohne große Gipfelstrophe.

Hat der Dichter ganz bewusst dem konfliktbeladenen Frauenbild Kriemhilds und Brünhilds im NL ein Rechts- und Friedensbild der Frau entgegengesetzt, wie es im Sinne des 13. Jahrhunderts war?

Der Nibelungenstoff bot in Kriemhild, der nordischen Gudrun, den Prototyp einer heroischen Frau. Das Handeln der nordischen Gudrun wird von der Sippenbindung bestimmt. Gudrun rächt den Tod ihrer Brüder an dem 2. Gatten Atli, derselben Brüder, die ihren 1. Gatten erschlugen, ohne ihre Rache herauszufordern. Erst als die entscheidende Umformung erfolgte, die Ehebindung stärker als die Sippenbindung wurde, und zwar derart, dass Kriemhild die Ermordung ihres Gatten Siegfried an ihren Brüdern rächt, erst dann wurde Kriemhild dem mittelalterlichen ritterlichen Denken überhaupt zugänglich.

Die Rache als herausragender Bestandteil des germanischen Ehrenkodex spielt auch in der höfischen Heldendichtung eine wichtige Rolle; doch ist jetzt in der Einstellung zur Rache als Reaktion auf erlittenes Unrecht eine deutliche Differenzierung zu erkennen, beeinflusst von den Idealen der höfischen Humanität. Das bedingungslose Rachewollen, das Gudruns Handeln im alten Atlilied und auch noch das Kriemhilds im NL beherrscht, ist schwer von der Ebene der höfischen Frau her begreiflich zu machen. Die Forderung nach Bestrafung des Unrechts durch Rache wird von der Kudrun des Kudrunepos nicht übernommen. Sie offeriert eine andere Möglichkeit der Konfliktlösung. Auch Kudrun erfährt Unrecht: Nach ihrer Verlobung mit Herwig wird sie durch den abgewiesenen Freier, Hartmut von Normannenland, entführt, verliert ihren Vater bei der blutigen Verfolgungsschlacht auf dem Wülpensand und muss in einer langen Leidenszeit im Normannenreich bis zu ihrer Befreiung ausharren. Aber ihre Leiderfahrung verhärtet sich nicht zu bedingungslosem Rachewollen, obwohl ihr Rachegefühle nicht fremd sind (1032f.). Sie verhärtet nicht im Leiden. Und sie ist nicht allein. Das Mitgefühl, das ihr von Ortrun und Hildeburg zuteil wird und das sie auch annimmt, bereitet den Boden für ihre Versöhnungsbereitschaft im Befreiungskampf. Kudrun wird auf dem Weg über die Leidensphasen zur Versöhnerin. Gerlind will Kudrun töten lassen, aber der Entführer Hartmut rettet sie. Umgekehrt rettet Kudrun Hartmut, indem sie ihren Verlobten Herwig bittet, ihn aus dem Kampf mit Wate zu trennen.

Die Vertreter der jüngeren Generation, und zwar sowohl der Schuldige, nämlich Hartmut, als auch die Geschädigten, nämlich Kudrun und Herwig, geben im Befreiungskampf durch die Hilfeleistung für den anderen ihre Bereitschaft zum Einlenken zu erkennen. In der Kudrun sind es immer die Vertreter der jüngeren Generation, die „den strît scheiden“, also den Streit schlichten und die Hand zu Frieden und Versöhnung reichen. Sie überwinden die alte Gesinnung der Väter-Generation, die in der Vergeltung einer Unrechtstat die einzige Möglichkeit zur Wiederherstellung des Rechts sieht.

In der 1. Generation ist es Hagen, der den Grafen von Garadê mit seinem Vater Sigeband versöhnt. In der 2. Generation versöhnt Hilde den „haz“: Sie bittet den Brautwerber Hetel, schlichtend in den Kampf zwischen ihrem Vater Hagen und Wate von Strumland einzugreifen. Zum Zeichen der Versöhnung nimmt Hetel den Helm ab. Und Hagen, von Hetels Vorgehen überrumpelt, schließt Frieden. In der 3. Generation schlichtet zunächst Kudrun den Kampf zwischen ihrem Vater und dem Brautwerber Herwig. Und wieder ist es der Protagonist der jüngeren Generation, nämlich Herwig, der die Friedensinitiative der Frau aufgreift. Kudrun zeigt auch gegenüber Gerlind, die die Königstochter jahrelang gequält hat, Erbarmen. Sie signalisiert ihre Bereitschaft, Schutz zu gewähren (1518,1), vermag jedoch Gerlind nicht vor Wates wütender Vergeltungssucht zu retten. Noch einmal gilt es, nach der Rückkehr an den Hof der Hegelinge, die neue „suone“-Haltung gegenüber der Mutter Hilde durchzusetzen. Kudrun gelingt es, ihre Mutter mit Ortrun und Hartmut zu versöhnen. Kudrun überwindet Hildes Forderung nach Bestrafung der Schuld mit dem sittlichen Gebot „daz niemen mit übele sol deheines hazzes lônen“ (1595,3), dass also niemand Hass mit Hass, Unrecht mit Rache vergelten soll.

Der Kudrundichter gibt einer gewissen christlichen Nächstenliebe und Kirchenfrömmigkeit Raum. Die Stiftung und Ausstattung des Sühneklosters auf dem Wülpensand wird breit dargestellt. Überhaupt weht ein Hauch von Kreuzzugsluft durch das Epos: Das Mittelmeer ist die große Straße der Kreuzfahrer; die Befreiungsfahrt der Hegelinge geht an Sizilien vorbei; Pilger mit ihren Koggen bevölkern das Meer, Siegfried von Morland wird zum wirklichen Mohren, zum heidnischen Sarazenenfürsten und Ormanîe, die Normandie, Hartmuts Reich, wird zum sizilianischen Normannenland. Der Heldenroman des Spätmittelalters brauchte die Fülle aufregender Abenteuer, dämonischer Wesen, blutiger Schlachten und von Helden gerettete Frauen.

Der abenteuerlichen Schicht, die wir auch im NL haben, wird in der Kudrun mehr Einlass gewährt, z.B. durch das Greifenabenteuer und das Magnetbergabenteuer. Dennoch finden wir noch einmal die starke Persönlichkeit in Kudrun selbst und in ihrer sittlichen Haltung der Verzeihungsbereitschaft. Denn genau diese Haltung ist es, durch die sie ihre Individualität, die Einzigartigkeit ihrer Persönlichkeit, gewinnt und die sie aus dem Schatten der großen faszinierenden Frauenfigur Kriemhild treten lässt.

Wie Kriemhild wird ihr Unrecht zugefügt, wie Kriemhild lässt sie sich im Leid nicht bezwingen, sondern behauptet sich standhaft, wie Kriemhild muss sie sich mit einer anderen Frau messen (dort Brünhild, hier Gerlind) und wie Kriemhild hält sie in triuwe an ihrer Liebe fest. Doch während Kriemhild die mörderische Bestrafung des Unrechts bis zur letzten Konsequenz durchsetzt, verzichtet Kudrun auf Rache durch die Bereitschaft zur Verzeihung.

Während Kriemhild zu einer großen und einsamen heroischen Frau wird, die sich selbst übersteigert, gewinnt Kudrun solidarisches Mitgefühl und Verständnis.

Damit wird sie zur Protagonistin eines christlich geprägten Menschenbildes, das sich nach einem friedlichen und versöhnlichen Miteinander sehnt – ein Sehnen nach Harmonie der zwischenmenschlichen Beziehungen, nach Solidargemeinschaft, das können wir gut begreifen. Und deswegen steht uns die Kudrun auch so nahe. Hingegen: das Unbegreifliche, Außerordentliche – das verkörpert die Kriemhild unseres Nibelungenliedes.